Erinnerung, Erfahrung, Emotion – die Liebe, die Einsamkeit, die Zeit: Mit Filmen wie Chungking Express, In The Mood For Love oder 2046 hat sich Wong Kar Wai als grosser Stilist, ekstatischer Melancholiker und Archivar des Imaginären in die Filmgeschichte eingeschrieben. Wir zeigen acht Werke aus seinem stilbildenden Œuvre, von seinem Erstling As Tears Go By (1988) bis zu seinem bislang letzten Film The Grandmaster (2013). Sieben Filme liegen in restaurierter 4-K-Version vor.
Rüdiger Suchsland
Wenn man Wong Kar Wai treffen will, ist Timing wichtig. Man muss Glück haben und Geduld. Und man muss einfach da sein, wenn er dann kommt.
Durch die Vermittlung seines Kameramanns, des in Hongkong lebenden Australiers Christopher Doyle, ergibt sich im Juni 2003 die Chance auf einen Besuch am Set von 2046 in Macao, der Hongkong vorgelagerten, portugiesisch geprägten Insel. Gegen 10 Uhr abends soll es losgehen, doch es dauert dann noch drei Stunden, bis er wirklich kommt: Er, das ist Wong Kar Wai, kurz WKW, auch nachts mit der bei ihm offenbar unvermeidlichen dunklen Sonnenbrille vor den Augen. Bis gerade eben hat er an den Szenen gearbeitet, die jetzt auf einem Zettel in chinesischen Schriftzeichen kurz erläutert sind. «Wong arbeitet immer so», erklärt Doyle. «Er sitzt Stunden in seinem Hotelzimmer und konzipiert jede Einstellung. Alles ist detailliert geplant, und dann doch ein spontaner Entwurf.» Oft, so heisst es, erfährt das Team auch den Drehort erst kurz vor Arbeitsbeginn. Wer das hört, denkt natürlich an Godard und Truffaut, die Auteurs der Nouvelle Vague, die immer wieder im Zusammenhang mit Wong Kar Wais Filmen genannt werden.
Nach kurzer Besprechung beginnt der Dreh. Keine langen Takes, sondern kurze Aufnahmen, die immer neu wiederholt werden. Ganz langsam blickt die Kamera durch ein Fenster ins Innere, auf ein Mädchen, das dort wie schlafend auf dem Tisch liegt, ihr Gesicht auf die Arme gebeugt. Dabei fährt sie über die Gegenstände im Schaufenster, scheint sie fast zärtlich zu streicheln mit ihrem Blick, der auch ein wenig an den Blick eines Voyeurs erinnert, und an den eines Fetischisten in seiner Aufmerksamkeit für Details.
Fast unbewegt sieht der Regisseur dabei durch den Monitor; scheinbar die Ruhe selbst, und koordiniert fortwährend die Bewegung der Kamera mit dem Spiel der blinkenden Lichter – auch dies vor allem eine Frage des Timings. Man meint zu sehen: Hier weiss einer ganz genau, was er will, und wartet, bis er genau das bekommt.
Kino als Bewusstseinsstrom
Wong Kar Wai, geboren 1958 in Shanghai, aufgewachsen im Hongkonger Exil, ist der Regisseur von bisher zehn Spielfilmen. Hinzu kommt ein gutes Dutzend bemerkenswerter Kurzfilme und Werbespots, deren ästhetischer Wert weit über den von Gelegenheitsarbeiten hinausgeht.
Gemeinsamkeiten seines Stils und seiner Erzählweise – beides ist gar nicht voneinander zu trennen, weil hier so perfekt wie bei keinem zweiten lebenden Regisseur in Bildern erzählt wird – sind relativ einfach zu benennen: Sein Stil lässt sich als Hyperromantik definieren: Sehnsuchtskino mit konkreten Mitteln. Die Farben in seinen Filmen sind üppig, manchmal neonhaft übersteigert, oft grell, gelegentlich auch pastellen. Meist sind sie komplementär angelegt, oft in der konkreten Lichtgebung geprägt von bestimmten Genres: Allen voran vom Film noir der 1940er-Jahre und dessen Weiterführung in den Hongkong-Gangsterfilmen bis in die Gegenwart, sowie vom Hollywood-Melodram der 1950er-Jahre, dessen Vorläufern in Europa und dessen Pastiches im Werk von Rainer Werner Fassbinder. Sowie von der Nouvelle Vague, hier vor allem in Jean Luc Godards Interpretation.
Die Kameraführung seines langjährigen DOP und künstlerischen Partners Christopher Doyle ist flirrend; die Bilder fliessen und atmen spürbar – kein Stillstand, nirgends. So spürt man im Kino stets, dass ein lebendes Subjekt hinter dem Blick dieses Filmemachers steht, kein gottgleiches Wesen oder Instrument. Dieses Kino ist wie ein Bewusstseinsstrom: persönlich, emotional und verwundbar, die Bilder scheinen offene Poren zu haben, durch die sie mit der Aussenwelt interagieren. Sie sind manchmal nur wie Fetzen von Eindrücken, Gedanken, Gefühlen – das WKW-Kino täuscht nie vor, dass die Welt auf der Leinwand objektiv abbildbar sein könnte. Allenfalls ist sie subjektiv erlebbar, und jedes seiner Bilder ist wie Prousts Madeleine das Sesam-öffne-dich zu einer Erinnerung, Erfahrung, Emotion.
Vor allem liebt WKW seine Figuren und konzipiert seine Filme auf dieser Grundlage und um sie herum. Wobei auch ein bestimmter Ort wie eine Bar, ein Häuserkomplex oder eine ganze Stadt oder gelegentlich ein bestimmtes Ding zu einer Hauptfigur werden kann. Dabei sind diese Hauptfiguren – auch wenn es sich um Menschen handelt – konkret und imaginär zugleich. Sie sind aufgeladen mit Bedeutung, mit Erinnerungen, Hoffnungen und Projektionen und werden dadurch zum Flirren gebracht. In Chungking Express kreuzen sich die konkreten Figuren in den Augen ihrer Gegenüber mit anderen, abwesenden – und mit den Erwartungen der Betrachter. In 2046 wie schon in früheren Filmen darf man sich fragen, ob alle Figuren tatsächlich existieren respektive welche Geschöpfe der Fantasie der anderen entspringen.
Die Männer wie die Frauen in WKWs Filmen sind cool, selbstbewusst und schön. Die Männer sind eher die aktiven Parts, die Frauen sind, mindestens in der Art, wie die Kamera sie zeigt und oft auch in ihrem Agieren, eher passiv, Objekte des Blicks. Doch bereits Days of Beeing Wild kann man auch umgekehrt beschreiben. Und in Chungking Express sind die Frauen die Hauptakteure.
Die Psychologie ist bei WKW selten tiefgründig, doch es gibt in seinen Filmen immer noch eine zweite psychologische Erzählebene, die im Visuellen liegt: üppige Zeitlupenaufnahmen, Wiederholungen, die die Vertrautheit von Ritualen ebenso evozieren wie die Ödnis der Langeweile des alltäglichen Lebens oder die Melancholie sehnsüchtigen Verzehrens und Vergehens. Doch bevor man es sich in solchen Gefühlen bequem machen könnte, kontert sie der Regisseur: Puzzleschnitte, stufenförmig angelegte, rasant vorwärtspeitschende Bewegungsszenen, bei denen die Hintergründe in Aquarelltönen gehalten sind, prägen den schrillen WKW-Look, der Mitte der 90er-Jahre das Kino bis zu einem bestimmten Grad revolutioniert hat – dabei visuell nicht gerade im Einklang, aber komplementär mit dem zur gleichen Zeit entstandene Dogma-Kino und der plötzlich auch in Hollywood von Kathryn Bigelow, Quentin Tarantino, David Fincher und anderen entdeckten Liebe zum achronologischen Erzählen. Der entscheidende Unterschied: WKW verzichtet auf Ironien, auf «wissendes Augenzwinkern» und die damit einhergehende Distanz. Er nimmt Stoffe und Gefühle ernst. Das Ergebnis ist ein energiegeladenes, unbelastetes und freigeistiges Werk.
Fragmente einer Sprache der Liebe
Am besten zeigen das die beiden 1994 und 1995 entstandenen Chungking Express und Fallen Angels. Sie gehen auf drei Short Stories zurück, die der Regisseur ursprünglich zusammen verfilmen wollte. Bis heute kommentiert WKW, dass man beide am besten als Doppelvorstellung sehen sollte. Es sind komplementäre Filme, die mit dem Neo-Noir-Gangsterkino und dem romantischen Melo die beiden wichtigsten Genres des Hongkong-Kino zusammenführen zu einem Panorama der einander bedingenden Gegensätze, die erst zusammen ein Ganzes ergeben: Sonne und Mond, heller Tag und neonleuchtende Nacht, Unschuld und Fatalität.
Auch die Machart ist komplementär: Chungking Express wurde aus grosser Entfernung mit langen Objektiven gedreht, womit die Figuren uns sehr nahe treten, intim wirken. In Fallen Angels wurden sie mit einem extremem Weitwinkel aufgenommen. Die Kamera ist sehr nah an den Personen dran, und doch scheinen sie weit weg. In beiden Filmen wirken die Kamerawinkel oft wie Überwachungsperspektiven. Sie beobachten Verhalten, sie agieren autonom.
In den Szenen, in denen es um Drogenhandel und Auftragskiller geht, treibt WKW die übersteigerte, pathetische Schönheit der Hongkong-Actionfilme stilistisch noch einen Schritt weiter: Während man in konventionellen Actionfilmen einfach auf die nächste aufregende Sequenz wartet, füllt WKW die Zeit aus und präsentiert statt dünner Zwischenräume kleine visuelle Gedichte, strukturiert wie Strophen vom Rhythmus sanfter, kaum merklicher Wiederholungen oder von einer Musik, in der Kommendes schon anklingt, Vergangenes noch nachhallt; und getragen von einem Voice-Over, das die Figuren zu sprechen bringt, auch wenn ihre Münder geschlossen sind und ihr Blick ermüdet. So entsteht – auch durch die Fokussierung der Kamera auf eine scheinbar beiläufige und unbedeutende Szene – ein ganz eigener, transitorischer Zeitraum, ein Ort, in dem Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart wie zu einer vierten Dimension komprimiert werden.
Triumph der Flüchtigkeit
Vor acht Jahren hat WKW mit The Grandmaster seinen bislang letzten Spielfilm vorgelegt. In gewissem Sinn aber ist 2046 der letzte «richtige» Wong-Kar-Wai-Film. Ein Schlussstein, der verschiedene Möglichkeiten des Filmemachens, die er in früheren Werken ausgeführt hat, zu einem Ganzen verbindet. Über diesen Film geht es nicht hinaus – er ist selbst schon Zukunft des Kinos.
Wenn man die Filme Wong Kar Wais jetzt wiedersieht, wird man überrascht sein, wie sehr sie vorführen, was dem Kino der Gegenwart gerade fehlt: Das Flüchtige, das Vergängliche ist Wong Kar Wais Thema. In seinen Filmen verbindet sich das Private, Intime unmittelbar mit der Anonymität, der Vergänglichkeit, dem Ephemeren und der immer wiederkehrenden Einsamkeit und Verlorenheit inmitten des modernen Lebens. Immer wieder unternehmen die Figuren den Versuch, aus der Gleichgültigkeit und Entfremdung, dem schlafwandlerischen Dasein auszubrechen. Gerade in der Unbestimmtheit und Unschlüssigkeit der Beziehungen zwischen den Personen liegen exemplarische und authentische Gefühle.
Zugleich entdecken (und mitunter: feiern) diese Figuren bei aller unterschwelligen Melancholie das Driften und die Ortlosigkeit als originäre Zustände der Moderne, insbesondere in einem Raum, für den die ständige Transformation zu einem so bestimmenden Lebensgefühl geworden ist wie für Hongkong.
Seit jeher ist Hongkong als Hafenstadt und Handelskreuz ein Knotenpunkt verschiedenster Bereiche, Kulturen und Mentalitäten, zudem ein Ort des Exils. Jeder Bereich des Lebens scheint im Fluss, Gebäude haben eine Lebensdauer von 20 Jahren, immer neue Strassenzüge werden dem Wasser abgetrotzt. Eine klare Identität ist schwer zu definieren, vielmehr ist die Bewegung selbst, freilich eine sehr spezifische Bewegung in bestimmten – originär Hongkonger – Räumen diese Identität. Kulturwissenschaftler haben diese Situation Hongkongs als «Kultur des Verschwindens» bezeichnet. Auch die besondere politische und gesellschaftliche Lage Hongkongs führt dazu, dass die Gegenwart dort als eine zukünftige Vergangenheit wahrgenommen wird, dass ihr ihr Ende bereits eingeschrieben ist. Dies gilt spätestens seit dem chinesisch-britischen Vertrag von 1984, der das «Handover» Hongkongs für das Jahr 1997 festsetzte und zugleich eine 50-jährige Übergangsphase unter dem Grundsatz «One country, two systems» vorsah. Genau das letzte Jahr dieser «Transition»-Periode nimmt WKW bereits mit dem Titel 2046 in den Blick. Das futuristische Hongkong im Film ist ein Fluchtpunkt der verschiedenen Eindrücke dieser Metropole seit den 1960erJahren. 2046 handelt von Hongkong, ohne die Stadt ein einziges Mal zu zeigen. Dafür futuristische Räume, die auf Fritz Langs Metropolis anspielen.
WKWs Blick auf Hongkong ist auch in seinen anderen Filmen melancholisch, also von einer grundsätzlichen Trauer um das Verschwinden durchzogen, zugleich wissend um die Vergeblichkeit dieser Trauer und aus diesem Wissen emotionale Funken schlagend. Seine Filme ergeben sich nicht dem Verschwinden, sie geben ihm aber Raum. Diese «Nostalgia for the Present» (Frederic Jameson), die Betrachtung der Gegenwart als einer zukünftigen Vergangenheit, ist eine kreative Nostalgie, denn sie enthält die Fantasien eines Zeitalters, sein Imaginäres, und erst in diesen Fantasien entfaltet sich eine mögliche Zukunft. Sie enthält sogar die paradoxe Nostalgie für etwas Unbekanntes, den Figuren wie Machern und Publikum Unbewusstes. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Unruhen und des Kampfes vieler Menschen in Hongkong um den Erhalt ihrer Bürgerfreiheiten und Selbstbestimmungsrechte werden diese Filme auch zu Zeitkapseln, die vergangene Zukünfte und Möglichkeiten aufbewahren.
Wong Kar Wai rettet damit die innere Realität, rettet Zeitgeist und Lebensgefühl, aber auch Phantasien. Im Beiläufigen, mit unscheinbaren Objekten und flüchtigen Eindrücken werden komplexe Erinnerungsräume und imaginäre Vergangenheiten konstruiert, die wirkungsvoller sind als jedes «objektive» Dokument äusserer Realität. Wong Kar Wai ist ein Archivar des Imaginären.
Rüdiger Suchsland ist Journalist, Autor und Regisseur. Er lebt in Berlin und arbeitet für Print, Radio und Internet, seit 1997 ist er Redakteur beim Internetmagazin artechock. Als Filmregisseur hat er u.a. die beiden filmhistorischen Dokumentarfilme Von Caligari zu Hitler und Hitlers Hollywood (sie liefen beide auch im REX) realisiert. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter «Zeichen und Wunder: Das Kino von Zhang Yimou und Wong Kar-Wai» (zusammen mit Josef Schnelle, Schüren 2008).