Kiew im Frühling 1929
Film und Musik
UdSSR 1929, 79', DCP, stumm. Regie Michail Kaufman.
Die Pianistin Roksana Smirnova und der Gitarrist Misha Kalinin aus der Ukraine, die derzeit in der Schweiz leben, begleiten live den Stummfilm Im Frühling von Michail Kaufman. Eine filmische Zeitreise ins Kiew des Jahres 1929 – und eine Hommage an die ukrainische Hauptstadt.
Pamela Hutchinson
Auch wenn Sie noch nie in Kiew waren, kennen Sie viele Strassen der Stadt. Die Nachrichten sind voll mit Bildern aus Kiew. Von der zerstörten Infrastruktur und von den unverwüstlichen Gesichtern der Ukrainer:innen, die bereit sind, ihre Welt zu verteidigen und wieder aufzubauen. Es ist unmöglich, sich diesen Szenen zu entziehen – Familien, die auseinandergerissen wurden, Menschen, die ihr Leben verloren haben, und ein Stadtzentrum, das sich in einen Kriegsschauplatz verwandelt hat.
1929 löste ein Film, der in denselben Strassen gedreht worden war und zeigte, wie sich die Menschen der Stadt für einen Neuanfang versammeln, beim Publikum in Kiew ungeahnte Glücksgefühle aus. Im Frühling wurde von Michail Kaufman gedreht – Sie kennen ihn wohl am ehesten als den Protagonisten im legendären Stummfilm Der Mann mit der Kamera (1929), bei dem sein Bruder Dziga Vertov (alias Denis Kaufman) Regie führte. Michail Kaufman war nicht nur ein begabter Kameramann, er war auch ein Draufgänger, der sich auf Eisenbahnschienen legte oder auf einem fahrenden Zug balancierte, um eine Aufnahme zu machen. Denis und Michail wurden in Białystok geboren, damals Russland, zogen aber Mitte der 1920er-Jahre in die Ukraine. Es gab noch einen dritten filmschaffenden Bruder: Boris Kaufman, der Kameramann von Filmen wie L'Atalante (Jean Vigo, 1934) und On the Waterfront (Elia Kazan, 1954).
Im Frühling ist eine Stadtsymphonie, in gewisser Weise wie Der Mann mit der Kamera, aber während dieser Film in vier Städten (Kiew, Odessa, Charkiw und Moskau) gedreht wurde und seine Kameraeffekte und Schnitte in den Vordergrund stellt, ist Im Frühling Kiew gewidmet. Die Kaufmans hatten während der Dreharbeiten zu Der Mann mit der Kamera einige Meinungsverschiedenheiten, und einige der Aufnahmen, die Michail gegen den Willen seines Bruders machte, landeten in Im Frühling.
Diesen Film zu sehen, war für mich das bewegendste Kinoerlebnis des letzten Jahres. Wie könnte es anders sein? Der Film dokumentiert, wie Kiew aus dem Winter in die Wärme kommt – es ist kein reibungsloser Übergang, sondern bedarf der menschlichen Anstrengung. Zuerst schmilzt der Schnee und überflutet die Stadt, dann kämpfen die Menschen darum, das Wasser einzudämmen und ihre Strassen zurückzuerobern. Das Wasser fliesst ab, die Fenster werden geöffnet, und bald spielen Kleinkinder mit Mützen in den Parks. Es gibt Fahrradrennen, nistende Vögel und eine Kirchenprozession, die sich über die sowjetischen Protokolle hinwegsetzt. Die Bilder werden immer lebensfroher.
Kaufmans Kameraeffekte, extreme Nahaufnahmen, Überlagerungen, Stop-Motion und hohe Blickwinkel verfremden die Freuden der Jahreszeit, um unsere Sinne mit dem Wunder des zurückkehrenden Lebens und der Erhabenheit der Stadtarchitektur zu erfüllen. Bei seiner Uraufführung betörte Im Frühling das Publikum und löste eine noch nie da gewesene Freude aus. «Wenn ich ein Dichter wäre», sagte Mykhailo Makotynskyi, der Präsident der Allukrainischen Fotokino-Verwaltung, «hätte ich einen Text für diesen Film geschrieben... Ich habe Hunderttausende von Filmmetern gesehen, aber ich habe nie etwas Ähnliches empfunden.» Der ukrainische Dichter Mykola Voronyi lobte Kaufmans Lyrik, die über «blosse Intelligenz» hinausgehe. «Wenn man diesen Film sieht, fühlt man Freude und Jugendlichkeit, man liebt das Land und möchte in diesem Land leben.»
Jetzt, Monate nach dem Einmarsch der Russen, weckt Im Frühling Gefühle, die wohl noch komplexer sind und sich einer Kategorisierung entziehen. Ich hatte das Privileg, ihn auf dem Tromsø Stumfilmdager zu sehen, einem Stummfilmfestival in Norwegen nördlich des Polarkreises. Draussen fiel Schnee, eine untypische Verlängerung des Winterklimas in den April hinein, genau wie der zweite Frost, den Kaufman 93 Jahre zuvor in Kiew eingefangen hatte.
Der Film wurde einfühlsam von zwei ukrainischen Musiker:innen begleitet, Roksana Smirnova am Klavier und Misha Kalinin an der E-Gitarre. Während die Klavierlinien geschickt der Musikalität des Films selbst, den Rhythmen der Natur und den Bewegungen der Kiewer Bevölkerung folgten, brachte Kalinins Gitarre eine breite Palette von Klängen und Texturen in diesen Moment des Wandels. Musik und Bild passten perfekt zusammen; das Duo hat eindeutig eine Vorliebe für das Stummfilmkino und diesen Film im Besonderen.