Zum 100. Geburtstag von Ingmar Bergman (1918–2007) zeigen wir zwölf seiner wichtigsten Werke, von Die Zeit mit Monika (1953) bis Fanny und Alexander (1982). Die Wiederbegegnung mit dem einzigartigen Œuvre zeigt: Bergmans Filme bleiben aktuell, weil sie modellhaft die Probleme der bürgerlichen Moderne durchspielen.
«Papa hat mit mir geredet!» Mit diesem Satz endet Ingmar Bergmans Wie in einem Spiegel (1961). Der junge Mann, der ihn ausspricht, ein wenig verwundert, aber auch wie erlöst, ist ein Stückeschreiber namens Minus, der den Sommer auf einer Insel verbringt, in Gesellschaft seiner psychisch kranken Schwester Karin, ihres Mannes Martin – und des Vaters David, der von einem Aufenthalt aus der Schweiz zurückgekommen ist, um seinen Kindern nahe zu sein. Diese Nähe, nach der es Minus und Karin so verlangt, fällt dem Vater deswegen nicht so leicht, weil er von Beruf Schriftsteller ist, weil ihm deswegen alles zum Material wird, selbst die Psychosen seiner Tochter. Er sieht sie als einen Fall. So schreibt er das auch in sein Tagebuch, und als Karin, von ihren Stimmen und Geistern getrieben, nachts diese Aufzeichnungen liest, ist der nächste Schub ihrer Krankheit nicht mehr aufzuhalten.
Wie in einem Spiegel entstammt jener zweiten Werkphase von Ingmar Bergman, die mit dem Erfolg von Sehnsucht der Frauen (1952) begann, und die ihn schliesslich zu den Klassikern geführt hat, mit denen sein Schaffen bis heute vor allem verbunden wird: Das siebente Siegel, Wilde Erdbeeren, Das Schweigen, Persona. Vor allem dieser Filme wegen, aber auch wegen der imponierend langen Werkliste mit zahlreichen weiteren bedeutenden Titeln wie dem autobiografischen Spätwerk Fanny und Alexander wird Bergman vielfach immer noch mit einer Essenz des Kinos im 20. Jahrhundert assoziiert – dass Bergman der beste Filmemacher aller Zeiten gewesen wäre, ist als Klischee vermutlich auch deswegen ein wenig hartnäckig, weil Woody Allen das lange Zeit behauptet hat. Die Behauptung wird heute nicht mehr so oft erhoben, hat aber immer noch auf eine gewisse Weise viel für sich.
Was sich hinter diesem Diktum verbirgt, sind wesentliche Fragen über Universalität, Regionalität, Historizität und Medialität der Erzählungen, die Bergman hinterlassen hat. Die Kulturdebatte, die das Kino und die dafür gemachten Filme im frühen 20. Jahrhundert in Konkurrenz mit den älteren Künsten, vor allem dem Theater, eine Weile begleitet hatte, hatte sich mit Bergman gründlich erledigt – so gründlich, dass sie unweigerlich auf andere Weise wieder losbrechen musste, weil es eine ähnliche Konjunktur grosser Fragen wie in seinem Werk (von Gott über die freie Liebe bis zur Atombombe, also Alpha, Sex und Omega) danach in dieser populären Form nicht mehr gegeben hat. Wenn man Bergman heute sieht, dann muss man ihn nicht mehr in Konkurrenz zu den klassischen Künsten sehen, sondern im Kontext einer global gewordenen Welt. Was bedeutet es für sein Werk, dass der christlich-europäische Vatergott epochale Konkurrenz durch Fundamentalismus, aber auch durch Unglauben bekommen hat, wenn sich die Bedrohungsszenarien stark ausdifferenziert haben und wenn die sexuelle Revolution längst weit über die heterosexuelle «Untreue» und die serielle Monogamie hinaus ist, die bei Bergman das libidinöse Zentralmoment war?
Dem gewichtigen Erbe der unausweichlichen familiären Herkünfte, die in den darauffolgenden Beziehungen krisenhaft reproduziert werden, entspricht bei Bergman eine filmhistorische Abstammungslinie, die vor allem auf zwei Ebenen wirksam wird: Er lässt seine Erzählungen immer wieder auf Momente nicht so sehr des stummen Films als vielmehr eines Tonfilms ohne Dialoge zurückfallen, evoziert damit einen sensorischen, wortlosen Film, der nicht von den bürgerlichen, dramatischen Erzählformen in Dienst genommen wurde; und er gestaltet mit seinem Kameramann in diesen Jahren, Sven Nykvist, kontraststarke, expressionistische Schwarzweissbilder, die in die bürgerlichen Erzählungen anachronistische Elemente einführen.
So ist im Grunde auch Das siebente Siegel, wiewohl eine Geschichte aus dem Mittelalter, eine bürgerliche Erzählung, nur eben in altertümlichem Gewand. Ein Mann, der aus den Kreuzzügen in den Norden Europas zurückkehrt, nimmt es im Schach mit dem Tod auf. Ausgerechnet dieses verkopfte Spiel, in dem es so stark auf die Vielfalt von möglichen Zügen ankommt, wird zur Allegorie auf die Grösse und Grenzen der menschlichen Existenz. In seinem Spätwerk Schreie und Flüstern ist die Selbstgewissheit des intelligenten Subjekts einer körperlichen Agonie gewichen: In vielerlei Hinsicht kann man Bergmans Werk auch als eine Geschichte von Todesvorstellungen sehen.
Der Traum ist für alle seine Filme das konkurrierende Medium, am deutlichsten wird das in Die Zeit mit Monika (1953), in dem das Träumen ausdrücklich an die Stelle des Kinos tritt. Zwei junge Leute, der Handelsgehilfe Harry und die unstete Monika, beschliessen, gemeinsam abzuhauen, gehen aber vorher noch ins Kino. Sie verbringen schliesslich ein paar Wochen in den Schären vor Stockholm, in einer Naturlandschaft, die vollkommen unberührt ist, in der die bürgerliche Lebenswelt aber in Reichweite bleibt. Bergman erzählt diese Begebenheit in jeder Hinsicht als einen Zivilisationsmythos, der die jungen Leute hinaus in die Freiheit führt (der Nacktheit von Harriet Anderson entspricht ihr Verlust der Sprache: sie singt nur noch «lalalalala») und von dort aufgrund von Hunger und «Krieg» (die Attacke eines benachbarten Campers ist eine der bizarrsten Szenen in seinem ganzen Werk) wieder zurück zu den Häusern, in denen richtig gekocht wird. Die Zeit mit Monika endet dort, wo sie begonnen hat – bei der Angst des Mädchens vor der väterlichen Gewalt, in die Harry unwillkürlich eintritt; auch er schlägt Monika und ist am Ende mit seinen Erinnerungen an einen wie geträumten Sommer allein.
In der grossen Zeit von Bergman, von Anfang der 1950er bis Mitte der 1970er, war Schweden ein neutrales Land zwischen zwei Blöcken – heute ist es ein neutrales Land am Rande der Globalisierung, und ein Migrationsziel. In der Regel spielen die Bergman-Filme in einer Epoche, die stark im 19. Jahrhundert verwurzelt ist, und da es sehr häufig insulare Situationen sind, in die er seine Protagonisten stellt (das Zimmer in Das Schweigen, die Abgeschiedenheit in Persona), lassen sich seine Geschichten noch besser als universale Geschehnisse verstehen, die vor modellhafter Natur das Grundsätzliche der Probleme der bürgerlichen Moderne besser hervortreten lassen.
Dass dieses Universelle mit einer bestimmten Familienkonstellation einhergeht (im Wesentlichen die des Ödipus in Freuds Deutung), wurde allmählich unzeitgemäss in einer Welt, die um 1968 gerade zu entdecken begann, dass es neben den familiären auch soziale Bewegungen gibt, in denen das Individuum neue Freiheitsräume entdeckt. In Fanny und Alexander nimmt Bergman sich selbst zum Mass dieser Emanzipationsbewegung: aus einem Klerikerhaushalt geht ein Künstler hervor. Heute hat dieser Optimismus an Kraft verloren, und damit wird Bergmans Werk in seiner Dialektik zwischen Unterdrückung und Aufbegehren wieder aktuell. Bei Bergman überlebt das Bürgertum auf der Insel des Riesenwerks, das er ihm gewidmet hat: Man könnte meinen, es müsste doch allmählich altmodisch werden, und staunt dann immer wieder, dass es auch dem frühen 21. Jahrhundert immer noch viele Erfahrungen wie in einem Spiegel nahebringt.
Bert Rebhandl
Der Autor, Jahrgang 1964, arbeitet als freier Journalist, Autor und Übersetzer in Berlin. Filmkritiker für die FAZ. Mitherausgeber der Zeitschrift CARGO Film Medien Kultur (www.cargo-film.de). Webseite: www.BRO198.net