Ukrainisches Gegenwartskino Сучасне українське кіно

Der 24. Februar 2022 markiert eine der grossen Zäsuren in der europäischen Geschichte. Davor hatte es auch noch bewaffnete Konflikte, im zerfallenden Jugoslawien nach 1991 sogar Krieg gegeben. Doch im Wesentlichen bildet die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg ein Kontinuum, das man mit dem Stichwort einer regelbasierten Ordnung zu fassen versucht hat. Der Rechtsstaat als Errungenschaft der europäischen Moderne stellt eine Norm dar, die immer wieder verletzt wird. Aber das ändert nichts an der Gültigkeit des Systems insgesamt. Als Putins Armee die Ukraine überfiel, wurde dieses System nicht sofort zerstört. Aber die Prioritäten verschoben sich fundamental.

Auch in einem Krieg gibt es Alltag, aber es ist immer ein Alltag auf Vorbehalt. Um diesen Sachverhalt aus der Perspektive des Kinos besser zu verstehen, macht es Sinn, sich einen Film genauer anzuschauen, der als einer der letzten vor dem 24. Februar 2022 fertig wurde, der also noch im Zeichen des Davor steht: Luxembourg, Luxembourg von Antonio Lukich. Als dieser im September 2022 in Venedig seine Weltpremiere hatte, wurde er unter vollkommen veränderten Vorzeichen präsentiert und wahrgenommen im Vergleich zu denen, unter denen er entstanden war.

Wer sich einen Eindruck verschaffen möchte, was für ein Land die Ukraine bis zum russischen Überfall war, kann in Luxembourg, Luxembourg viele aufschlussreiche Eindrücke gewinnen. Die Geschichte zweier ungleicher Brüder, Kolya und Vasya, ist als lakonische Komödie erzählt, mit vielen subtilen Pointen. Kolya arbeitet als Busfahrer, seine Kundschaft, vor allem alte Frauen, bezahlt in der Regel nicht für die Fahrt, sondern ruft einfach «Seniorenpass». Die Ukraine ist ein armes, osteuropäisches Land, das allerdings auf einer Ebene des Alltags ein stark ausgeprägtes, rudimentäres Netzwerk an Sozialleistungen und Pensionszahlungen hat. Aber selbst für die, die zahlen müssten, kostet eine Fahrt nur acht Hrynia (keine 20 Rappen).

Vasya ist bei der Polizei, wo seine Karriere allerdings gebremst wird, weil sein Bruder zweifelhafte Kontakte hat. Und es ist allgemein bekannt, dass der abwesende Vater ein Mann «mit Verbindungen» war. Das grosse Thema Korruption ist im Hintergrund immer präsent, aber Lukich erzählt auf hintergründige Weise von Formen der Integrität und von überraschenden Formen von Gemeinschaftlichkeit. Die Ukraine als ein Land, das 2014 mit dem Euromaidan ein starkes Zeichen für Demokratie und Emanzipation vom sowjetischen Erbe gesetzt hat, ist in Luxembourg, Luxembourg jederzeit präsent, allerdings spielt Lukich auch auf die Gefährdungen an: Das unterschlagene Geld wandert nicht zufällig oft in die Steuerparadiese (West-) Europas.

Eine der Konsequenzen des 24. Februar 2022 besteht darin, dass in der europäischen Öffentlichkeit die Ukraine vielfach überhaupt erst wahrgenommen wurde. Davor war sie häufig als eine russische Quasi-Provinz gesehen worden, selbst an den Osteuropa-Instituten der Universitäten im deutschsprachigen Raum gab es mit dem Krieg ein böses Erwachen. Seither wurde viel nachgearbeitet, nun erst begann man vielerorts, genauer hinzusehen und ukrainische von (gross-)russischer Geschichte und Kultur zu unterscheiden. Dieser Prozess ist seither auch für die Filmgeschichte im Gange. Wenn das REX nun eine Filmreihe zur Ukraine zeigt, dann steht eine solche unweigerlich auch im Zeichen einer Neubewertung geläufiger Narrative.

Die Aufgabe ist immens, aber die Auswahl der Filme kann zumindest die wesentlichen Punkte adressieren. Mit Erde (Semlja, 1930) von Oleksandr Dowschenko steht ein Klassiker aus der Zeit des revolutionären Sowjetkinos auf dem Programm, der seither immer neue Facetten erkennen lässt. Der Stummfilm (vorgeführt mit Musikbegleitung von dem im REX bereits bekannten Duo Roksana Smirnova und Misha Kalinin) gibt willkommene Gelegenheit zu einer filmhistorischen Tiefenbohrung. Einerseits geht es hier um die Eingliederung der Ukraine, des riesigen, fruchtbaren Agrarlandes, in die Produktions- und Ideologieordnung der Stalin’schen UdSSR. Dowschenko war aber auch ukrainischer Patriot, und so ist sein Film gebrochen zwischen verschiedenen Programmen. Heute ist er auch lesbar als subversives Freiheitsmanifest.

Danach geht es – nicht ohne einen sehr grossen Sprung – über das Ende des Kommunismus und die Unabhängigkeit 1991 hinweg zum entscheidenden Punkt des Jahres 2014. Über die Revolution gibt Sergei Loznitas Maidan sehr gut Auskunft, auch wenn dieser Dokumentarfilm in der ukrainischen Intelligenz sehr umstritten ist. Loznitsa lebt schon seit längerer Zeit in Berlin und widmet sich mit seinen Filmen dem gesamten Komplex der postsowjetischen Erfahrung. Für eine belagerte und terrorisierte Ukraine, in der auch das Filmschaffen momentan notgedrungen zu einer zuerst patriotischen Aufgabe geworden ist, ist Loznitsa tendenziell zu universalhistorisch. Sein Blick wirkt abgehoben. Trotzdem zeigt Maidan entscheidende Facetten. Das Wort Maidan bedeutet «Platz», und genau darum ging es damals: die gesamte Nation mit ihren unterschiedlichsten Vertretern ging damals auf den Platz, also an die Öffentlichkeit, um für ein «europäisches», also regelbasiertes System zu kämpfen. Grossmütter, Priester, Intellektuelle, Bergarbeiter – man sieht bei Loznitsa tatsächlich die «ganze» Ukraine vertreten. Der Maidan war (zehn Jahre nach der Revolution in Orange im Jahr 2004) die Geburtsstunde der heutigen Ukraine – und der Moment, an dem die demokratische Energie des Landes für Putin unerträglich wurde. 2014 begann im Osten des Landes und auf der Krim der Krieg, der 2022 schliesslich eskalierte.

In dieser Periode stand auch das Kino schon stark im Zeichen der Verwüstungen, die dieser Krieg im Seelenleben, in der Ökologie und an den Körpern vieler Menschen anrichtete. Valentyn Vasyanovich etablierte sich als der bedeutendste Filmkünstler des Landes, mit Atlantis versuchte er 2019, den Krieg im Donbass geradezu filmisch zu sezieren, und ihn wie aus der Zukunft zu sehen. Dabei wird übrigens eine Kontinuität erkennbar, die für das Verständnis der russischen Aggression wichtig ist, denn in Atlantis ist bereits die gesamte heroische Industrialisierung der Sowjetunion mit ihren Umweltkatastrophen ein kriegerischer Akt. In seinem Verständnis weiss die Ukraine aufgrund ihres totalitären Erbes noch gar nicht so richtig, was Frieden und Freiheit sind. Erst 2004 und dann vor allem 2014 machte sie grössere Schritte in diese Richtung.

Was es bedeutete, zwischen 2014 und 2022 in der Zone weit im Osten zu leben, in einer steten Gefährdung durch Waffengewalt, aber auch zwischen den wechselnden Loyalitäten in einer Gegend vielfacher Unklarheiten, das kann man dem Spielfilm Klondike und der sensiblen Dokumentation The Earth Is Blue as an Orange entnehmen – zwei Arbeiten von Frauen, zwei Schlüsselwerke eines Vorkriegskinos, das schon im Krieg entstand. Auch Antonio Lukich drehte 2019 seinen ersten Film und erwies sich schon damals als grossartiger Beobachter der kleinen Absurditäten: In My Thoughts Are Silent geht es nicht zuletzt um das grosse Thema Emigration.

Mit den fünf aktuellsten Filmen ist die Schau im REX dann mittendrin in dem Versuch einer Verarbeitung des schier Unbewältigbaren: Die «volle Invasion», wie der russische Angriffskrieg in der Ukraine meistens bezeichnet wird, hat auch einige der besten, wenngleich immer wieder kaum zu ertragenden Kriegsfilme (der Begriff meint per se immer schon: Antikriegsfilme) hervorgebracht. 20 Days in Mariupol zeigt mit Material, das (mit seinen Urhebern) buchstäblich in allerletzter Sekunde aus der belagerten Stadt im Südosten noch herausgebracht werden konnte, den Preis, den die Zivilbevölkerung für die russische Kriegsführung zahlen muss.

Der Krieg in der Ukraine wird heute vor allem als Abnützungskrieg bezeichnet, in erster Linie ist es aber ein Vernichtungskrieg – gegen Menschen, Landschaften, Infrastrukturen, gegen alles, was eine Gesellschaft leben lässt und zusammenhält. Der Dokumentarfilm We Will Not Fade Away zeigt konkrete, junge Menschen, denen der Krieg die Zukunft raubt. Alina Kovalenko ist eine Vertreterin eines jungen ukrainischen Kinos von Frauen, das sich vor 2022 gerade zu formieren begann und das nun kaum noch eine Freiheit in der Wahl der Themen hat. Maciek Hamela (mit dem sehr bewegenden In the Rearview, der die vielleicht unmittelbarsten Reaktionen auf den Krieg zeigt) und Juri Rechinsky (mit Dear Beautiful Beloved) widmen sich der Logistik im Hinterland des Krieges: den Evakuierungen, den alten Menschen, die ein neues Zuhause brauchen, den Familien, die ihre Kinder in Leichensäcken zurückkehren sehen.

Ein Zentrum der Schau ist schliesslich der Film Intercepted von Oksana Karpovych. Die junge Dokumentaristin geht von Tonmaterial aus, das aus den frühen Phasen des Krieges stammt. Damals wurden viele Telefonate abgefangen (intercepted) und mitgeschnitten, die Soldaten Russlands mit ihren Angehörigen in der Heimat führten. Völlig unbefangen erzählen sie davon, was sie im Krieg erlebt und getan haben. Sie zeigen sich beeinflusst von russischer Propaganda, sie reden rassistisch über die Ukraine, sie erzählen auch von unfassbaren Grausamkeiten, die sie verübt haben. Sie lassen aber auch erkennen, dass sie an sich selbst zu zweifeln beginnen, manche zumindest. Karpovych stellt zu diesen Stimmen einfach die Bilder zerstörter Gebäude und Orte, die nun (nach dem Terror) geradezu friedlich wirken. Es ist ein trügerischer Eindruck, der die Ungeheuerlichkeiten auf der Tonspur nur umso stärker hervortreten lässt.

Von Kriegen sagt man manchmal, sie brächten das Schlechteste, aber auch das Beste an menschlichem Verhalten hervor. Diese Filme bezeugen, dass dem wirklich so ist und dass die Ukraine das Potenzial hat, die menschliche Zivilisation enorm zu bereichern. Wie übrigens auch Russland, das von seinem Diktator aber derzeit konsequent aus jeder regelbasierten Ordnung hinausgeführt wird.