Das Filmfestival Locarno feiert dieses Jahr seinen 70. Geburtstag. Wir gratulieren mit einer kleinen Jubiläums-Reihe und zeigen sieben Gewinnerfilme aus 70 Festivaljahren, ausgewählt von Carlo Chatrian, dem künstlerischen Direktor des Festivals. In seinem Text blickt er zurück auf eine bemerkenswert bewegte Festivalgeschichte.
Vom 22. August 1946 bis zum 13. August 2016. Von And Then There Were None von René Clair, an der damaligen Erstausgabe von den anwesenden Journalisten preisgekürt, bis zu Godless von Ralitza Petrova: Das Festival del film Locarno hat 70 Jahre lang das Kino durch die Geschichte begleitet, wusste mit der Zeit zu gehen, war ihr manchmal sogar einen Schritt voraus. Nicht immer waren die Gewinner tatsächlich die Besten ihres Jahrgangs – doch die Zeit bringt manches wieder ins Lot. Immer wieder hatten die Jurys den richtigen Riecher und zeichneten herausragende Filme aus, die es sich lohnt wieder anzuschauen, auch wenn sie inzwischen allseits bekannt sind.
Deshalb haben wir beschlossen, sieben goldene Leoparden auszuwählen, die für die Geschichte des Festivals und des Kinos eine symbolische Bedeutung haben, die mehr durch ihre Sprache denn durch ihren Inhalt bestechen, die eine Realität nicht nur filmen, sondern sie formen, die genügend Kraft besitzen, um die Gegenwart zu überfliegen. Es sind vielleicht nicht die besten sieben Filme der ganzen Festivalgeschichte – die persönlichen Geschmäcker gehen bekanntlich auseinander –, aber sie sind bezeichnend für die jeweilige Epoche und zeigen, dass das Festival immer auch eine Entdeckungsreise ist: Der italienische Neorealismus von Rossellini, das Genie eines Kubrick und seines Film noir, das junge Schweizer Kino von Tanner, die Entdeckung von Zanussi, der zu den grossen Regisseuren der neuen Welle im Osten zählt, oder jene des einmaligen südkoreanischen Films Warum Bodhi Dharma in den Orient aufbrach, der in Cannes gezeigt aber nicht beachtet worden war und nach dem Preis von Locarno durchstartete, sowie abschliessend zwei Werke jenes Kinos, das von der Realität ausgeht und sie aus moralischer und ethischer Sicht beleuchtet: Ayneh des Iraners Jafar Panahi und Private des Italieners Saverio Costanzo.
Carlo Chatrian
Neue Perspektiven
Der deutsche Filmhistoriker Ulrich Gregor war 1973 in der internationalen Jury, die 1973 Krzysztof Zanussis Iluminacja mit dem Goldenen Leoparden auszeichnete. Er erinnerte sich an das Festival und begründet den Entscheid der Jury.
1973 besuchte ich zum ersten Mal das Festival von Locarno. Ich war damals, nach dem Start des Internationalen Forums der Berlinale 1971, eigentlich gegen Preise auf Festivals eingestellt. Aber Moritz de Hadeln lockte mich in die Jury nach Locarno mit dem Argument, unser Freund Istvan Szabo wäre gleichfalls in der Jury. So kam es dann auch. Tatsächlich verlebten wir in Locarno im Schlosshotel, wo die Jury untergebracht war, eine wunderbare Zeit, sahen interessante Filme und diskutierten diese an den Steintischen des Hotels. (Dem Schlosshotel sind wir bis heute treu geblieben.) In der Jury war ich zusammen mit Istvan Szabo, Thorold Dickinson, Daniel Schmid und Nabil Maleh. Den Goldenen Leopard vergaben wir einstimmig an Krzysztof Zanussis Iluminacja.
Zanussi hatten wir schon früher kennengelernt als einen lebendigen Vertreter der polnischen Kinematographie und, was mir besonders wichtig erschien, als einen Filmemacher, der nicht verankert war im sozialistischen Realismus, sondern sich freiheitlich zwischen den Horizonten des europäischen Kinos bewegte; als einen Filmemacher, der nach neuen Wegen des filmischen Erzählens und der filmischen Struktur suchte. Und Iluminacja schlug ein wie ein Blitz: dies war ein Film, der damals völlig neue Perspektiven im Kino der sozialistischen Länder eröffnete.
Iluminacja ist ein Film neuartiger Formen und kühner Fragestellungen. Er beschreibt Stationen auf dem Lebensweg eines Studenten der Physik auf der Suche nach der absoluten Wahrheit und dem Sinn des Lebens. Der Film postuliert das Prinzip des Zweifels, erst die Erkenntnis seiner existentiellen Begrenzungen vermag in der Sicht Zanussis zu einer Neudefinition des Menschen zu führen. Der Film gleicht mehr einem Essay als einem erzählenden Spielfilm. Gedanken und Assoziationen entfalten sich im Kontrapunkt von Bild, Ton, Dialog und Musik, in manchmal atemberaubenden Montagen. Auf seine Weise hat Zanussi in Iluminacja die Maximen von Eisensteins «Intellektueller Kinematographie» verwirklicht.
Diese herausragenden Eigenschafen bestimmten unsere Jury, den Film mit dem Hauptpreis des Festivals von 1973 auszuzeichnen.
Ulrich Gregor
Ulrich Gregor (*1932) ist Filmhistoriker und zusammen mit Enno Patalas Autor des Standardwerks «Geschichte des Films». Von 1980 bis 2000 leitete er das Internationale Forum des Jungen Films der Berlinale.