Im Oktober starten wir Ulrich Seidls neuen Film Rimini. Das ist uns Anlass für einen Streifzug durch das aktuelle österreichische Kino, das mit seinen düsteren Grenzgängen und paradoxen Interventionen fasziniert und irritiert. Wir zeigen 13 Filme, darunter die neuen Werke von Ruth Beckermann und Nikolaus Geyrhalter. Als Gäste werden Constantin Wulff am 16. Oktober und Sandra Wollner am 19. Oktober im REX sein, mit Ruth Beckermann findet am 23. Oktober ein Gespräch via Zoom statt.
Stefan Grissemann
Es liesse sich mit einigem Recht behaupten, das österreichische Gegenwartskino bewege sich in jenem weiten Feld, das von Offenheit, Licht und Hitze einerseits sowie den rigiden Fesseln der filmischen Form andererseits abgesteckt wird, also irgendwo zwischen freiem Himmel und strenger Kammer – oder, um die Titel zweier kürzlicher Festivalerfolge zu bemühen, zwischen Sonne (Kurdwin Ayubs Teenager-Dramedy) und Corsage (Marie Kreutzers Fantasie über das Leben der mythischen Kaiserin Sisi). Die hohe Reibungsenergie, die insbesondere in der Auseinandersetzung mit tabuisierten oder (zu) lange verdrängten Sujets frei wird, sorgt für Sicht- und Unmittelbarkeit, die Sehnsucht nach präzisen Gestaltungsvorgaben für künstlerische Satisfaktionsfähigkeit.
Das Streben nach kultureller Hochleistung ist Teil der österreichischen Psyche: Es ist, als wollte man über eine ins Globale ausstrahlende Kunst die politische Unerheblichkeit einer in Territorialanspruch und Bevölkerungszahl geringfügigen Republik exorzieren, sich seiner selbst vergewissern. Österreich ist (seit 1918) klein, aber es hat Schönberg, Webern und Loos, Ingeborg Bachmann, Doderer, Bernhard, Handke und Jelinek, Günter Brus, Hermann Nitsch und Maria Lassnig hervorgebracht – und eben auch Billy Wilder, Fritz Lang, Valie Export, Kurt Kren, Peter Kubelka, Michael Haneke, Jessica Hausner, Ulrich Seidl. Und in und über allem: Sigmund Freud, siehe Tabu und Psyche.
Der Versuch, an die Grenzen (der Wahrnehmung, der Moral, des Zumutbaren, des guten Geschmacks) zu gehen, ist in Österreichs Filmszene alles andere als unerhört. Er gehört, im Gegenteil, fast schon zu den üblichen Massnahmen. Die Arbeiten des Unruhestifters Ulrich Seidl etwa, der mit Rimini den ersten Teil einer Doppelerzählung eines ungleichen Brüderpaars vorlegt, veranschaulichen geradezu paradigmatisch das Bemühen, in die Schmerzzonen des Allzumenschlichen vorzudringen. (Seidls ungleich dunklerer zweiter Film, Sparta, wird im Wettbewerb des Filmfestivals in San Sebastián Premiere haben – eine schmerzliche Charakterstudie zum Thema Pädophilie, dem sich auf ganz andere Weise auch Ruth Beckermanns Sexualitätsermittlung Mutzenbacher sowie Sandra Wollners Androidenrätsel The Trouble with Being Born nähern.) Rimini schildert die Odyssee eines heruntergekommenen Schlagersängers, der an der winterlichen Adria seinen alternden Fans auch für bezahlte Liebesdienste zur Verfügung steht; die dem Film und seinem Protagonisten drohende Depression wird von der Tour de force des Schauspielers und Seidl-Routiniers Michael Thomas abgefangen. Als Crooner und Überlebenskünstler trotzt er allen Widrigkeiten, auch dem Wiederauftauchen seiner wütenden Tochter, die finanzielle Kompensation für die Jahre der Vernachlässigung fordert. Der drastische Humor ist bei Seidl stets die andere Seite der Tristesse-Medaille.
Nicht nur bei ihm: Lisa Webers Jetzt oder morgen ist, als ungeschöntes, wiewohl höchst empathisches Dokument des Lebensstillstands einer Familie von Arbeitslosen konzipiert, von einer bodenständigen Komik durchzogen, die das beschriebene Elend in Schach zu halten weiss. Und die Aufzeichnungen aus der Unterwelt, die das Regie-Duo Tizza Covi und Rainer Frimmel versammelt, sind eigentlich niederschmetternd: Zeugnisse der Gewalt und der Perspektivlosigkeit der Wiener Kleinkriminellenszene der 1960er- und 1970er-Jahre, zu einer subtil reduzierten Oral History geformt, um die untergehende Kultur der charismatischen Gauner und Wienerliedersänger fürs Kino zu bewahren. Aber auch hier bilden die Ausprägungen eines spezifisch wienerischen Witzes und, genau wie in Rimini, eine Reihe klingender Utopien die nötigen Fluchtpunkte: Die wilden Erzählungen der auskunftsfreudigen alten Unterweltler sind sanft in eine Kultur der weltfernen Heurigenlieder gebettet.
Der Begriff «eigentlich» ist übrigens so typisch österreichisch, dass dessen Einsatz ausserhalb der Austro-Landesgrenzen beinahe verwundert. Die strategische Unschärfe, die das Wort eröffnet, kontrastiert die Prägnanz der gewählten Themen und Darstellungsweisen: Die Bewegungsfreiräume und Ambivalenzen des österreichischen Films gehen auch auf den Unwillen zurück, sich auf Genre-Gesetze, sittliche Normen oder pädagogische Pflichten festnageln zu lassen. Lieber lässt man dem Spiel der Paradoxien freien Lauf und zelebriert – nur zum Beispiel – die Selbstbestimmung der Inhaftierten (Grosse Freiheit), die Solidarität im Dysfunktionalen (Jetzt oder morgen), das Menschliche der Maschinen (The Trouble with Being Born), den Modernismus des Historischen (Hinterland, Mutzenbacher) oder die Fotogenität der Verschmutzung (Matter Out of Place). Der Schein trügt – und der Trug strahlt absichtsvoll durch die Bilder: Die Wiener Cartoonistin und Performancekünstlerin Stefanie Sargnagel spielt sich in Sargnagel - Der Film selbst und zugleich nur eine arglistige Variante ihrer selbst, in einer niederschwelligen, zwischen Kulturbetriebssatire, Schrulligkeit und Loser-Chic changierenden mockumentary, die von den scheiternden Bemühungen handelt, ein Doku-fiktionales Sargnagel-Porträt zu drehen.
Wenn im österreichischen Film Ökologisches verhandelt wird, führt die Reise oft direkt ins Apokalyptische, siehe Nikolaus Geyrhalters Müllentsorgungs-Doku Matter Out of Place oder auch Peter Brunners mystisches Berg- und Wahn-Drama Luzifer. Geyrhalter folgt den – teils bizarren – Wegen des Mülls, den Versuchen, ihn zu verscharren, zu schreddern und einzuäschern. Matter out of Place ist eine kontemplative Arbeit, ein Akt des geduldigen Hinsehens. Gedreht wurde der Film unter anderem in Albanien, Nepal, Griechenland und im Rahmen des Burning-Man-Festivals in der Black Rock Desert von Nevada. Das Nachhaltigkeits-Ethos der Veranstalter jenes Wüsten-Clubbings ist vorbildlich (und sorgt für ein gewissermassen antithetisches Filmfinale): Keine Spur von Müll darf hier hinterlassen werden, nach dem Ende der Veranstaltung wird die Landschaft Millimeter für Millimeter auf die letzten, winzig kleinen Hinterlassenschaften hin durchsucht.
Auch in Luzifer wird die von Kapital und Tourismus bedrohte Natur zum Schauplatz eines bösen Spektakels. Ein kindlicher junger Mann (Franz Rogowski in einem fast stummen Part) lebt mit seiner tiefgläubigen Mutter (der frappierenden Laiendarstellerin Susanne Jensen) in einer einsamen Baracke in den Alpen – sie findet sich, nomen est omen, am (real existierenden) Zillertaler Höllenstein. Der Einbruch der Postmoderne in das archaische, sich selbst genügende Biotop dieses Paars führt zur Eskalation, in eine religiöse Psychose, einen Exorzismus. Das Teuflische und Morbide sind im Austro-Kino allgegenwärtig: Im Serienmörder-Thriller Hinterland wird Wien anno 1920 zum elektronischen Fiebertraum. Der Krieg hat ein Loch in die Welt gerissen, die nachtfarbenen Bilder zeugen von Depression und Beklemmung. Regisseur Stefan Ruzowitzky wagt sich, anderthalb Jahrzehnte nach seinem Oscar-Siegerfilm Die Fälscher, erneut an ein historisches Sujet, allerdings im strengen Rahmen eines Horrorthrillers. Und er bedient sich dabei einer fast grafischen Plakativität: Seinen Protagonisten, einen traumatisierten Heimkehrer aus russischer Gefangenschaft, stilisiert Ruzowitzky zum Dunkelmann, als wärs eine Graphic Novel. Der Welt vor 100 Jahren ist mit Naturalismus nicht beizukommen: Im digitalen Historientheater von Hinterland sind die Kulissen expressionistisch verkippt, die Bilder aus dem Lot. Die Zeit, von der Ruzowitzky berichtet, ist radikal destabilisiert und damit seltsam «aktuell»: Die Apokalypse von einst ist nur der Vorschein der kommenden.
Österreichs dokumentarischer Film changiert zwischen bildgewaltiger Poetisierung (etwa in Geyrhalters Kinoweltreisen) und dem kühleren, auch lokaleren Direct Cinema, an dem beispielsweise Constantin Wulff arbeitet: Für die Vielen, seine an Fred Wisemans berühmten Institutionenporträts geschulte Nahaufnahme der täglichen Abläufe an der Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte, wurde während des Drehs von der Pandemie überrascht – und damit ungeplant zur Langzeitbeobachtung eines jäh in die Krise gestürzten Interessenvertretungsbetriebs. Mit Ausbruch der Viruskrise gewinnt der Film neue Intensität; die Büroräume und Korridore der Arbeiterkammer, in der sich die Hilfe und Beratung suchenden Menschen davor stets drängten, liegen plötzlich vereinsamt und verlassen da – das Leben stellt sich hier, nach einer Phase der Ratlosigkeit, erst zögernd wieder ein. Die ungewöhnliche Methode, die Ruth Beckermann in Mutzenbacher benutzt, markiert das Gegenteil des diskreten dokumentarischen Zugriffs Wulffs. Sie konfrontiert eine Reihe freiwilliger Selbstdarsteller, gefunden per Casting-Aufruf, mit Textstellen aus dem 1906 anonym publizierten Pornoklassiker «Josefine Mutzenbacher» – und befragt die Männer nach deren (bisweilen bizarren) Sexualitätsvorstellungen. Die traditionellen Machtverhältnisse sind invertiert: Die Regisseurin gibt die Regeln vor und kontrolliert die Inszenierung, die Akteure haben ihr zu folgen, sich zu exponieren.
Es sei an der Zeit, dass sich Frauen Männer genauer anschauen, hat Beckermann in einem Gespräch unlängst behauptet. Der offene, faszinierte Blick der Filmemacherin fällt auf die sehr unterschiedlich auf die Zumutung eines obszönen Texts reagierenden Literaturamateure. Das lange verbotene Buch ist eine Abfolge pornografischer Szenen um Inzest, Blasphemie, vor allem aber um sexualisierte Gewalt gegen Kinder unter dem Mantel von frühkindlicher Lust und konsensualer gegenseitiger Befriedigung. «Josefine Mutzenbacher» schillert zwischen Voyeurismus und Anarchie, (Ekel-)Erregung, Genuss und Angst. Die Versuchsanordnung des Mutzenbacher-Films ist therapeutisch, sogar ansatzweise psychoanalytisch: Text und Nachfragen triggern Unbewusstes und Verdrängtes. Die im Off sitzende Zeremonienmeisterin bietet sich als Projektionsfläche an. Mutzenbacher ist ein Film über Sprache, auch die Körpersprache, ein Lustspiel der Männlichkeit, ein Spaziergang auf dem dünnen Eis des Puritanismus. Die Fiktion von Gedanken- und Rollenspielen perforiert die dokumentarische Oberfläche, das Geträumte dringt durch die Ritzen des Realen.
«Wie einen Traum», der möglicherweise gar nicht enträtselbar sei, hat auch Sandra Wollner ihr Science-Fiction-Philosophicum «The Trouble with Being Born» angelegt. Es kreist um Künstliche Intelligenz und Cyberpädophilie. Die Protagonistin dieser dystopischen Parabel ist eine im Labor «geborene» Figur: Ein Androide, der aussieht wie ein zehnjähriges Mädchen, lebt und schläft mit einem Mann, der sich sein Vater nennt. Die erste Irritation dieser Geschichte birgt die schwer lösbare Frage, ob die täuschend echte Menschmaschine bloss als Tochterersatz oder doch als Sexroboter gebraucht wird. Wollners gespenstische Atmosphärenmalerei meidet herkömmliche Science-Fiction-Manöver, mischt Lyrisches und Klinisches, stellt ethische und ästhetische Grauzonen zur Debatte. «Mich interessiert eine Art von Kino, in dem ich mich verlieren kann», sagt die Regisseurin: ein Kino, in dem sich «dunkle Echos und Leerstellen öffnen».
Die Leerstellen einer Geschichte der Intoleranz nimmt sich Regisseur und Autor Sebastian Meise mit Grosse Freiheit vor; die sozialen und psychischen Schäden, die eine gesetzlich festgeschriebene Homophobie verursacht, sind ein nur vermeintlich historisches Problem, das angesichts der massiv diskriminierenden Legislatur etwa in Ungarn und Polen leider sehr gegenwärtig erscheint. Ein stiller, unergründlich wirkender Mann namens Hans hat in Grosse Freiheit in den Jahrzehnten nach 1945 eine Haftstrafe nach der anderen abzusitzen, weil er darauf besteht, einvernehmliche, aber eben illegale gleichgeschlechtliche Beziehungen zu unterhalten. Franz Rogowski ist gerade wegen seines introvertierten Schauspiels ein perfekter Hauptdarsteller, die kantigere Rolle aber hat der (aus Ulrich Seidls Filmen bekannte) Georg Friedrich als wegen Mordes lebenslänglich einsitzender Junkie, der – anfangs hasserfüllt – mit Hans eine Art Bund schliesst. Eine unwahrscheinliche Romanze nimmt Gestalt an. Gefängnisfilme sind ein faszinierendes, dementsprechend vielbenutztes Subgenre der Kinogeschichte, denn die condition humaine wird in den Zellen, Korridoren und Höfen von Strafanstalten plastischer als anderswo. Meise nutzt seine räumlichen Beschränkungen, inszeniert ein Spiel der kleinen Revolten und des verborgenen Ungehorsams. Der Sonne entgegen, in Fesseln.
Stefan Grissemann leitet seit 2002 das Kulturressort des österreichischen Nachrichtenmagazins «profil». Er unterrichtet Filmgeschichte an der Wiener Filmakademie. Unter den Büchern, die er veröffentlicht hat, finden sich Publikationen zu Robert Frank, Peter Kubelka, Ruth Beckermann, Michael Haneke und Elfriede Jelinek. 2007 verfasste Grissemann eine Studie zur Arbeit des Regisseurs Ulrich Seidl, vier Jahre davor die erste Biografie des B-Picture-Stilisten Edgar G. Ulmer («Mann im Schatten»). Seine Texte zum Gegenwartskino erschienen u.a. in der FAZ, der Berliner «tageszeitung» und im New Yorker «Film Comment».
Mit Unterstützung des Österreichischen Kulturforums Bern
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