Leo McCarey (1898–1969) entdeckte das Komiker-Duo Laurel & Hardy, drehte mit den Marx Brothers Duck Soup, machte mit der Screwball Comedy The Awful Truth Cary Grant zum Star und realisierte später herzerweichende Melodramen wie Make Way for Tomorrow. Wir zeigen eine Auswahl seiner markantesten Werke aus der grossen Retrospektive des diesjährigen Filmfestivals Locarno.
Eines der grössten Komplimente bekam Leo McCarey von seinem französischen Kollegen Jean Renoir: «Er versteht Menschen. Besser als jeder andere in Hollywood.» Zu einer Zeit, als dort immerhin auch John Ford, Vincente Minnelli oder Alfred Hitchcock wirkten, empfahl der grosse Filmemacher, lieber an den vermeintlichen Nebenschauplätzen nach dem Ausdruck der menschlichen Befindlichkeit zu suchen: in den Gesellschaftskomödien, im Slapstick.
Seit 1934 regierte eine strenge Sittenzensur in Hollywood, was Filmemacher zu besonderer Vorsicht zwang. Sieht man Leo McCareys Stummfilmkomödien aus den 1920er-Jahren, kann man sich kaum vorstellen, dass er seine Karriere überhaupt fortsetzen konnte unter einer Zensur, die schon die Erwähnung von Untreue auf den Index setzte. Tatsächlich aber ist in McCareys Werk keine Zäsur erkennbar. Auf den anarchischen Marx-Brothers-Film Duck Soup (1933) folgte 1935 mit Ruggles of Red Gap eine entwaffnende Satire auf die Lebensart neureicher Amerikaner aus der Sicht eines britischen Butlers. Es gab produktivere Regisseure in dieser Zeit, aber McCarey nahm sich Zeit für seine detailverliebten und makellos gebauten Gesellschaftskomödien. Das erlaubte ihm, ihre Schärfen so gut in einem Umfeld herzerwärmender Menschlichkeit zu platzieren, dass die Zensoren den Zündstoff vielleicht gar nicht bemerkten.
The Awful Truth zum Beispiel ist, was sein Genre betrifft, eine Comedy of Remarriage. Schon Mitte der 1910er-Jahre hatte Filmpionier Cecil B. DeMille die Rezeptur für das Spiel mit der unverhofften Freiheit entwickelt, die das moderne Scheidungsrecht offerierte. Cary Grant und Irene Dunne spielen ein Ehepaar, das sich gegenseitig der Untreue verdächtigt und sich eher aus Trotz gegenseitig vor den Scheidungsrichter zitiert. Das entgeht auch dem Richter nicht, der mit dem Kunstgriff einer 90-Tage-Frist, bevor die Scheidung rechtskräftig wird, gewissermassen auch den Zensurcode aushebelt. So spielt der Film in einem Zwischenreich, einem Fegefeuer der Möglichkeiten. Schnell finden sich Ersatzliebschaften, die keinen der beiden zerstrittenen Partner glücklich machen; als Nährboden für das selbstquälerische Interesse am Privatleben des anderen aber erfüllen sie ihren Zweck. Diese knisternde Spannung findet bei McCarey ihren Ausdruck in der physischsten Spielart aller Schauspielkunst, dem Slapstick. Und niemand erweist sich darin kundiger als der heimliche Hauptdarsteller des Films, Foxterrier Mr. Smith.
Wenn McCarey den Sorgerechtsstreit dieses Scheidungskriegs an einem Hund austragen lässt, mag man darin eine weitere Spitzfindigkeit im Umgang mit der Zensur erkennen. Tatsächlich war McCarey Anwalt, bevor er Regisseur wurde. «Aber ich wurde immer nur für den Aktenboten gehalten, weil ich so jung aussah», erklärte er später gegenüber Peter Bogdanovich. «Ausserdem verlor ich jeden einzelnen Fall.»
Im Stummfilmstudio von Hal Roach, wo Komödien am Fliessband produziert wurden, meisterte er dagegen jeden Auftrag. Aus dem seriellen Produzieren der in wenigen Wochen gefertigten Filme entwickelte er eine eigene Kunst der Variation. Es war Leo McCarey, der Laurel und Hardy zusammenbrachte, und ihre Spezialität, das Timing, führte er zur Vollendung in überwirklicher Balance: Der Stummfilm Liberty bringt es fast metaphorisch zum Ausdruck, wenn sich die beiden auf das Baugerüst eines Wolkenkratzers verirren. Während Chaplin und Keaton der Situationskomik epische und lyrische Kontexte erschlossen, begnügte sich McCarey mit Alltagsminiaturen. Dass gerade darin auch etwas Surreales zu entdecken ist, eröffnet sich erst auf den zweiten Blick – etwa im Laurel-und-Hardy-Film Big Business, wo die absurde Prämisse nie hinterfragt wird: Mitten im Sommer Weihnachtsbäume zu verkaufen, erscheint als das Selbstverständlichste der Welt.
Kaum ein McCarey-Film ist heute populärer als das Liebesmelodram An Affair to Remember, das – mit einem gealterten Cary Grant – wie ein romantischer Gegenentwurf zur anarchischen Zweisamkeit von The Awful Truth erscheinen mag. Tatsächlich aber verdankt auch diese hinausgezögerte Liebesgeschichte ihre Wirkung dem Timing. Genau besehen ist es die gleiche Kunst der Verzögerung, des scheinbaren Scheiterns, die McCarey seit seinen frühen Stummfilmen zur Meisterschaft brachte.
Die wohl grösste Entdeckung dieser Filmreihe ist zugleich die verstörendste – und der einzige McCarey-Film, der in den Augen vieler seiner Fans nicht zu den anderen passt. 1952 inszenierte McCarey das Politdrama My Son John, einen Propagandafilm im Dienst der Kommunistenjagd von Senator McCarthy. Helen Hayes spielt darin die Mutter dreier Söhne, von denen einer – Robert Walker in seiner letzten Filmrolle – als einziger Spross der Familie eine Universität besucht hat. Bei einem Besuch wirkt er jedoch in seiner Intellektualität fremd und zynisch. Tatsächlich ist er ein vom FBI gesuchter Anhänger einer als menschenverachtend gegeisselten marxistischen Bewegung. Die Weise, wie das von McCarey gemeinsam mit Myles Cononlly verfasste Drehbuch jede inhaltliche Auseinandersetzung vermeidet, aber politische Bildung generell unter Verdacht stellt, wirkt auf erschreckende Weise aktuell: Es ist ebenjener Populismus, der derzeit in der US-amerikanischen Regierungspolitik ein Comeback feiert. So befremdlich My Son John in seiner Haltung ist, so eindrucksvoll ist er in seiner Schauspielerführung. Helen Hayes’ Mutter ist eine der differenziertesten Frauenfiguren der amerikanischen Kinogeschichte, eine späte Nachfahrin der trauernden Mutter in John Fords Klassiker Pilgrimage. Wahrscheinlich hatte Jean Renoir nicht unrecht – wenigen Regisseuren seiner Zeit gelangen Menschenbilder wie Leo McCarey.
Daniel Kothenschulte
Der Autor ist Filmkritiker, Filmwissenschaftler, Dozent und Kurator und lebt in Köln.
Die Retrospektive wurde kuratiert von Roberto Turigliatto.
Mit freundlicher Unterstützung