Angst und Begierde: Erkundungen im Vampirkino
10.11. – 20.12.2022
Das Kino pflegt seit jeher eine innige Verbindung mit dem Vampirmythos. Im November und Dezember erkunden wir die historischen Entwicklungen und die Diversität dieser Spielart des Horrorkinos und zeigen 13 Filme aus 100 Jahren, von Murnaus Nosferatu (1921) bis zu Julian Radlmaiers Blutsauger (2021). Anlass dazu gibt uns die Premiere von «Carmilla oder das Zeitalter der Vampire» im Stadttheater Bern.
Lukas Foerster
Im Jahr 1895 findet im Pariser Grand Café am Boulevard des Capucines die weltweit erste kommerzielle Kinovorführung statt; im Jahr 1897 erscheint beim Londoner Verlag Archibald Constable and Company die Erstauflage von Bram Stokers Vampirroman «Dracula», einem der bis heute einflussreichsten Beiträge zum Genre der phantastischen Literatur überhaupt. In einem gewissen Sinne sind das Kino und die moderne Fassung des Vampirmythos also beinahe gleich alt – eine vermeintliche kulturhistorische Zufälligkeit, die Francis Ford Coppola in Bram Stoker’s Dracula (1992) aufgreift: Das erste Mal pirscht sich der Vampir in seiner Version von Dracula an sein prospektives Opfer Mina während einer jener frühen Filmvorführungen heran, die um die vorletzte Jahrhundertwende die Massen begeisterten.
In Coppolas rauschhaft opulent inszenierter Horroroper wird das Vampirkino selbst vampirisch: eine untote Bildmaschine, die sich gierig die Populärkultur eines ganzen Jahrhunderts einverleibt und zu immer neuen verführerischen Triebbildern umformt. Der 1992er Dracula kann in der Tat als eine Art Zwischenfazit nach knapp 100 Jahren Film- und fast ebenso vielen Jahren Vampirfilmgeschichte betrachtet werden. Das Kino hat seine eigenen Formen längst erfolgreich in die Gesellschaft hinein vermittelt und darf bei seinem Publikum nicht nur ein fast schon enzyklopädisches Wissen um die klassischen Elemente des Vampirkinos – von den bedrohlich in den Himmel ragenden Gothic-Schlössern über die klassischen Bissmale an vornehmlich weiblichen Hälsen bis zur der ruralen Folklore entstammenden Knoblauch-Phobie der Untoten – voraussetzen; es rechnet auch mit unserem Wissen um die tieferliegenden Bedeutungsebenen des Vampirfilmspektakels, insbesondere hinsichtlich seiner sexualmetaphorischen Aufladung: Die Bedrohung, die von Vampiren ausgeht, ist immer schon intimer, persönlicher als die durch andere Kinomonster, im Biss, der unserem Innersten, dem Blut gilt, vereinigen sich Lust und Schmerz bis zur Ununterscheidbarkeit.
Das Vampirkino auf Dracula zu verkürzen, wäre freilich auch wieder verkehrt. Zwar haben sich die zahlreichen Stoker-Verfilmungen, begonnen mit Friedrich Wilhelm Murnaus inoffizieller Stummfilmadaption Nosferatu (1921), immer wieder als entscheidende Stichwortgeber nicht nur für den Vampirfilm, sondern für das fantastische Kino insgesamt erwiesen; aber der Vampirmythos selbst ist natürlich älter und vielseitiger als dieser eine Roman. Besonders stark verwurzelt ist er im Südosten Europas, viele seiner Elemente lassen sich jedoch in der Folklore und der Erzähltradition zahlreicher über die gesamte Welt verteilter Kulturen nachweisen – und selbst im engeren Rahmen der für das europäische und amerikanische Horrorkino so zentralen englischsprachigen Schauerliteratur des 19. Jahrhunderts finden sich alternative Vampirfiguren, die das Genre nachhaltig geprägt haben.
Zum Beispiel Carmilla, die Heldin der gleichnamigen Novelle des Irischen Autors Sheridan Le Fanu. Gut zweieinhalb Jahrzehnte vor Dracula erschienen, dient die Erzählung um eine verführerische Vampirin, die es vor allem auf ihre Geschlechtsgenossinnen abgesehen hat, bereits 1932 Carl Theodor Dreyer als lose Vorlage für dessen traumwandlerisch entschleunigten Vampyr – zweifellos eine der künstlerischen Sternstunden des Vampirfilms, nicht zuletzt, weil der dänische Regisseur, so konsequent wie kaum einer seiner Nachfolger, das Vampirische als ein Gegenmodell zum Alltagsrealismus begreift: Weite Teile des Films sind durch halbtransparenten Stoff hindurch gefilmt, die resultierenden Bilder entziehen sich unserem Blick, scheinen nach einer Wahrnehmungsform zu verlangen, der wir sterbliche Menschen noch nicht ganz fähig sind.
In den 1970er-Jahren wiederum wird Carmilla zur Ahnherrin eines eigenen Subgenres: Filme wie Harry Kümels Daughters of Darkness (1971) oder Roy Ward Bakers The Vampire Lovers (1970) sowie dessen Sequels lösen eine Welle lesbischer Vampirfilme aus, die im Laufe des Jahrzehnts teilweise in die in zahlreichen europäischen Kinematografien grassierende Sexwelle übergeht. Tatsächlich lässt sich kaum bestreiten, dass das lesbische Begehren in den Carmilla-Adaptionen der 1970er zumindest in erster Linie als Attraktion für den männlichen Blick aufbereitet wird. Dennoch sollte man Daughters of Darkness & Co nicht als blosse voyeuristische Tits-and-Ass-Paraden abhaken. Denn die Hinwendung zur lesbischen Vampirin stellt nicht nur eine Reaktion des Genres auf die neue sexuelle Freizügigkeit der Ära dar, sondern setzt auch eine inhaltliche Verschiebung in der Vampirmotivik ins Bild. In den älteren Vampirfilmen wird die im Vampir verkörperte unheimliche Sexualität oft mit zumindest implizit rassistischen Dynamiken verknüpft: Was in den Filmen gleichzeitig begehrt und abgewehrt wird, das ist der Mann aus der Fremde. Durchaus erst einmal ganz platt: der virile, attraktive Ausländer, der uns unsere Frauen wegnimmt.
Natürlich hat der klassische transsylvanische Vampir noch andere Facetten – insbesondere das Aristokratische, dezidiert nicht Zeitgemässe an ihm geht in der Abwehr des ethnisch Anderen nicht auf. Bela Lugosi entwirft im ikonischen Original-1931er-Dracula die Titelfigur als einen wandelnden Anachronismus, gewissermassen als ein verspätetes Stummfilmmonster, das den frühen Tonfilm heimsucht. In jedem Fall jedoch verhandeln die Vampirfilme der Stoker-Tradition immer auch Fragen der kulturellen Differenz – das gilt selbst noch für postmoderne Varianten wie Tony Scotts The Hunger (1983), in dem Catherine Deneuve und David Bowie als dekadentes Vampir-Traumpaar aus der alteuropäischen Vergangenheit das spiegelglatte New York der 1980er-Jahre heimsuchen.
In den Carmilla-Filmen hingegen rückt der Sex selbst ins Zentrum. Der Vampirismus verweist nicht mehr abstrakt auf ein verbotenes Begehren, sondern konkret auf homosexuelles Verlangen. Der wahre Skandal des Vampirismus scheint insbesondere in den Filmen der 1970er allerdings weniger im zumeist zärtlich und sinnlich in Szene gesetzten lesbischen Sex selbst zu bestehen als darin, dass er eine Welt hervorzubringen droht, in der Männer und ihre Regeln gar nicht mehr gebraucht werden. Es fällt nicht schwer, die Filme umgekehrt und entgegen ihrer zumeist eher konservativen narrativen Auflösung als Utopien zu lesen: Vampirismus als eine Angelegenheit zwischen consenting adults, in die sich die Van Helsings dieser Welt nicht länger einzumischen haben.
In den 1980er-Jahren werden die Vampire zwar wieder männlicher und rabiater, aber gleichzeitig moderner. Genreexperimente wie Kathryn Bigelows Untoten-Neo-Western Near Dark (1987) zeigen nachdrücklich, dass das Vampirkino dabei ist, sich aus seinem eng gewordenen Gothic-Korsett zu lösen. Womit wir wieder bei Coppola wären, der 1992 noch einmal die gesamte klassische Vampirfilmgeschichte mobilisiert und in einem nicht zu bändigenden Bilderbogen heisslaufen lässt. Freilich: Dracula 1992 ist zwar ein Dreh- und Angel-, aber keineswegs der Endpunkt der Vampirfilmgeschichte. Was mit diesem neobarocken Grossentwurf an sein Ende gelangt, ist lediglich die klassische, dem 19. Jahrhundert entstammende schauerromantische Ikonografie des Bram-Stoker-Nosferatu mitsamt dem feudalen Ballast, den diese Figur im 20. Jahrhundert noch mit sich herumschleppte.
Die Vampire, die seither das Kino heimsuchen, wohnen nur noch äusserst selten in transsylvanischen Schlössern. Sie sind sozusagen heimatlos geworden und gleichzeitig allgegenwärtig. Als Universalmetapher können sie in alle möglichen Kontexte eingesetzt werden. Mal schleichen sie sich, in Tomas Alfredsons modernem Klassiker Let the Right One In (2008) in ein skandinavisches Jugendzimmer ein, um ein heteronormatives Coming of Age mit sanfter Insistenz aus dem Gleichgewicht zu bringen. Mal hängen sie, in Jim Jarmuschs lässiger Stilübung Only Lovers Left Alive (2013), im postindustriellen Detroit ab und sehnen sich in die goldene Ära der subversiven Gegenkultur zurück. Damals, als das Blut noch in Strömen floss.
Vor allem jedoch ist das Vampirkino der Gegenwart ein Weltkino. Die entscheidenden Impulse erhält das Genre spätestens seit der Jahrtausendwende überwiegend aus Kinematographien, die historisch eher wenig mit Dracula und Konsorten zu tun haben. Der koreanische Kultregisseur Park Chan-wook etwa dreht mit Thirst (2009) einen der romantischsten Vampirfilme überhaupt. Wo die Vampire der westlichen Tradition sich zumeist noch im Blutrausch als Melancholiker erweisen, die ihrer untoten Existenz klammheimlich schon seit Jahrhunderten müde geworden sind, gehen in Parks Vampirismus-Vision unbändige Lebenslust und Todestrieb unmittelbar ineinander über. Was es bedeutet, einen anderen Menschen austrinken zu wollen: Dieser Frage hatte sich vor Thirst kaum ein Vampirfilm wirklich gestellt.
Noch deutlich weiter von der Tradition entfernt sich der kamerunische Les Saignantes (2005): In Jean-Pierre Bekolos nicht nur zwischen Horror, Science Fiction und Politthriller, sondern auch zwischen Spielfilm, Performance-Piece und Musikvideo changierendem Ausnahmewerk versuchen zwei junge Frauen, die Leiche eines einflussreichen Politikers loszuwerden, der beim Sex mit einer der beiden gestorben ist. Tatsächliche Blutsauger:innen tauchen im Film gar nicht mehr auf – Bekolo interessiert sich für den Vampirismus nicht als ein popkulturelles Phänomen, sondern als ein verallgemeinertes Modell sozialen Handelns, als Bild für eine Welt, in der nur überlebt, wer es versteht, sich die Lebenssäfte seiner Mitmenschen anzueignen.
An einer nicht ganz unähnlichen Neufassung des Vampirmythos versucht sich auch Blutsauger (2021). Julian Radlmaiers Film nimmt seinen Ausgangspunkt statt bei Stokers Dracula bei einem anderen literarischen Klassiker des 19. Jahrhunderts: Karl Marx’ Das Kapital. Dort schleichen sich in die Abhandlungen zur politischen Ökonomie immer wieder Formulierungen aus dem Repertoire der Schauerromantik ein, die Radlmaier in eine hochgradig reflexive Meta-Polit-Vampirkomödie rückübersetzt. In den Blick gerät dabei eine politische Valenz der Vampirfigur, die tatsächlich schon in deren klassischen Fassung angelegt ist: Betrachtet man den Grafen Dracula nicht aus der Perspektive erotisch ausgehungerter Londoner Society-Ladies, sondern aus der der transsylvanischen Bauern, die um sein Schloss herum leben, so entpuppt er sich schnell als ein schnöder Ausbeuter unter vielen.