
Tiere im Film
30.03. – 03.05.2023
Es faucht, bellt und miaut auf der Leinwand. Wenn sich das Kino mit Tieren beschäftigt, geht es aber immer auch um das Wesen von uns Menschen: In den Augen der Tiere erkennen wir uns selbst, unsere Gier, unsere Schwächen und unsere Einsamkeit. Am Beispiel von 15 Filmen befassen wir uns mit der komplexen und gerade deshalb faszinierenden Beziehung zwischen Tier und Mensch.
Patrick Holzapfel
«Würde es keine Tiere geben, das Leben der Menschen wäre noch unverständlicher.» Georges-Louis Leclerc de Buffon
Man könnte einen Text über Tiere in Filmen mit einem kleinen Gedankenexperiment beginnen, schliesslich stellen uns die auf der Leinwand erscheinenden Schimpansen, Katzen, Insekten, Hunde, Kühe oder Vögel vor viele Fragen. Was also wäre, wenn man alles umdrehen würde und sich vorstellte, dass die Tiere ins Kino gingen, um sich Filme anzusehen? Was würden sie sehen, hören, riechen? Würden sie sich wiedererkennen, würden sie uns ein bisschen besser verstehen lernen? Ein zugegeben etwas unsinnig erscheinendes Umkehrspiel, aber wenn man sich mit Filmen beschäftigt, die Tiere zeigen, kommt man nicht umhin festzustellen, dass es genau diese Form der paradoxen Grenzüberschreitung ist, die viele Filmemacher:innen antreibt. Die Filme widersetzen sich der verfremdenden, tierischen Bildwerdung à la Katzenvideos im Internet. Sie erzählen nicht vom Amüsanten und Kuriosen, vom Abartigen und Schönen. Vielmehr berichten sie von den Kratern zwischen Mensch und Tier. Man denke nur an Nagisa Ōshimas aberwitzigen Max mon amour (1986), in dem eine von ihrem bürgerlichen Dasein gelangweilte Frau den Gatten mit einem Schimpansen betrügt. Oder an Alfred Hitchcocks The Birds (1963), in dem Vögel die Menschen angreifen. Oder erst recht an David Cronenbergs The Fly (1986), in dem ein Mann zur Fliege mutiert. Dieses scheinbar untypische, weitestgehend irreale Verhalten der Tiere lässt uns einen neuen Blick auf sie werfen. Plötzlich erkennen wir die Boshaftigkeit der Krähen, die Zärtlichkeit eines Schimpansen, die intensivierte Wahrnehmung einer Fliege.
Mehr als das aber lässt das Gedankenspiel der Tiere im Kinosaal an die Augenblicke denken, in denen das Tier ins Objektiv der Kamera schaut. Es schaut uns an und diesen ganzen Apparat, der es filmt. In diesen besonders bewegenden Momenten fühlt man sich ertappt. Der gescholtene Esel Balthasar in Robert Bressons Au hasard Balthazar (1966) ist in dieser Hinsicht bereits ein auf uns zurückblickender Kinogänger. Seine Augen beobachten die Menschen, die ihm Unrecht tun. Durch ihn erkennen wir uns selbst. Dass er sein Schicksal mit Würde trägt, ändert nichts an einer schreienden Ungerechtigkeit. Diese Ungerechtigkeit durchzieht die Filmgeschichte. Das liegt nicht nur an den sich erst in den vergangenen Jahrzehnten verbesserten Drehbedingungen für Filmtiere, sondern auch an der Gewalt, die im Kino thematisiert wird. Moby Dick (1956) kann als einer der Urtexte dieser meist männlich konnotierten Eroberungsobsessionen verstanden werden. Das legendäre Bild Ahabs, durchnässt und blutüberströmt auf dem Rücken des weissen Wals, wirft einen dunklen Schatten auf das Verhältnis der Menschen zu den Tieren. Ahabs Verwandte sind die Jäger und Schlachter, Tierquäler und jene, die mit den Körpern von Tieren reich werden wollen. Deren archaisches Weltbild aber geht zurück auf eine Zeit, in der Gewehre und andere Gewaltmittel das Verhältnis zwischen Natur und Menschheit noch nicht pervertiert haben. Ahabs Jagd nach dem Wal ist auch eine Suche nach der menschlichen Überlegenheit, die bis heute in tragische Lächerlichkeit mündet. Die Massenabfertigung von Fischen in Leviathan (2012) von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel zeigt nichts anders als das Finale von Moby Dick. Ein grosses Verbrechen der Menschheit.
Gleichzeitig aber erkennt man in den sich vor der Kamera weitenden Pupillen, dem zuckenden Scharren der Pfoten, dem aufgeregten Flügelschlag, dem klagenden Jaulen eine Gefühlswelt, die sich mit der gleichen Vehemenz an das Leben klammert wie wir Menschen. Eine Welt, mit der wir nicht immer kommunizieren können, die wir aber unbedingt respektieren sollten. Thomas von Aquin mag richtig gelegen haben, als er formulierte, dass die Freundschaft zwischen Tier und Mensch unmöglich sei. Der titelgebende Grizzly Man (2005) in Werner Herzogs aufwühlender Dokumentation musste das mit dem Leben bezahlen, aber das Kino hat uns immer wieder gezeigt, dass Grenzüberschreitungen dennoch möglich sind. Die Kamera widersetzt sich der Gleichgültigkeit, die unsere technokratischen Gesellschaften gegenüber Tieren und der Natur entwickelt haben. In den wie aus Spiegeln auf uns schauenden Tieren erkennen wir, was wir nicht sind – und was wir zu sein glauben. Wir sehen die absolute Fremdheit, und doch identifizieren wir uns mit ihr. Wir sehen im Blick des Tieres auch das, was wir in uns selbst nicht kennen oder beschreiben können. Regisseure haben immer wieder versucht, den eigentlich unüberwindbaren Graben zwischen Mensch und Tier zu überwinden. So erlaubt uns Jerzy Skolimowski in EO (2022) in die Träume seines Eselprotagonisten einzutauchen, und King Kong (1933) löst sämtliche Unterschiede über die verbindende Kraft von Mitgefühl und Liebe auf. Wiederholt treten Tiere als Begleiter der Einsamen auf. Eine entlaufene Katze in Chacun cherche son chat (1995) von Cédric Klapisch, ein junger Falke in Kes (1969) von Ken Loach. Dabei stellen die Filme die Fragen nach dem Menschlichen im Tier und vor allem nach dem Animalischen im Menschen. Friedrich Nietzsche verstand den Menschen als gezüchtetes Tier. Man versteht ihn, wenn man an Kinder denkt, die ihre Welt keineswegs als getrennt von jener der Tiere wahrnehmen. Die völlige Austreibung des Tierischen aus dem Menschen gelingt aber keineswegs. Es ist vielmehr ein Verdrängungsmechanismus, der auch dann in sich zusammenbricht, wenn wir mit dem Blick der Tiere konfrontiert werden. Filme führen uns bestenfalls zurück zum Verständnis einer Gemeinsamkeit, in der uns eine Katze genauso ansieht wie wir die Katze. Vielleicht können wir im Kinosaal so kurz lernen, wieder zum Tier zu werden.
Das mit dem Mitgefühl ist allerdings so eine Sache. Man muss es sich leisten können. Es ist eben doch fragwürdig, wenn man ein Tier einsperrt oder vor eine Kamera zerrt, um es dann rührselig zu betrachten. Tiere in Filmen balancieren auf einem schmalen Grat wie Tiere im Zoo. Die Schaulust und das Spektakel auf der einen Seite, die Aufklärung und Erweckung einer Sensibilität für diese Lebewesen auf der anderen Seite. Vieles wird von dem getragen, was der Philosoph Jacques Derrida die symbolische Verantwortung der Tiere nannte, ihr ständiges Herhalten als Metapher. Man muss dabei nur an Fabeln denken. Die meisten Filme vermeiden diese Metaphorik keineswegs, man denke nur an Samuel Fullers White Dog (1982), in dem sich an einem eingesperrten Kampfhund der ganze brutale, zentnerschwere Rassismusdiskurs der Vereinigten Staaten entzündet. Aber trotz dieser Platzhalterfunktion gelingt es den Tieren, sich immer wieder in reines Bewegungskino zu verwandeln. Sie entziehen sich der ihnen angedichteten Symbolik, den grösseren Ideen, die wir glauben an ihnen festmachen zu müssen. Dann sehen wir ihre Bewegungen wieder wie beim ersten Mal, mit den gleichen staunenden Augen wie die Pioniere des Kinos, die mit ihren Studien nachvollziehbar machten, wie das Pferd galoppiert, wie der Hase seine Haken schlägt und wie der Falke landet. Befreit von jedweden dramaturgischen Käfigen lassen uns dieses Wesen teilhaben an einer Wucht, die nur das Bewegtbild so festhalten kann.
Auch wenn die Tiere entgegen des eingangs geschilderten Gedankenspiels nicht wirklich ins Kino gehen, ist es sicher, dass sie im Bild des vor Wut schäumenden Mauls des Hundes in White Dog nichts anderes erkennen würden als eine Bedrohung. Die Metaphern überlassen die Tiere uns. Ihre Bewegungen folgen anderen Regeln. Dass wir es sind, die ihre Regeln missachten, wurde in den vergangenen Jahrzehnten, die ein Artensterben ungeahnten Ausmasses mit sich brachten, schmerzlich bewusst. Unser schädlicher Eingriff in die Natur ist irreversibel. Die sich damit notwendig verändernde Haltung zu Tieren wird in jüngeren Filmen immer häufiger aufgegriffen. Andrea Arnolds Cow (2021) beispielsweise interessiert sich nicht für die Beziehung vom Mensch zum Tier, sondern betrachtet das Leben der Milchkuh Luma als in menschliche Produktions- und Ausbeutungsmechanismen integriertes Nutztier. Dabei wird sichtbar, dass die Gefühle, die diese Lebewesen angeblich nicht haben, vielleicht von uns nur nicht verstanden werden können. Die Kamera hilft uns mehr zu erkennen. Und egal, ob man nun glaubt, dass die Kuh ihr Kalb vermisst oder nicht, so wird man zumindest erkennen, dass es sich hier um ein Lebewesen handelt und nicht nur um ein Stück Fleisch. Auch Luma blickt wiederholt in die Kamera. Es ist kein eindeutiger Blick und doch ist es ein Blick, der unbedingt erwidert werden muss. Man denkt an Rainer-Maria Rilkes Zeilen aus seinem Gedicht «Schwarze Katze»: «(…) Doch auf einmal kehrt sie, wie geweckt, / ihr Gesicht und mitten in das deine: / und da triffst du deinen Blick im geelen / Amber ihrer runden Augensteine / unerwartet wieder: eingeschlossen / wie ein ausgestorbenes Insekt.»
Patrick Holzapfel, geboren in Augsburg 1989, lebt in Niederösterreich. Literarische, journalistische und kuratorische Arbeit. Chefredakteur der Website und des Printmagazins Jugend ohne Film. Publiziert u.a. in Die Presse, Mubi Notebook, Perlentaucher, Filmdienst. Filmprogramme u.a. im Goethe-Institut London, Zeughauskino Berlin, Österreichisches Filmmuseum, Filmarchiv Austria. 2016 Siegfried-Kracauer-Stipendiat des Verbands der deutschen Filmkritik, 2022 Startstipendiat Literatur des Bundeskanzleramts Österreich sowie Preisträger des Open-Mike-Wettbewerbs für junge Literatur.