- © Image Courtesy of Cineteca Nacional Mexico
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¡Espectacular! Mexikanisches Populärkino 1940–1970
05.10. – 01.11.2023
Das Filmfestival Locarno präsentierte in seiner diesjährigen Retrospektive populäre Produktionen aus dem Goldenen Zeitalter des mexikanischen Kinos. Fürs REX hat der Kurator Olaf Möller 13 exemplarische Beispiele ausgewählt – viele ungesehen, manche falsch verstanden, alle neu zu entdecken.
Olaf Möller
Die Retrospektive zum populären mexikanischen Kino des Filmfestivals Locarno war eine Sensation: Das Publikum staunte über politisch subversive Musicals (La corte de faraón, 1944; Julio Bracho), moderne Melodramen (Más fuerte que el amor, 1955; Tulio Demicheli), surrealistische Komödien (El caso de la mujer asesinadita, 1955; Tito Davison), verstörende Western (Los hermanos del Hierro, 1961; Ismael Rodríguez), knallbunt-fidele Superheldinnenextravaganzen (La mujer murciélago, 1968; René Cardona) und wunderte sich von Tag zu Tag immer mehr darüber, dass man von all diesen abenteuerlustigen, formal wie inhaltlich wieder und wieder bahnbrechenden Herrlichkeiten noch nie etwas gehört hatte.
Um es gleich vorwegzunehmen: Mexiko befindet sich auf demselben Niveau wie Italien oder Frankreich, was die Dichte an Meistern, das Stargepränge und die Genrevielfalt der Produktion angeht, sprich: die künstlerische Bedeutung. Ganz zu schweigen von der schieren Masse: In der Hochzeit der mexikanischen Filmindustrie während der 1950er- und 1960er-Jahre entstanden hier alljährlich mehr Arbeiten als in den beiden nächstgrösseren spanischsprachigen Produktionsländern Argentinien und Spanien zusammen. Mexiko war das Schlüsselland für das Kino dieses Sprachraums, ein kosmopolitischer Ort, welcher Filmschaffenden aus Ländern wie Chile (Tito Davison), Kuba (René Cardona) oder Argentinien (Tulio Demicheli) neue Arbeitsmöglichkeiten bot sowie politisch Verfolgten aus Europa und den USA zusätzlich auch Schutz.
Zu sehen ist von diesen Abertausenden an Werken letztlich aber immer dasselbe Dutzend an Titeln: Eine Handvoll Standardklassiker von Emilio Fernández, ein, vielleicht zwei als «symptomatisch» geltende Filme von Roberto Gavaldón, Alejandro Galindo und gegebenenfalls noch Ismael Rodríguez plus Luis Buñuel, versteht sich. Und das wars.
Diese Ausdünnung auf ein paar designierte Meisterwerke steht im krassen Widerspruch dazu, wie präsent das mexikanische Kino in den Nachkriegsdekaden international war – und zwar nicht nur im Festivalbetrieb mit exquisiter Repräsentationskunst vor allem von den grad Genannten, sondern auch im Kinoalltag, und das genau mit jener Art von populären Filmen, die erst in Locarno und nun auch hier im REX gefeiert werden. Diese Werke wurden allerdings fast immer als Konfektionsware zweiter bis dritter Güteklasse behandelt und durch Kürzungen und/oder vergröbernde Synchronisationen oft auch vulgarisiert, banalisiert. Matilde Landetas abgründig-feministischer Versuch über soziale wie ökonomische Gewaltverhältnisse, Trotacalles (1951), wurde so in der Bundesrepublik zum Sexploiter im Nuttenmilieu uminterpretiert und entsprechend ausgewertet; dito Tulio Demichelis süffisant-pointiertes Pamphlet zum Klassendünkel, Más fuerte que el amor (1955), das unter dem moralisierend-hämischen Titel Kein Kopf für seidene Kissen in der BRD als saftiges Stück Exotikerotica in den einschlägigen Theatern zu sehen war. Das Gleiche gilt für Dutzende von Ringern- und Horrorfilmen des Pop-Handwerkers René Cardona, die in den USA zu Einstündern für den Auto- und Landkinomarkt heruntergehackt wurden. Populäres Kino ist immer auch Attraktion und Verführung, doch wenn man diese zum Selbstzweck macht und den Werken ihre Intelligenz und Würde nimmt, droht Gefahr.
«¡Espectacular!» lässt ganz bewusst die allseitig abgefeierten Meisterwerke aussen vor: Hier geht es nicht um grosse Filme, sondern um die Grösse der mexikanischen Filmkultur an sich. Und damit um eine interessante Frage, nämlich: Was kann mexikanische Filmgeschichte heute noch alles sein – was wirkt an ihr jetzt bezeichnend, wegweisend, zukunftsträchtig? Was wusste dieses Kino schon alles, das heute relevant ist?
Die Antwort darauf findet sich oft in Filmen, welche in Mexiko lange als Nebenwerke betrachtet wurden – wenn sie nicht gleich von ihren Regisseuren selbst desavouiert wurden, wie etwa der gestalterisch immer wieder überraschende, neurotisch-existentialistische Los hermanos del Hierro, den Ismael Rodríguez selber hasste; vielleicht war ihm klar, wie scharfkantig sich hier eine sinnfrei-soziopathische Seite seines ansonsten so gut gelaunten Macho-Humanismus offenbarte – dass ihm sozusagen etwas unwiderruflich herausgerutscht war.
Ein Paradebeispiel für einen unterschätzten Film ist Roberto Gavaldóns Días de otoño (1963), die Adaption einer späten Kurzgeschichte von B. Traven, welche in den letzten Jahren eine jüngere Generation mexikanischer Cinephiler für sich entdeckte. Mit Recht: Die Geschichte der jungen Luisa, die in die Hauptstadt kommt und sich dort immer tiefer in eine kleinbürgerliche Glücksfantasie inklusive imaginierten Ehemanns und Kinds spielt und damit ihre Umgebung betrügt, offenbart elegant das Zwiespältige der frühen 1960er-Jahre zwischen neuem Wohlstand und alter Armut und dem Lügengewebe, welches diese beiden Seiten der Wirklichkeit Mexikos zusammenhielt. Die zentrale Frage des Films ist, wie bewusst sich Luisa der Farce ist, die sie da aufführt – was sie damit will, wenn sie erst die Jungverliebte, dann die Ehefrau, schliesslich die Mutter spielt; und ob sie das für sich oder die anderen tut?
Soziale Maskeraden, Grenzgänge zwischen den Klassen und ihren Realitäten, finden sich oft in diesem Kino. Speziell zu erwähnen ist in diesem Kontext das Diptychon aus Fernando Méndez’ Sozial-Noir El suavecito (1951) und Alejandro Galindos Exposé zur illegalen Arbeitsmigration in die USA, Espaldas mojadas (1955). Beide erzählen von den inneren wie äusseren Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Mexiko und dem nördlichen Nachbarn. Bei Méndez verstrickt sich ein kleinkrimineller Pachuco (eine ab den 1940ern vor allem in Texas und Kalifornien verbreitete Latinosubkultur, die dann auch ihren Weg nach Mexiko fand) in ein Netz aus Lebenslügen – bis dann der Zahltag kommt; dasselbe gilt für eine Nebenfigur in Espaldas mojadas (bezeichnenderweise gespielt vom selben Darsteller, Víctor Parra), deren Untergang Galindo den Selbstfindungsprozess einer Mexicano-US-Amerikanerin gegenüberstellt. Eine ganz eigene Note steuert diesem Themenkomplex Chano Uruetas halb dokumentarische Sportlerlegende El gran campeón (1949) bei, in der sich ein mexikanischer Boxer, Kid Azteca (gespielt von ihm selbst!), aus den USA hoch- und in die Kapitale seiner Heimat kämpft – um von dort aus die ganze Welt zu erobern. Kid Azteca muss dabei auch einsehen, dass die Gringos vielleicht doch nicht so schmiergeldgierig sind, wie er immer dachte...
Was uns zu zwei der erstaunlichsten Werke des Programms bringt. Julio Bracho nutzte das narrative Gerüst sowie einige der berühmtesten Lieder einer im faschistischen Spanien verbotenen Zarzuela, La corte de faraón (1944), um sich über die einheimische Korruption auszulassen; doch damit nicht genug: Der Film mixt wie wild Elemente von Art Deco, Brecht'schem Theater, klassischem Ballett und Hollywoodmusicalkonventionen, um über Sinn wie Unsinn der Moderne spielerisch nachzudenken. Alfredo Bolongaro-Crevenna schliesslich griff bei seiner Transposition von Christa Winsloes krass preussischem Lesbenklassiker «Mädchen in Uniform» (1930) in ein katholisches Milieu auf die Ästhetik des Expressionismus zurück, um seinem antipatriarchalen Traktat Muchachas de uniforme (1951) eine angemessen neurotisch-grausame Dichte und Härte zu verpassen. Damals eher mit Verwirrung zur Kenntnis genommen, wirkt Muchachas de uniforme heute politischer denn je.