In unserem Juni-Schwerpunkt zeigen wir Dokumentarfilme über und Spielfilme aus Nordkorea und fragen nach der Wahrheit hinter den Bildern. Anlass für das Filmprogramm sind die Ausstellungen im Alpinen Museum und im Kunstmuseum Bern.
Patrick Holzapfel
Ein Leben ohne Kunst und Literatur ist unvorstellbar. Kim Jong-il
Was tun, wenn man nicht genug sehen kann? Die Demokratische Volksrepublik Nordkorea existiert für viele als schwarzer Fleck auf der Weltkarte, wahlweise dämonisiert, bemitleidet, lächerlich gemacht oder als unheimliche Bedrohung wahrgenommen. Nur in Ausnahmefällen schält sich so etwas wie ein vorurteilsfreier Blick auf die 1948 ins Leben gerufene Diktatur und vor allem das Leben in ihr. Die Filme, die in diesem Land entstehen, vermitteln entweder strenge, mit Pathos angerührte Ideologie oder bezeugen erschwerte Versuche von aussen auf den Staat zu blicken. Allerdings vermag man aus den verschiedenen Ansätzen, tausenden falschen Bildern, heimlich aufgenommenen Wahrheiten und zwischen den Zeilen aufblitzenden Einblicken durchaus mehr zu erkennen, als der erste Blick vermuten liesse.
Sich mit Kino in Nordkorea zu befassen, heisst lernen, Bilder kritisch zu betrachten. Wie in der stalinistischen Sowjetunion werden Probleme und Verbrechen unter einem agitatorischen, beeindruckenden und blendendem Spektakel begraben. Allein die Hauptstadt Pjöngjang erscheint auf Bildern wie ein bunter Vergnügungspark samt Wasserrutschen und Heldenmuseen. Die unendliche Faszination an falschen Bildern, die man aus der Werbung kennt, stellt sich schnell ein, selbst wenn man als westlicher Zuschauer eher dazu neigt, nach den Rissen und Lücken der Inszenierung zu suchen als sich dem Spektakel hinzugeben.
Melodram und Kitsch dominieren in der einheimischen Produktion, während ausländische Filmschaffende seit jeher wenn überhaupt nur ausgewählte Aspekte des Lebens in Nordkorea filmen dürfen. Tränen etwa erscheinen in den Medien in erstaunlicher Ambivalenz, man ist sich nie sicher, ob sie echt sind oder vorgespielt. Fast wähnt man sich in einer Truman-Show, aber schnell wird klar, dass diese Einschränkungen künstlerische und subversive Lösungen provozieren. So dokumentiert Cho Sung-hyung in Meine Brüder und Schwestern im Norden (2016) den Alltag gewöhnlicher Bürger statt sich mit grossen politischen Fragen zu befassen und Marie Voignier unterschlägt die Tonspur ihres Tourisme International (2014), um im reinen Sehen näher an eine Wahrheit zu gelangen. Aber auch in den grossen heimischen Produktionen wie Flower Girl (1972) oder Centre Forward (1978) erzählt sich nordkoreanische Geschichte, und man kann bei genauer Betrachtung viel über die Sorgen und Probleme des Staates erfahren.
Kim Jong-ils Kinogeschichte
Als der nordkoreanische Diktator und Filmenthusiast Kim Jong-il 1973 seine mehr als 400 Seiten dicke Abhandlung über die Filmkunst veröffentlichte (seine Lieblingsschauspielerin: Elizabeth Taylor), leitete er gewissermassen eine Hochzeit der nationalen Filmproduktion ein. Wie in anderen Diktaturen zeichnet sich die Rolle des Kinos in Nordkorea bis heute dadurch aus, dass das Angebot die Nachfrage bestimmt und nicht andersherum. Die Filme entstehen zu einem bestimmten Zweck, nämlich vor allem die Chuch’e-Ideologie im Volk zu verbreiten. Dabei geht es grob gesagt um die tägliche Lebensweise, die den kommunistischen Staat verwirklichen soll. Die Helden dieses Kinos führen dem Publikum wie eine Stewardess im Flugzeug vor, was es zu tun hat und welche Werte verkörpert werden sollen. Da das nordkoreanische Publikum nach dem Koreakrieg nur wenig mit Bewegtbildern in Kontakt kam, stiess die Regierung mit diesem Medium auf äusserst fruchtbaren Boden. In einem Schwall von Nostalgie und Pathos wurde ein Gründungsmythos kreiert, der in den Filmen seinen massenwirksamen Ausdruck finden sollte. Filme wie Flower Girl oder A Broad Bellflower (1987) gehören zu den erfolgreichsten und gelungensten Vertretern dieses Kinos.
In seinem redundanten und staubtrockenen Text liefert Kim Jong-il eine Art Benutzeranleitung für den erfolgreichen Film, was nicht nur Inhalt und Form, sondern auch die tatsächliche Produktion einschliesst. Aus den Filmen sollen die Menschen für ihr Leben lernen. Oftmals drehen sich die Narrative dieser Phase um starke Frauen, die unter den imperialistischen Besatzungsmächten leiden und sich über harte, disziplinierte Arbeit zusammen mit dem heroischen Kommunismus einer neuen Utopie zuwenden. Die Glorifizierung von Arbeit wird auf alle Lebensrealitäten angewandt, sodass Schulen, Fussballkabinen oder Äcker zu reinen Metaphern werden. Diese Metaphern werden überhöht, sei es durch literweise warmes Wasser, das als künstlicher Schweiss auf die arbeitenden Menschen gesprüht wird, oder in den Legenden um die Arbeit selbst, die immer wieder beinhalten, dass die jeweils regierenden Führer selbst beim Dreh beteiligt waren. Eine wirkliche Traumfabrik! Es geht hier nie um einen individuellen künstlerischen Ausdruck, sondern um die Parteilinie. Der einst so erwünschte Filmmarkt hat sich allerdings unter anderem über billige DVD-Importe aus China in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr zu einer Gefahr für das Regime entwickelt, weil die Menschen zunehmend mit anderen Ideologien in Berührung kommen. Das Kino ist also längst nicht mehr nur ein Instrument, es ist vielmehr die Musik, welche die überall installierten Lautsprecher im Land zu übertönen droht.
Den zweifelhaften Höhepunkt der Kino-Manie Kim Jong-ils findet man unterdessen in der abstrusen Entführungsgeschichte rund um den südkoreanischen Regisseur Shin Sang-ok und seine Frau, die Schauspielerin Choi Eun-hee. Die beiden wurden aus Hongkong nach Nordkorea entführt, wo sie Filme für den Diktator drehten, ehe sie erst Jahre später flohen und ihre Entführung begleitet von einem öffentlichen Aufschrei bekanntgaben. Die Dokumentation The Lovers and the Despot (2016) beschäftigt sich mit dieser Episode und beleuchtet dabei gleichermassen die anhaltenden Verschränkungen zwischen Inszenierung und Macht, dem Kino und der Ideologie.
Von wo man blickt
Entscheidend dabei ist immer, von wo man blickt. Das gilt für die Filme selbst, aber auch fürs Publikum, denn in Bezug zu Nordkorea existieren oft einfach zwei sich widersprechende Propagandabilder. Jenes des Landes selbst, und das des - von den USA bestimmten - Westens. Dass zum Beispiel die Walt-Disney-Studios berühmte Zeichentrickfilme wie The Lion King (1994) in Pjöngjang zeichnen liess, um die hohe Qualität der Arbeit und die billigen Löhne auszunutzen, wird eher selten erwähnt, wenn es um das ach so rückständige, kriminelle Land geht. Gleichzeitig darf man seine Augen natürlich nicht vor den Menschenrechtsverletzungen und brutalen Lebensbedingungen im Land verschliessen. Es ist die Aufgabe des Kinos die scheinbar klaren Dinge zu verunklaren, das Leben in diesem Land komplexer darzustellen, als es in unseren Vorurteilen und den staatlichen Idealen existiert. Es geht um das Hinsehen und Hinhorchen, um jeden Preis. Es gibt immer etwas zu sehen, jenseits von dem, was man sehen soll.
Man kennt den Diskurs rund um jene, die die Geschichte schreiben, aber wichtig ist auch, wer die Bilder macht. Egal ob man aus dem Land selbst, aus Südkorea, aus China, aus den USA oder aus Europa auf Nordkorea blickt, ein vollständiges Bild wird nie entstehen. In der berühmten Debatte rund um filmisches Material aus Konzentrationslagern zwischen Jean-Luc Godard und Claude Lanzmann forderte ersterer vehement, dass man überall Bilder machen müsse, dass es für Bilder kein Tabu geben dürfe. Der Grund im Fall von Nordkorea ist offensichtlich, und Filme wie Songs from the North (2014) zeigen das deutlich: in Nordkorea leben circa 25 Millionen Menschen, das Land umfasst 120‘000 Quadratkilometer, nicht all diese Menschen sind gleich, nicht alles sieht gleich aus. Die Fragen der Filme richten sich an die Menschen und ihr Leben. Es zeigt sich eine immense Ambivalenz, und diese muss unbedingt festgehalten werden.
Ausserdem laden die Filme auch ein, unser eigenes Weltbild zu hinterfragen. Die lauten Rufe nach Systemveränderungen sind kaum noch überhörbar in der kapitalistischen Welt, und selbst wenn Nordkorea mit Sicherheit nicht als Vorbild taugt, so lassen sich doch andere Formen der gesellschaftlichen Organisationen an diesem Beispiel studieren. In einer Welt, in der wir ohnehin von Unsicherheiten und Fiktionen umhüllt werden, in der wir nicht sicher sein können, welchen Bildern zu trauen ist, wirken Filme in und aus Nordkorea überraschend allgemeingültig. So könnte man die Frage, ob Filme tatsächlich Menschen verändern können, damit beantworten, dass sie uns vielleicht nicht unbedingt zu staatstreuen Kommunisten machen, aber zumindest unsere Sinne schärfen. Das wäre eine Kino-Ideologie, mit der man sich anfreunden könnte.
Patrick Holzapfel, der die Reihe im REX kuratorisch wesentlich geprägt hat, arbeitet als Autor, Filmemacher und freier Kurator und lebt in Wien. Im Jahr 2016 erhielt er das Siegfried-Kracauer-Stipendium vom Verband der deutschen Filmkritik. Er ist Gründer und Chefredakteur des Blogs Jugend ohne Film. Texte von ihm erscheinen ausserdem im Filmdienst, bei Perlentaucher und Mubi Notebook.
Die nordkoreanischen Filme wurden von Nicholas Bonner, Koryo Studio Peking, vermittelt.
Die Ausstellungen
Let’s Talk about Mountains – Eine filmische Annäherung an Nordkorea
Alpines Museum der Schweiz, Bern, bis 3. Juli 2022
Grenzgänge – Nord- und südkoreanische Kunst aus der Sammlung Sigg
Kunstmuseum Bern, 30.4. bis 5.9. 2021