
Auf der Suche nach der filmischen Utopie
06.06. – 03.07.2024
Das Kino liebt Konflikte und Katastrophen, Bilder einer besseren Welt sind selten. Für unsere Reihe haben wir uns dennoch auf die Suche nach filmischen Utopien gemacht. Das Ergebnis ist eine eklektische Auswahl, die vom sowjetischen Propagandafilm Enthusiasmus: Donbass-Sinfonie über das feministische Pamphlet Born in Flames bis zum queeren Lustspiel Shortbus reicht.
Hollywood wird gerne als Traumfabrik bezeichnet, doch wenn man sich anschaut, welche Bilder der Zukunft uns das Kino präsentiert, dann sind diese in aller Regel alptraumartig. Seien es von Krieg und Umweltkatastrophen verwüstete postapokalyptische Landschaften oder hochtechnisierte totalitäre Staaten, aus denen jegliche menschliche Emotion verbannt wurde – künftige filmische Welten sind mit wenigen Ausnahmen schrecklich.
Dies ist erstaunlich, insbesondere wenn man das Kino mit der Literatur vergleicht. Begonnen mit der 1516 erschienenen «Utopia» des englischen Staatsmannes und späteren Märtyrers Thomas Morus entstand hier eine lange Tradition positiver Staatsentwürfe. Morus beschreibt in seinem Buch ausführlich die gesellschaftliche Organisation auf der Insel Utopia, die der des zeitgenössischen Englands deutlich überlegen ist. Das Beispiel machte Schule; seither sind unzählige Utopien erschienen, die das Morus’sche Modell aufnehmen und variieren.
So weit also die Literatur. Warum aber hat es die Utopie nie auf die Leinwand geschafft, warum wurde keiner der Klassiker der utopischen Literatur je verfilmt? Die Dominanz düsterer Zukunftsszenarien wird gerne als Spiegel unserer misslichen Gegenwart interpretiert. Tatsächlich dürfte der wahre Grund für das Fehlen utopischer Filme aber ein anderer sein: Klassische Utopien sind keine Romane im modernen Sinn; sie erzählen keine mitreissenden Geschichten, sondern beschreiben ausführlich die Organisation des jeweiligen Staates. Es gibt keine ausgestalteten Figuren, keine Konflikte, der Plot beschränkt sich meist auf ein Minimum. Das ist schlechter Stoff für einen spannenden Spielfilm. Ganz anders dagegen die Dystopie, die meist von der Rebellion eines Unzufriedenen gegen das totalitäre Regime erzählt und damit den aufregenden Plot von Haus aus mitbringt.
Gibt es im Film somit überhaupt keine utopischen Entwürfe? Im Grossen und Ganzen stimmt dieser Befund. Dennoch haben wir uns in dieser Reihe aufgemacht, den Gegenbeweis anzutreten und eine Auswahl filmischer Utopien zusammengestellt.
Ein rares Beispiel einer literarischen Utopie, die es weitgehend unbeschadet auf die Leinwand gebracht hat, ist Lost Horizon (1937), basierend auf dem gleichnamigen Roman von James Hilton. Frank Capras Film erzählt von einer kleinen Gruppe, die nach einem Flugzeugabsturz in Tibet im Kloster von Shangri-La Unterschlupf findet, dessen Bewohner abgeschieden von der Welt in Ruhe und Eintracht leben. So idyllisch die Szenerien sind, die Capra entwirft, ganz ohne Konflikt geht es auch hier nicht. Nicht allen behagt das Leben in Shangri-La, und schliesslich verlassen die Neuankömmlinge das Himalaja-Refugium – mit dramatischen Konsequenzen.
Der Konflikt, der in Lost Horizon sichtbar wird, ist insgesamt charakteristisch für neuere Formen der Utopie. In den frühen Utopien ist das Verhältnis zwischen Staat und Individuum klar: Der Einzelne sieht ein, dass er in der besten aller Welten lebt und ordnet sich widerstandslos in die durchorganisierte Staatsmaschinerie ein. Die Perspektive ist top-down, individuelle Bedürfnisse gelten wenig; ein Verständnis von Gesellschaft, das heute die wenigsten überzeugen dürfte. Entsprechend sind fast alle filmischen Utopien keine «reinen» Vertreter des Genres, sondern reflektieren immer auch die Beschränkungen des klassischen Modells.
Dies zeigt sich etwa in Pleasantville (1998), in dem sich zwei Teenager unversehens in der vermeintlich harmlosen Fünfzigerjahre-Fernsehkomödie Pleasantville wiederfinden; ein Ort, der sich trotz seines Namens bald als äusserst unangenehm entpuppt. Unter der makellosen Oberfläche der adretten Mädchen mit Petticoats und den braven Knaben mit Brillantine im Haar kommt eine SpiessbürgerweIt zum Vorschein, die Andersartige brutal ausgrenzt. Die Dystopie ist in der Utopie immer schon angelegt.
Die Nähe von Utopie und Dystopie wird auch in René Clairs frühem Tonfilm À nous la liberté (1931) augenfällig. Der Film beginnt als Satire auf die Technisierung und Unterdrückung der Arbeiter; als Sinnbild für die Entmenschlichung steht ähnlich wie fünf Jahre später in Chaplins Modern Times das Fabrikfliessband. Doch ist das Problem hier bloss zu wenig Automatisierung; zum Schluss kommt die Fabrik ganz ohne Menschen aus, das Ergebnis ist ein voll automatisiertes Schlaraffenland.
Dass selbst die realisierte Utopie verbessert werden kann, dass Utopie letztlich kein Zustand, sondern ein Prozess ist – oder vielmehr sein muss –, zeigt Born in Flames (1982). Zehn Jahre nach der sozialdemokratischen Revolution in den USA müssen die Frauen noch immer um ihre Rechte kämpfen. Lizzie Bordens Film ist irgendwo zwischen feministischer Agitprop, experimenteller Science-Fiction und filmischem Pamphlet angesiedelt. Definitiv ein Film ausserhalb der Norm. In ihrer einflussreichen Studie Screening Space bezeichnet die Filmwissenschaftlerin Vivian Sobchack Bordens Film denn auch als singuläres Beispiel utopischer Science-Fiction.
Ungewöhnlich ist Born in Flames nicht zuletzt darin, dass in diesem Film ähnlich wie in der klassischen Utopie viel geredet und argumentiert wird. Dies verbindet ihn bei allen Unterschieden mit Jonas qui aura 25 ans en l'an 2000 (1976), in dem Alain Tanner von der gescheiterten Utopie der 68er-Bewegung erzählt. Jonas ist ein Film, der eigentlich nicht funktionieren dürfte; er ist politisch, dialektisch, ja unverhohlen didaktisch, und dennoch von einer Leichtigkeit und von einem Witz, die nicht nur im Schweizer Kino ihresgleichen suchen. Die realisierte Utopie eines unterhaltsamen politischen Films.
Neben den grossen Utopien, welche die gesamte Gesellschaft umfassen, gibt es auch die kleinen Utopien. Etwa Tillsammans!, der just auf die Zeit, in der Jonas entstanden ist, zurückblickt und mit liebevoller Ironie von den Schwierigkeiten des Lebens in einer Kommune erzählt. Wir zeigen Lukas Moodyssons Erfolgsfilm aus dem Jahr 2000 zusammen mit Tillsammans 99, der fast ein Vierteljahrhundert später fragt, wie es den Kommunarden seither ergangen ist.
Noch intimer sind schliesslich Utopien, die den menschlichen Körper und alles, was man mit diesem anstellen kann, behandeln. Zwei Filme in unserer Reihe widmen sich auf ganz unterschiedliche Weise diesem Themenkomplex. Da wäre zum einen Sally Potters moderner Klassiker Orlando (1992). Frei nach dem gleichnamigen Roman von Virginia Woolf erzählt der Film die Geschichte des androgynen Edelmanns Orlando, der auf wundersame Weise nicht nur mehrere Hundert Jahre alt wird, sondern auch sein Geschlecht wechselt. Der Filmkritiker Roger Ebert bezeichnete Orlando treffend als eine «Vision der menschlichen Existenz»; eine Vision, in der Geschlechtskategorien hinfällig werden. Verkörpert wird die auf einzigartige Weise von Tilda Swinton.
Mitunter sehr handfest geht es in Shortbus (2006) zu. Im New York kurz nach der Jahrtausendwende hadert ein bunter Strauss von Figuren mit sich und seiner Beziehung zum anderen respektive gleichen Geschlecht. Der Swingerclub Shortbus erscheint hier also Oase, an dem alle ihre Lust frei ausleben können. John Cameron Mitchells Film wartet mit expliziten Sexszenen und entsprechend einer Altersfreigabe ab 18 Jahren auf, ist aber nie pornografisch, sondern stellenweise gerade in den Sexszenen hoch komisch. Ein Lustspiel im doppelten Sinn.
Die literarische Utopie ist, wie zu Beginn ausgeführt, keine «normale» erzählende Literatur, sondern immer eine direkte Reaktion auf soziale und politische Missstände, eine Erinnerung daran, dass die Verhältnisse auch ganz anders sein könnten. So gesehen steht sie dem Dokumentarfilm deutlich näher als dem Spielfilm, weshalb unsere Reihe auch einige nichtfiktionale Filme enthält. Dziga Vertovs bildgewaltiger Enthusiasmus: Donbass-Sinfonie (1931) ist ein Beispiel dafür, wie nahe Propaganda und utopischer Dokumentarfilm beieinanderliegen können: Indem der Film die Industrialisierung des Donbass glorifiziert, zeigt er auch das Bild einer kommunistischen Utopie, die es in der Realität nie gegeben hat.
Ein Highlight der Reihe ist ein Programm bestehend aus drei kürzeren Dokumentarfilmen. Während The City, der an der New Yorker Weltausstellung 1939 Premiere feierte, dem lebensfeindlichen Moloch der Grossstadt die übersichtliche Gartenstadt gegenüberstellt, präsentiert in EPCOT (1967) kein Geringerer als Walt Disney selbst seine ursprüngliche Vision von Disney World, dessen Zentrum eine Hightech-Stadt der Zukunft bilden sollte. Liebe 2002 (1972) schliesslich, produziert von einer auf sozialistische Zukunftsfilme spezialisierten Arbeitsgruppe der staatlichen Filmproduktion der DDR, zeigt eine höchst eigenwillige Vorstellung von der Zukunft der Liebe.
Zum Schluss sei hier noch ein Film erwähnt, der komplett aus dem Rahmen zu fallen scheint, der Science-Fiction-Kracher Starship Troopers (1972), in dem stramme Burschen und Mädels gegen riesige ausserirdische Käfer kämpfen. Paul Verhoevens schwarzhumorige Satire zeigt eine hochgradig militarisierte Welt, in der unverhohlen das Recht des Stärkeren zelebriert wird. Offensichtlich soll diese Gesellschaft nicht erstrebenswert erscheinen, und doch weist sie eindeutig utopische Züge auf. Nicht nur sind ihre Bewohner fast ausnahmslos jung und gutaussehend, es ist auch eine bestens organisierte, hocheffiziente Welt, in der sich alle, die den Regeln folgen, hoher Lebensqualität erfreuen. «A World That Works», wie es in einem der Werbeclips heisst, die den Film immer wieder unterbrechen. – Utopie und Dystopie sind einmal mehr nur eine Frage der Perspektive.