«Jedes Gesicht hat eine Geschichte», sagte Agnès Varda (1928–2019) einmal. Als Filmemacherin sammelte sie vor allem Gesichter und Geschichten von Frauen, so etwa in Cléo de 5 à 7 oder Sans toit ni loi. Über 50 Filme hat sie in 65 Jahren gedreht und ein Werk geschaffen, das in seiner gedanklichen Freiheit und ästhetischen Verspieltheit einzigartig ist. Wir haben 13 Titel ausgewählt, von ihrem Debüt La Pointe Courte bis zu ihrem letzten Film Varda par Agnès, den wir als Premiere zeigen.
Christiane Peitz
Die Fassade des Hauses ist pink und lila gestrichen, es sind die gleichen Farben wie die Strähnen in ihrem Haar. Hier, in der Rue Daguerre im 14. Arrondissement von Paris, hat Agnès Varda gelebt, sechs Jahrzehnte lang, bis zu ihrem Tod im März dieses Jahres, da war sie 90. Hier hatte sie in einer Ladenwohnung 1954 ihre Produktionsfirma Ciné Tamaris gegründet, wo man ihr beim Arbeiten zuschauen konnte, beim Schneiden, Sichten, Organisieren, noch im hohen Alter. Hier hat sie Daguerréotypes (1976) gedreht, ein Porträt der kleinen Läden und Leute um sie herum, im Radius des Stromkabels, das sie am Zähler ihres Hauses anschloss, es mass 90 Meter. Und hier, im Patio hinter dem Toreingang, empfing sie Gäste und Journalisten. Sie stellte Essen auf den Tisch, machte einen mit ihren geliebten Katzen bekannt, bückte sich zu ihnen hinunter.
Agnès Varda hat einmal einen gesamten Film über Leute gedreht, die sich bücken, Les glaneurs et la glaneuse (2000). «Ich wollte etwas über die Menschen herausfinden, die vom Müll der anderen leben», erzählte sie und begab sich auf Augenhöhe, mit einer kleinen Digitalkamera. Es ist ein Film über periphere, prekäre Existenzen geworden, die Fallobst auflesen und auf dem Acker Kartoffeln in Herzform ausbuddeln – ihr ganz persönlicher sozialer Realismus. Die Kartoffelherzen zeigte sie später auch in einer Installation auf der Kunstbiennale Venedig und spazierte im Kartoffelkostüm durch die Giardini.
Jedes Gesicht hat eine Geschichte, hat sie einmal gesagt. Als Filmemacherin sammelte sie Gesichter und die Geschichten dazu, meistens Gesichter von Frauen. Das Gesicht einer Chansonsängerin, die zwei Stunden auf das Ergebnis ihrer Krebsuntersuchung wartet und durch Paris streift, in ihrem ersten Langfilm, Cléo de 5 à 7 von 1962. Das Gesicht von Sandrine Bonnaire als Landstreicherin, in Sans toit ni loi, ihrem berühmtesten Film, für den sie 1985 in Venedig den Goldenen Löwen gewann, als erste Frau überhaupt. Das Gesicht von Jane Birkin, 1988 in Jane B. par Agnès V., mit Birkin als Femme fatale, als Tarzans Jane und Calamity Jane, als nackte Tizian-Schönheit, als Mann, als Mutter, als Greisin. Eine fröhliche Camouflage, ein Geburtstagsgeschenk zum 40. der Schauspielerin. «Ich kann meine Mythologien in dich hineinpacken», warnt die Regisseurin. «Auch wenn man alles auspackt, enthüllt man nicht viel», entgegnet Jane Birkin und leert ihre Handtasche. Agnès Varda hat ihren Heldinnen und Helden immer die Freiheit gelassen.
Begonnen hatte sie als Theaterfotografin. Die 1928 unweit von Brüssel geborene Tochter einer Französin und eines Griechen wollte zunächst Restauratorin werden, studierte Kunstgeschichte an der Sorbonne, machte eine Fotografenlehre und lernte Jean Vilar kennen, der bald das Pariser Théâtre National Populaire leitete. Sie hat auch später noch fotografiert, in China zu Beginn der Kulturrevolution, in den USA während der Vietnam- und Black-Panther-Bewegung, in Kuba. Fidel Castro porträtierte sie als Revolutionär mit steinernen Flügeln. «Ich hatte Glück», erinnerte sie sich später, «ich war zufällig oft dort, wo gerade etwas passierte.»
So ist sie auch zur Chronistin des 20. Jahrhunderts geworden. Und ihr eigenes Gesicht, das Antlitz dieser kleinen, rundlichen, resoluten und fast immer vergnügten Frau mit der immer gleichen helmartigen Pagenfrisur, wurde selber schon früh zur Ikone. Die Franzosen nannten sie die Grossmutter der Nouvelle Vague, dabei war sie noch keine 40, als ihr das Attribut verliehen wurde, und gehörte nie zum Zirkel der Nouvelle Vague. Während Truffaut und Godard noch cineastische Texte schrieben, drehte sie mit 26 lieber ihren ersten Langfilm, La Pointe Courte (1955).
Ein Ehepaar, das um seine Liebe ringt, mit Philippe Noiret, Silvia Monfort und den Bewohnern des südfranzösischen Fischerdorfs Sète - schwarzweiss, halbdokumentarisch, voll spröder Poesie. Obwohl Varda mit Alain Resnais, Chris Marker und ihrem späteren Mann, dem Filmemacher Jacques Demy, zum Rive-gauche-Kreis gehörte, zu den Leuten vom linken Seineufer, prägte La Pointe Courte auch die Nouvelle Vague. Sie selber nannte ihre Vorgehensweise gern cinécriture, Drehbüchern misstraute sie. Die Filme schreiben sich selbst, fand die avantgardistische Autodidaktin. So sind ihre Filme Grenzgänge zwischen Realität und Fiktion, Träumen und Reminiszenzen, beherzte Genrekreuzungen, in denen «die kleine, schwatzhafte Agnès» (Varda über Varda) sich Clownerien erlaubt, das Dokumentarische spielerisch aufmischt und im Spielfilm professionelle Schauspieler an der Seite von Laiendarstellern auftreten lässt.
Auch ihr eigenes Leben mischt häufig mit. Für La Pointe Courte kehrte sie auch deshalb nach Sète zurück, weil es ihre Familie im Krieg aus Belgien hierher verschlagen hatte, ans Mittelmeer. Varda, das Flüchtlingskind aus Belgien, zeitweise lebten sie in einem Boot. Oder Jacquot de Nantes, ihre Hommage an ihre grosse Liebe Jacques Demy, der 1990 starb. Weniger eine Würdigung des in Frankreich wegen Melo-Musicals wie Les parapluies de Cherbourg (1964) so populären Regisseurs als die liebevolle Rekonstruktion seiner Kindheit. Der Arbeitstitel hiess Evocation, eine Beschwörung, eine Geisterstunde: Der schwerkranke Demy half noch beim Dreh, sie pflegte ihn in der Rue Daguerre. Den fertigen Film hat er nicht mehr erlebt.
Noch ein Grenzgang zwischen Privatleben und Beruf: Als Jane Birkin ihr bei der Arbeit an Jane B. par Agnès V. von einem eigenen Script erzählte – eine 40-Jährige verliebt sich in einen 14-jährigen Jungen – , machte Varda prompt einen Spielfilm daraus, Kung-Fu Master!, mit Birkin und ihrem eigenen Sohn Mathieu Demy in den Hauptrollen. Auch Birkins Töchter Charlotte Gainsbourg und Lou Doillon stehen vor der Kamera, ebenso ihre Eltern. Film als Verführung der Wirklichkeit: Agnès Varda hat gerne verführt – und sei es, dass sie die Ideen und Welten der anderen in ihr eigenes Bilderuniversum überführte.
Pionierin, Poetin, Humanistin: Über 50 Filme hat Agnès Varda in 65 Jahren gedreht, geehrt wurde sie erst spät, mit einem Ehren-Oscar, mit Ehrenpalme, Césars und zuletzt der Berlinale-Kamera. Die Frauen behielt sie zeitlebens im Blick, in Liebes- und Leidensgeschichten wie Les créatures mit Catherine Deneuve und Michel Piccoli (1966), im Freundinnen-Film L’une chante, l’autre pas (1977), in ihrer dokumentarischen Installation über 14 Witwen auf der Atlantikinsel Noirmoutier, wo sie oft die Ferien verbrachte. Das Prädikat Feministin hörte sie trotzdem nicht gern. «Ich repräsentiere nichts», betonte sie oft. Eine Kämpferin war sie trotzdem. 1971 unterzeichnete sie das Manifest der 343 Hexen, «Wir haben abgetrieben». Sie ging dafür auf die Strasse, hochschwanger mit Mathieu, ihrem zweiten Kind nach der 1958 geborenen Tochter Rosalie. Auch die #MeToo-Bewegung hat sie unterstützt.
In den letzten Jahren sind ihre Bilder noch persönlicher geworden, heiterer, bunter. In Les plages d’Agnès (2008) sucht sie die Strände ihres Lebens auf, in Visages villages (2017) erkundet sie ganz Frankreich noch einmal, trifft einfache Leute auf der Strasse, gemeinsam mit dem 50 Jahre jüngeren Streetart-Künstler JR. Sie klingelt bei Godard am Genfersee, und der macht nicht auf. «Godard, du bist eine alte Ratte», lautet ihr lapidarer Kommentar. Varda gehört zu den wenigen, denen es gelungen ist, Godard in die Augen zu schauen. Für ihre Kamera nahm er die Sonnenbrille ab.
«Wenn man Menschen öffnen könnte, würde man Landschaften vorfinden», sagt sie in Les plages d’Agnès. Bei ihr würde man Strände finden; schon als sie mit 18 von zuhause weglief, flickte sie Fischernetze in Korsika. Und weil Paris nicht am Meer liegt, segelt sie für die Kamera auf der Seine.
In ihrem allerletzten Film, Varda par Agnès, einer Spurensuche und Sammelbewegung in eigener Sache, ist die Szene aus Les plages d’Agnès noch einmal zu sehen, in der sie die Rue Daguerre in einen Strand verwandelt. Die Schreibtische stehen im Sand, ihre Mitarbeiterinnen stecken die Füsse hinein, während sie selbst am Papptelefon um einen zinslosen Kredit bittet. Noch einmal gibt sie Auskunft über Leben und Werk, munter und kindlich weise: Filmemachen ist «Inspiration, Erfindung, Teilen». Keiner macht Kino allein. Deshalb läuft der Abspann mit all den Namen der Beteiligten gleich zu Beginn. Am Tag nach ihrem Tod lag ein Blumenmeer vor ihrem bunten Haus.
Christiane Peitz (*1959) arbeitet als Kulturautorin und Redakteurin für die Berliner Zeitung «Der Tagesspiegel». Sie studierte Musikwissenschaft und Germanistik und schreibt vor allem über Film und Klassische Musik.