Youssef Chahine (1926–2008) war während Jahren die zentrale Figur des ägyptischen Kinos. Legendär ist sein virtuoser Umgang mit Stilen und Genres: Mit seinen Filmen, die sich bald am Neorealismus, bald an populären Formen wie dem Melodram und dem Musical orientierten, hielt er der ägyptischen Gesellschaft den Spiegel vor. 1954 machte er in Cannes mit Tödliche Rache Omar Sharif bekannt, zu den Höhepunkten in seinem Schaffen zählen Werke wie Hauptbahnhof, Die Erde, Der Spatz und seine autobiografischen Alexandria-Filme.
Youssef Chahine (1926–2008) ist ein Auteur im wahrsten Sinne Truffauts, welcher diesen Begriff als Erster verwandte, um persönliche Merkmale im Werk von Mainstream-Regisseuren festzumachen. Für den Ägypter Chahine haben sich Filmanalytiker alle möglichen Attribute einfallen lassen, vom «Realisten» (Samir Farid), «politisch Engagierten» (Khémaïs Khayati), «Barock-Ästheten» (Michel Larouche), «Hollywood-Enthusiasten» bis hin zum «Alexandriner» (Christian Bosséno). Zweifellos zeichnet ihn seine stilistische and thematische Vielfalt, sein Hang zum karnevalesken Mischmasch aus, oder noch besser, was Ella Shohat und Robert Stam in manchen Strömungen des Dritte-Welt-Filmschaffens identifizierten: als «anthropophagisches Verschlingen heterogener kultureller Stimuli» angesichts der (ehedem) im Filmgeschäft dominanten Ersten Welt. Das Aufnehmen und Transzendieren der hegemonialen Einflüsse in kulturellen Widerstand, der sich aus der lokalen Geschichte speist und dabei die eigene politische und kulturelle Identität neu erfindet: Unter diesem Aspekt das Werk Chahines zu betrachten, eines Regisseurs, der sechs Dekaden ägyptischen Filmschaffens miterlebt und geprägt hat, ist sicher kein Fehler.
Zum Eindruck des Hybriden, parodistisch-karnevalesken Mischmasches, des Spektakulären, Theatralisch-Dramatischen tragen selbstverständlich sein beständiger Rekurs auf das Genre-Kino bei. Es bildete immer wieder einen wichtigen Bezugspunkt selbst beim Vortragen sozialkritischer Inhalte, wie im Frühwerk Hauptbahnhof / Bab al-Hadid (1958), in dem er selbst die Hauptrolle eines verkrüppelten Zeitungsjungen spielte. Gespickt mit einem Verbrechen, burlesken Szenen, dazu musikalischen und erotischen Einlagen profitiert der Film von der Präsenz grosser Stars, Hind Rustum und Farid Shawqi. Dieselbe Strategie wandte der Regisseur in dem tragischen Musical Die Rückkehr des verlorenen Sohnes /`audit al-ibn al-dal (1976) sowie in seiner autobiografischen Serie Alexandria Warum / Iskandariyya lih? (1978), Eine ägyptische Erzählung / haduta misriyya (1982) und Alexandria, nochmals und immer wieder / Iskandariyya kamam wa kaman (1990) an.
Historisch lässt sich Chahines Œuvre grob in drei zusammenhängende Phasen unterteilen, dem klassischen Genre-Kino à la «Hollywood am Nil» in den 1950er-Jahren, dem revolutionären Realismus der nasseristischen Ära der 1960er und schliesslich der subjektiven Autorenfilmphase, die in ein deutlich schwächeres Spätwerk um die Jahrtausendwende überleitete. Kind einer Familie christlich-libanesischen Ursprungs, erzogen am elitären Victoria College, verliess Chahine seine Heimatstadt Alexandria 1946, um sich in Kalifornien am Pasadena Play House zum Schauspieler und Regisseur ausbilden zu lassen. Nach seiner Rückkehr realisierte er erst Mainstreamfilme, Komödien, Musikfilme und Melodramen, wie Baba Amin (1950), Die Zug-Dame / sayiddat al-qitar (1952) mit der Sängerin Layla Murad oder Tödliche Rache / sira` fi-l-wadi (1954), ein sozialkritisches Liebesdrama, in dem er seinen alexandrinischen Schulkameraden Michel Shalhoub unter dem Künstlernamen Omar Sharif erstmals auf die Leinwand brachte. In den 1960ern, entnervt von den schlechten Arbeitsbedingungen aufgrund der Verstaatlichung der Filmindustrie, versuchte er sich im Libanon mit zwei mässig erfolgreichen Musicals der Gebrüder Rahbani und der Sängerin Fayruz, bevor er schliesslich wieder nach Ägypten zurückkehrte und seine Wendung zum Politischen wie Subjektiven vollzog.
Schon im Frühwerk zeigte Chahine erste Zeichen der Politisierung, z.B. im anti-kolonialen Drama Jamila, die Algerierin / Jamila al-Jaza’iriyya (1958), das die französische Verurteilung einer bekannten algerischen Widerstandskämpferin thematisierte. Ebenso das historische Spektakel Der siegreiche Saladin / al-nasir Salah al-Din (1963) stellt eine politisch motivierte Ode an den nationalistischen Pan-Arabismus unter der Führung von Gamal `Abd al-Nasir (Nasser) dar. Vor allem aber Ägyptens Niederlage gegen Israel im Sechstagekrieg 1967, die die gesamte arabischen Welt traumatisierte und damit abrupt aus der postkolonialen Euphorie riss, steigerte Chahines Engagement und schlug sich u.a. im marxistisch orientierten Anti-Feudalismus-Epos Die Erde / al-ard (1968/1970) nieder.
Nach dem Ableben Nassers 1971 entwickelte Chahine eine zunehmend subjektive Filmsprache und Erzählweise, angefangen mit dem Psychothriller Die Wahl / al-ikhtiyar (1970), nach einem eigenen Drehbuch gedreht, gefolgt von Der Spatz / al-`usfur (1971/73). Ohne zentrale Heldenfigur ist Letzterer, gefüllt mit Parallelgeschichten und einer Reihe von subjektiven Momenten wie Fantasien und Alpträumen, eher als kollektives Drama zu betrachten. 1978 erschien Alexandria, warum? / Iskandariyya lih?, Gewinner des Silbernen Bären 1979, der aufgrund seiner autobiografischen Inhalte ein Novum in der arabischen Filmgeschichte markierte.
Mit Hilfe seiner Familie und nicht-ägyptischen Ko-Produzenten gelang es dem Regisseur in dieser Phase, dem Diktat der heimischen Filmwirtschaft zu entkommen und sich mit einer eigenen Firma in den Besitz der Produktionsmittel zu bringen. 1971, dann wieder 1976 koproduzierte er mit der algerischen Filmorganisation ONCIC Der Spatz und Die Rückkehr des verlorenen Sohnes. 1985 koproduzierte er Adieu Bonaparte / wada`a Bonaparte mit Michel Piccoli in der Hauptrolle über den napoleonischen Ägypten-Feldzug.
Auch wenn seinen Filmen zuhause nur mässiger Erfolg beschieden war, fanden sie ihren Weg zu europäischen Fernsehkanälen, internationalen Filmfestivals und brachten ihm schliesslich 1997 die Ehrung seines Gesamtwerkes beim Filmfestival Cannes ein. Chahines zunehmende Anerkennung in Europa mag auch seinem wachsenden Interesse an der Repräsentation einer Begegnung mit dem kulturell Anderen geschuldet sein, einer Begegnung, deren Katalysator entweder eine militärische Invasion, religiöser Fanatismus oder die Unangepasstheit der Charaktere bildete. Entwurzelte Bauern, wie in Sohn des Nil / ibn al-Nil (1951), Hauptbahnhof oder ratlose Intellektuelle wie in Der Spatz und Die Rückkehr des verlorenen Sohnes stehen hier im Mittelpunkt. Auch Yahia, das wiederkehrende Alter Ego der auto-biografischen Serie, oder Ram in Der Auswanderer / al-muhagir (1994) gehören dazu. Die Mahnung zu mehr Toleranz, die Chahine mit dem Porträt des einst kosmopolitischen Alexandrien filmisch erhob, wird umso deutlicher durch die vehemente Auseinandersetzung mit dem Radikalismus, sei er westlicher oder östlicher Provenienz, sei es in Gestalt der Bücherverbrennungen der Reconquista, mit der sich z.B. der maurische Philosoph Ibn Rushd (Averroes) in Die Bestimmung / al-masir (1997) konfrontiert sieht, oder der nationalistischen Eiferer in Adieu Bonaparte.
Dass Chahine dabei nie seinen Humor verliert, zeigt wohl am besten das Finale von Alexandria, warum? Während seiner Ankunft im New Yorker Hafen staunt Yahia über die heranrückende Freiheitsstatue, das ultimative Symbol westlicher Freiheit und Demokratie, als diese ihm plötzlich in breitem Grinsen eine Reihe schwarzer Zahnlücken präsentiert. Exemplarisch fasst diese Szene zusammen, wie Chahines künstlerische und politische Intervention zustande kommt und seine Untergrabung der hollywoodschen Vormachtstellung funktioniert, nämlich durch ironisches Recyceln filmischer und kultureller Versatzstücke gepaart mit dem freudig selbstbewussten Spiel seiner Selbst mit dem Anderen.
Viola Shafik
Viola Shafik ist in Deutschland und Ägypten aufgewachsen. Sie ist freiberufliche Filmemacherin, Filmkuratorin und Filmwissenschaftlerin. Sie studierte Bildende Kunst, Middle Eastern Studies und Filmwissenschaft in Stuttgart und Hamburg. Im April 2018 zeigten wir von ihr den Dokumentarfilm My Name Is Not Ali.
Die Retrospektive Youssef Chahine läuft derzeit auch im Filmpodium Zürich und im Stadtkino Basel. Wir danken dem International Arab Film Festival Zurich IAFFZ und Corinne Siegrist vom Filmpodium für die freundliche Unterstützung bei der Organisation dieser Retrospektive.