Yasujiro Ozu – Grosse Gefühle, leise Gesten
Yasujiro Ozu – Grosse Gefühle, leise Gesten
04. – 31.12.2025
Stille Familiengeschichten und subtile Generationenkonflikte: Yasujirō Ozu schuf eine filmische Welt von berührender Einfachheit und präziser Schönheit. Seine unverkennbare Ästhetik offenbart eine tiefe Menschlichkeit und leise Ironie, die ihn zu einem der grossen Meister des Kinos des 20. Jahrhunderts machen.
Nadine Soraya Vafi
«Ich bin ein Tofumacher – also mache ich eben auch nur Tofu.» Eine der wohl bekanntesten Aussagen Yasujirō Ozus, dessen Filme in ihrer Essenz und unverkennbar eigenwilligen Ästhetik genau das vermitteln: das Zyklische des Alltäglichen, das wir im Wandel der Zeit immer wieder mit neuen Augen betrachten.
Geboren am 12. Dezember 1903 und verstorben am 12. Dezember 1963 in Tokio, hat Ozu zwischen 1927 und 1962 insgesamt 54 Filme geschaffen. Mit einer unverkennbaren Ästhetik und meisterhaftem Erzählen von Familienkonstellationen und Generationenkonflikten im Kontext der sich stetig wandelnden japanischen Moderne wurde Ozu über Japans Grenzen hinaus zu einem der bedeutendsten Filmemacher des 20. Jahrhunderts. Ozus klare Linien und Rahmungen, die Zeitlichkeit, das Voranschreiten und das Vergängliche in der Gegenwart immer wieder in Form von Familiengeschichten neu zu erzählen, haben unzählige Filmemacher:innen nachhaltig geprägt. Hirokazu Kore-eda, Hou Hsiao-hsien, Jim Jarmusch, Claire Denis, Aki Kaurismäki und Abbas Kiarostami zählen zu denjenigen, die Ozus stilistischen Ausdruck als prägenden Einfluss benannt haben. So auch der deutsche Filmemacher Wim Wenders, der 1985 in seinem Dokumentarfilm Tokyo-Ga auf den Spuren Ozus das Tokio der 80er Jahre erkundet. Ein Mix aus Ozu-Filmszenen, Interviews mit Schauspieler:innen und Crewmitgliedern sowie Wenders’ Voice-over führt uns in die Welt Wenders’, der durch die Augen Ozus versucht, ein Tokio der Vergangenheit im Jetzt zu finden. Poetisch aufgeladene Einstellungen und ein suchender Blick lassen uns in Pachinko-Spielhallen oder Golf-Driving-Ranges eintauchen – Orte, die man aus Ozus Filmen kennt. Während Wenders auf essayistische Weise Ozus Tokio erkundet, kommt in Daniel Raims The Ozu Diaries (2025) Ozu indirekt selbst zu Wort. Mit Fotografien, Tagebucheinträgen und Produktionsmaterial lässt Raim Ozu lebendig werden. Der Dokumentarfilm zeigt die Spannweite seines Filmschaffens, das eng mit seinen persönlichen Prägungen verbunden ist. Der Film vermittelt einen subjektiven, politisierten Einblick in Ozus Erzählen, das starke autobiografische Züge trägt. Wie in Tokyo-Ga kann die Filmästhetik als Hommage an Ozus Filmsprache verstanden werden: zum Beispiel das Inkludieren des bekannten Sackleinen-Hintergrunds des Vor- und Abspanns oder die Aufnahmen von Ozus Tagebüchern, die in ihrer Inszenierung den klaren Linienverläufen Ozus folgen.
Ozu drehte bis weit in die Tonfilmzeit hinein Stummfilme und galt fälschlich als stur. Tatsächlich wollte er seine Stummfilmsprache bewahren und in die Tonfilme einweben. Dies gelang: Erzählmuster und Einstellungen kristallisierten sich bereits in seiner Stummfilmzeit heraus, etwa in I Was Born, But… (1932) mit einer niedrig positionierten Kamera, dem sogenannten «tatami shot», und statischen Einstellungen. Der Film erzählt in komödiantischer Manier von der Enttäuschung zweier Brüder über die gesellschaftliche Stellung ihres Vaters, die sie mit einem Essensstreik ausdrücken. Patriarchale und klassizistische Verhältnisse, verschoben durch Moderne und eine kapitalistische Gesellschaft, werden aus Kinderperspektive hinterfragt. Der Fokus auf das städtische Kleinbürgertum – im japanischen Filmschaffen spricht man in diesem Zusammenhang auch vom Genre shoshimin-geki, welches ein Subgenre des Filmgenres zeitgenössischer Dramen, des gendai-geki, war – steht bei Ozu sowohl in der Vor- als auch Nachkriegszeit im Zentrum. Viele seiner Filme hat Ozu selbst neu verfilmt und entsprechend des gesellschaftlichen Wandels in einem anderen sozio-politischen Kontext verortet. Good Morning (1959) ist eine Neuverfilmung von I Was Born, But…: Die Brüder protestieren erneut gegen die Erwachsenen, diesmal im Kontext der fortschreitenden Amerikanisierung und Konsumkultur im Nachgang der US-Besatzungszeit (1945–1952). Ganz nach dem Motto «diese Wiese beim Nachbarn ist immer grüner» wollen sie auch Fernsehen schauen. Daraus entsteht ein Generationenkonflikt, der Ozus Stilistik von Farbmustern, Rahmungen und symmetrischen Bildverläufen zeigt – ein ironisch-hochstilistischer Unterton, den Jinhee Choi als «Ozuesque» bezeichnet. Hierbei kommt auch die persönliche Prägung Ozus hinsichtlich ausländischer Filme und Kultur zum Vorschein – Details wie Filmposter, Bücher oder Diskussion über die Aussprache von Fremdwörtern und Namen sind immer wieder Thema in verschiedenen Filmen Ozus.
Die Kontrastierung zwischen japanischer und westlicher Moderne und das komplexe Verhältnis hierzu haben Ozus Filmschaffen stark geprägt. In vielen Filmen thematisiert er die Sehnsucht nach Tradition, das gleichzeitige Verlangen nach Wandel und die Konfrontation mit der eigenen Moderne – stets über Generationenkonflikte und die Rolle von Mann und Frau. Kriegszeitliche Erfahrungen prägten ihn: Obwohl Ozu den Militärdienst vermeiden wollte, musste er schliesslich während des Kriegs mit China an die Front und wurde auch später während des Zweiten Weltkriegs in Singapur zum Militärdienst verpflichtet. Propagandafilme verweigerte er, sah stattdessen zahlreiche amerikanische Filme. Obwohl sich Ozu nicht mit nationalistischem Gedankengut anfreunden wollte, birgt seine Erfahrung während der Kriegszeit einen inneren Konflikt, der durchaus auch nationalistische Züge trägt. There Was a Father (1942) behandelt nationale Pflicht, Tüchtigkeit, Militärdienst und harte Männlichkeit. Der Film enthielt ursprünglich nationalistische Lieder und Poesie, welche später während der US-Besatzungszeit zensiert wurden. Zugleich ist der Film aber auch stark autobiografisch: die Beziehung zu seinem Vater, die frühe Distanz und das Trauma seines plötzlichen Todes prägen die Erzählung des Films. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist in fast allen seinen Werken von Bedeutung.
Nachkriegstrauma und Einsamkeit verarbeitet Ozu in Record of a Tenement Gentleman (1947). Kriegshinterbliebene, vor allem verwaiste Kinder, und hierbei ein Appell an den Zusammenhalt im Zuge des Verlorenseins werden in diesem Film berührend erzählt. Der Film Late Spring (1949) – in dem die Schauspielerin Setsuko Hara die Hauptrolle verkörpert und Chishū Ryū, der in fast allen Filmen Ozus mitwirkte, den Vater spielt – markiert den eigentlichen Beginn von Ozus Nachkriegsfilmschaffen. In der Noriko-Trilogie taucht Ozu in Kamakura in das Alltagsleben, wobei die Rolle der Frau, ihre Rebellion und der gleichzeitige Druck, zu heiraten, im Mittelpunkt stehen. Während Ozu in Late Spring und Early Summer (1951) das komplexe Verhältnis zwischen Vater und Tochter und die Problematik der Vorkriegsmoderne korrelierend mit der Nachkriegsmoderne an die Oberfläche bringt, zeigt der dritte Film der Trilogie, Tokyo Story (1953), den Generationenkonflikt und die Entfremdung durch das moderne, konsumgeprägte, städtische Leben. Der wohl prägnanteste Film Ozus der Nachkriegszeit erzählt vom Besuch der Eltern in Tokio, die aus Onomichi angereist sind. Die Ablehnung seitens der Kinder und die Akzeptanz dessen seitens der Eltern legt auf einfühlsame Weise die Realität der Verschiebung von Familienwerten und Tradition im Zuge der Nachkriegszeit offen.
Obwohl alle Filme in ihrer Repetition der familiären Settings eine neue und leicht verschobene Perspektive offerieren, zieht sich bei allen Filmen Ozus Ästhetik durch: das Vorkommen des Zuges als zeitliches Kontinuum, die unverkennbare Tiefenschärfe und die Rahmungen in den Innenräumen – die alle alltäglichen Rituale und das Innenleben offenlegen –, die «tatami shots», die symmetrische Anordnung von Figuren und Objekten im Bild, die Totalen der Landschaften und des Meeres und symbolisch aufgeladene Aufnahmen von Objekten und Handlung – wie z. B. die Vogelkäfige, die noch hängende Wäsche, das Schälen eines Apfels oder der Blick hinaus auf das Weizenfeld. Sie sind einige der vielen ästhetischen Merkmale von Ozus Filmsprache, die die eben genannten erzählerischen Varianten in ihrer ästhetischen Einheitlichkeit besonders auffallen lassen.
Auch in Late Autumn (1960), der Neuverfilmung von Late Spring – diesmal ist jedoch die Mutter der verwitwete Elternteil –, lassen sich diese Elemente erkennen, wobei das farbliche Spiel mit wiederkehrenden Formen den Ansatz von klaren Linienverläufen und Formen Ozus bestärkt. Sein Werk Early Spring (1956) fokussiert auf die gesellschaftlichen Normen und Geschlechterverhältnisse, entlang derer sich eine Ehe formiert, und konfrontiert diese Thematik durch einen Ehebruch. Die Hinterfragung solcher Rollenbilder wird in The Flavour of Green Tea Over Rice (1952) – das Skript hatte Ozu ursprünglich bereits in den 30er-Jahren verfasst, wurde jedoch von den Zensurbehörden 1940 aufgrund fehlender Kriegsthematik stark zensiert, weshalb Ozu sich entschied, das Projekt vorerst auf Eis zu legen – versöhnlich behandelt. Die Ehekrise und der damit einhergehende Geschlechterkampf werden durch die Auflösung zuvor bestehender Normen überwunden und im Kontext des wirtschaftlichen Aufschwungs selbstbestimmt geregelt.
Die Essenz von Ozus Filmstilistik und seiner Filmphilosophie greifbar machen zu wollen und auf den Punkt zu bringen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Nicht umsonst gibt es unzählige Schriften über Ozu, die verschiedenste Interpretationen seiner Filmsprache liefern. Der Filmemacher und Freund von Ozu, Yoshishige Yoshida, sieht genau in dieser repetitiven Praxis ästhetischer Auseinandersetzungen die Essenz Ozus: Auf seinem Grabstein steht das Kanji mu, dessen Bedeutung im buddhistischen Kontext «nichts» bedeutet. Yoshida, in Bezug auf Ozus Filmschaffen, ordnet diesem jedoch die Bedeutung der Unordnung, des Chaos der Welt, zu. Seine Interpretation entstammt wohl von den letzten Worten, die Ozu auf dem Sterbebett an Yoshida richtete: «Kino ist Dramaturgie, nicht Zufall.» Yoshida sieht in dieser Aussage den Widerspruch und somit auch die Ironie in Ozus Filmschaffen, einem «Anti-Kino», wie Yoshida schreibt – durch Ozus stilistische Struktur, die versucht, das Chaos der Welt zu ordnen. Ähnlich ironisch sieht dies auch der Filmwissenschaftler Woojeong Joo, der Ozus meisterliche Ästhetik des Alltäglichen im Nicht-Realen erkennt: Ozu offenbart das reale, alltägliche Leben durch ein nicht realistisches, stilisiertes Bild. Schliesslich hat Ozu selbst einmal behauptet: «Auslassung heisst nicht bloss, etwas wegzulassen. In der Malerei gewinnt ein Element an Lebendigkeit, wenn ein anderes nur vage angedeutet ist. Vielleicht ist im Film gerade das Auslassen der Schlüssel zum Leben innerhalb der Erzählung.» Es ist also das Weglassen der unmittelbaren Realität und stattdessen die Kunst von Ozus ästhetischer Filmsprache in ihrer Repetition, die uns den Zugang zur Realität des Alltäglichen in wandelnden zeitgeschichtlichen Kontexten offenbart – eine Welt durch Ozus Augen, die uns berührt zurücklässt.