Heidi Specogna hat in ihren Filmen beides im Blick: zu welchen Gräueln Menschen fähig sind – und wie solidarisch sie sein können. Ihre Themen verfolgt die 1959 in Biel geborene Filmemacherin mit seltener Konsequenz und furchtlosem Engagement über lange Jahre, in Zentralafrika ebenso wie Lateinamerika. Die umfassende Retrospektive, die wir von den Solothurner Filmtagen übernehmen konnten, zeigt ein Werk, das in seinem politischen Engagement exemplarisch ist.
Marcy Goldberg
Heidi Specogna gehört zweifellos zu den mutigsten Dokumentarfilmschaffenden unserer Zeit. Seit den frühen 1990er-Jahren schreckt sie nicht davor zurück, kontroverse Figuren zu porträtieren und unbequeme Fragen zu stellen. Dieser Mut brachte sie auch schon in Konfliktgebiete und an Grenzzonen, wo die körperliche Gefahr lauert. Er ermöglicht ihr aber auch einen Blick in seelische Abgründe und eine Nähe zu Menschen, die unfassbares Leid erlebt haben. Vielleicht ist es auch ihre ruhige, sanfte und zugleich beharrliche Art, welche die Leuten dazu bringt, die intimsten und oft schmerzhaftesten Erinnerungen mit der Filmemacherin zu teilen. Ihre Offenheit hilft ihr dabei, zusammen mit ihrer Neugierde und ihrer Empathie. Gedreht hat sie unter anderem in Bolivien, Kuba und Uruguay, in Nigeria, Togo und Benin, in der Zentralafrikanischen Republik und der Türkei, aber auch am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, an Kundgebungen in Berlin und in abgelegenen Landschaften in der Schweiz. Das, was Menschen in der Lage sind, anderen Menschen anzutun, ist ein Thema, das sich durch ihr ganzes Schaffen zieht. Aber auch in positivem Sinn: wozu Menschen fähig sind, wenn sie einander beistehen.
Geboren wurde Heidi Specogna 1959 in Biel. Nach einer journalistischen Ausbildung in der Schweiz folgte ab 1982 ein Filmstudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Bereits während ihres Studiums gewann sie mit dem kurzen experimentellen Dokumentarfilm Fährten den Berner Filmpreis 1985. 1988 schloss sie ihr Studium mit dem kurzen Spielfilm Dschibuti ab, fortan würde sie fast ausschliesslich Dokumentarfilme drehen.
1991 kam ihr erster langer Dokumentarfilm heraus: Tania la Guerrillera, über das Leben der deutsch-argentinischen Aktivistin Tamara Bunke, die zur Kampfgefährtin Che Guevaras wurde und 1967 mit knapp dreissig Jahren während seiner Bolivienkampagne ums Leben kam. Bei dieser Spurensuche entwickelte Specogna ihre unverkennbare filmische Handschrift, um vergangene Ereignisse wieder aufleben zu lassen: die akribische Suche nach Bild- und Tondokumenten, gezielte Interviewgespräche mit Zeitzeugen und das Aufsuchen der Orte, wo einst die Geschehnisse passiert sind. Gelegentlich stellt sie Fragen aus dem Off, die ihre Verbundenheit mit ihren Gesprächspartnerinnen spürbar machen. Die Beziehung zu Bunkes stolz trauernder Mutter Nadja Bider-Bunke blieb auch nach den Dreharbeiten bestehen. 2004 widmete Specogna auch ihr einen Film, Zeit der roten Nelken, in dem Nadja über ihr bewegtes Leben als überzeugte Sozialistin über fast ein Jahrhundert erzählen konnte, vom revolutionären Russland ihrer Kindheit hin zur Weimarer Republik, Exil und Emigration in Argentinien, der Rückkehr in die DDR und dem neuen «Pluralismus» nach der Wende. Was in beiden Filmen auffällt: die Selbstverständlichkeit, mit der über den «Kampf zur Befreiung der Menschheit» erzählt wird; aus heutiger Sicht eine wichtige Erinnerung nicht nur an einen utopischen Traum, sondern an die Beweggründe, die dazu geführt haben.
Ähnlich reuelos zeigt sich die ehemalige Funkerin Margrit Bolli in Deckname Rosa (1993). Als Mitglied der Genfer Gruppe der «Roten Kapelle» wirkte sie gegen Nazideutschland und wurde dafür – sogar nach Kriegsende – von der Schweizer Justiz verurteilt. Zusammen mit Specogna sucht sie die Stationen ihrer Widerstandszeit wieder auf. «Ich würde mich immer noch dafür einsetzen», sagt sie, ruhig, aber bestimmt, obwohl sie Jahrzehnte später immer noch als ehemalige Kommunistin in der Schweiz stigmatisiert wurde. Menschen, die fest an die Notwendigkeit des Kampfs für die Gerechtigkeit glauben, auch wenn ihr Tun oft mit viel Leid verbunden wurde, ziehen sich durch Specognas Schaffen. So auch die Verwandte der deutschen PKK-Kämpferin Eva Juhnke in Eine Familienangelegenheit (2005). Zu den vielen berührenden Szenen gehören diejenige, in denen Evas betagte Mutter ihre Tochter im Gefängnis in der Türkei besucht und den Kontakt zur Familie von Evas ebenfalls inhaftiertem Verlobten Hüseyin findet.
Neben dem Motiv des Idealismus zieht sich ein zweiter thematischer Strang durch Specognas Werk: das unverdiente Leid derjenigen, die in die falschen geopolitischen Zwänge geraten. Wie etwa der tragische Fall, der in Das kurze Leben des José Antonio Gutierrez (2006) geschildert wird. Als verwaistes Strassenkind aus den Slums von Guatemala wanderte Gutierrez mit 14 Jahren illegal in die USA. Um eine feste Aufenthaltsbewilligung zu erhalten, meldete er sich für den Militärdienst an, wurde mit den ersten amerikanischen Truppen 2003 in den Irakkrieg entsandt und starb durch «friendly fire». Mit der gleichen umfassenden Recherchearbeit, die sie bereits bei Tania la Guerrillera entwickelte, gelang es Specogna, die Lebensgeschichte des verstorbenen Soldaten zu rekonstruieren, stellvertretend für viele andere Geflüchtete aus Lateinamerika, die alles riskieren in der Hoffnung, ein sicheres Leben in den USA zu finden. Als thematisches Pendant zu dieser Unrechtsgeschichte könnte man auch Das Schiff des Torjägers (2010) sehen, der sich unter anderem mit Menschenhandel in Afrika, insbesondere mit Kindern, auseinandersetzt.
Neben der historischen Rekonstruktion ist Specogna auch eine Spezialistin für Langzeitbeobachtungen und für eine langjährige Beschäftigung mit Themen und Stories, die wir sonst lediglich aus schnell abgedrehten Nachrichtenreportagen kennen würden, wenn überhaupt. Das hat natürlich mit ihrer sorgfältigen Art des Recherchierens zu tun. Es kommt aber auch davon, dass sie Kontakt zu den Protagonisten und Protagonistinnen ihrer früheren Filme aufrechterhält. Wie etwa zu Pepe Mujica und Lucía Topolansky, mit denen sie sich in Tupamaros (1996) erstmals über deren Erfahrungen in der gleichnamigen uruguayanischen Guerillabewegung unterhielt, um sie Jahre später wieder zu besuchen, nachdem Pepe überraschenderweise zum beliebten und unkonventionellen Landespräsidenten gewählt wurde (Pepe Mujica – Der Präsident, 2015). Da sind auch ihre zwei Projekte über die Gräueltaten von kongolesischen Söldnern in der Zentralafrikanischen Republik im Jahr 2002: Carte blanche (2011) und Cahier africain (2016). Im ersten Film ging es vor allem um die Arbeit der Ermittler am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und ihre Versuche, Beweise zu sammeln für eine Anklage gegen Anführer Jean-Pierre Bemba, der die Massaker von 2002 verordnet haben soll. Während der Dreharbeiten stiess Specogna 2008 auf ein Heft, in dem die Zeugenaussagen von 300 Überlebenden dokumentiert wurden. Diese Schicksale liessen sie nicht los, und sie verbrachte Jahre damit, die Frauen, Männer und Kinder wieder ausfindig zu machen, damit diese vor laufender Kamera Zeugnis ablegen konnten. Mitten in den Dreharbeiten brach aber wieder Krieg aus, viele mussten erneut fliehen. Anstatt das Projekt abzubrechen, ging Specogna mit ihrem kleinen Filmteam auf die Suche nach «ihren» Leuten. Die Freude beim Wiedersehen im Flüchtlingscamp bleibt unbeschreiblich, wenn auch getrübt durch die Kriegswirren und das Wissen um weitere Todes- und Folterfälle rundherum.
Cahier africain bleibt Specognas bisher eindrücklichster und persönlichster Film. Das Heft mit Namen, Fotos und Zeugenaussagen steht quasi als Sinnbild für ihr ganzes Schaffen, für ihre stets konsequenten Versuche, der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts einzelne Gesichter und Geschichten zu verleihen. Das Heft reimt sich auch mit ähnlichen Erinnerungsstücken aus anderen Filmen, wie etwa mit den sorgfältig aufbewahrten Alben von Tamara und Nadja Bunke, oder den «fiches d’identification» der Kinder aus dem Schiff des Torjägers.
Arbeiten gegen das Vergessen, gegen das Unrecht, fürs Aufrechterhalten von Bildern einer besseren Welt: Das ist das grosse Geschenk, das Heidi Specogna uns mit ihren Filmen macht. So unbequem oder gar verstörend die Themen sein mögen, umso befriedigender das Wissen darüber und umso berührender die filmischen Begegnungen mit den Menschen, deren Geschichten darin heraufbeschwört werden. Zu Recht hat Heidi Specogna für ihre Filme viele Preise gewonnen, unter anderem zwei Mal den Schweizer Filmpreis und 2019 den Konrad-Wolf-Preis für ihr gesamtes Schaffen. Weitere Projekte sind in Bearbeitung, wir freuen uns darauf und wünschen ihr sicheres Weiterreisen.
Marcy Goldberg ist in Kanada aufgewachsen und lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie ist Film- und Kulturwissenschaftlerin, Dozentin, Übersetzerin und Publizistin.
Wir bedanken uns bei den Solothurner Filmtagen für die freundliche Unterstützung.
Am Freitag, 6. März, ist Heidi Specogna im REX. Das Filmgespräch mit ihr führt Marcy Goldberg.