
Retrospektive Sidney Poitier
22.12.2022 – 01.02.2023
Eine unwahrscheinliche, eine historische Karriere: Sidney Poitier (1927–2022) wurde in Hollywood ein Star zu einer Zeit, in der die amerikanische Bürgerrechtsbewegung zwar Fahrt aufnahm, das Filmgeschäft aber weiterhin vor allem eine Sache der Weissen war. Als die Bewegung sich zu radikalisieren begann, geriet er in die Kritik, weil er die Idee liberaler Weisser von einen versöhnten Land zu verkörpern schien. Heute ist er Schwarzen Filmschaffenden dennoch Vorbild und Idol.
Verena Lueken
Er sagte nicht mit weit aufgerissenen Augen «Yes, Master», während er Drinks servierte. Er fing nicht unvermittelt an zu tanzen oder zu singen, und er stolperte auch nicht unversehens über den Teppich und liess das Tablett fallen. Er spielte überhaupt nie den Dienstboten, und als einmal einer, den er hätte «Master» nennen sollen, ihm eine Ohrfeige verpasste, schlug er zurück. Ein Schwarzer Diener mit den Drinks stand daneben, aber auch der liess das Tablett nicht fallen, sondern suchte schnellstens das Weite. Es war eine Ohrfeige (in In the Heat of the Night, 1967), die jahrzehntelang nachhallte. Morgan Freeman erinnert sich an sie wie auch Spike Lee und viele andere.
Sidney Poitier machte alles anders, als es für Schwarze Darsteller seiner Generation – er ist Jahrgang 1927 – auf der Bühne und im Film vorgesehen war. So wurde er nicht nur ein Star, sondern auch ein Vorbild. Keiner, der ihm nachfolgte, Denzel Washington nicht und nicht Samuel L. Jackson, will seinen Einfluss und seine Vorreiterrolle in der Kinobranche leugnen. Diese lernte zu akzeptieren, dass es Geschichten mit Schwarzen in den Hauptrollen gibt, die die Leute sehen wollen. Alle Leute, einschliesslich vieler Weisser. Als die Schauspielerei für ihn keine grossen Herausforderungen mehr bereithielt, drehte Sidney Poitier auch als Regisseur Filme wie noch kein Schwarzer zuvor: einen Western mit Schwarzen Cowboys, unter ihnen sein Freund Harry Belafonte (Buck and the Preacher, 1972) und Komödien wie Let's Do It Again mit Bill Cosby (1975).
Diese Entwicklung seiner ganz eigenen Karriere verlief parallel zur und zeitgleich mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Eine Oscar-Nominierung für seine Rolle in Stanley Kramers The Defiant Ones aus dem Jahr 1958, in dem er zusammengekettet mit Tony Curtis auf der Flucht ist, markiert den ersten Meilenstein in Poitiers Karriere: Vor ihm war noch nie ein Schwarzer für eine Hauptrolle nominiert worden. Fünf Jahre später gewann Poitier den Oscar schliesslich für seine Rolle in Ralph Nelsons Lilies of the Field (1963). Auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung in den späten 1960er-Jahren hatte seine Karriere ihren Zenit erreicht: 1967 starteten gleich drei seiner Filme in den Kinos – In the Heat of the Night, Guess Who’s Coming to Dinner und To Sir With Love.
Wie kann das sein? Was musste ein Schwarzer Darsteller in jener Zeit haben, damit dieser Erfolg gegen alle Wahrscheinlichkeit und entgegen der rassistischen Traditionen auch in der Unterhaltungsindustrie möglich war? Was musste er können, wie musste er sich geben? Was durfte er keinesfalls zeigen?
Er musste, wie es seine Rollen seit Joseph Mankiewicz’ No Way Out (1950) vorsahen, überaus höflich agieren, keinesfalls wütend. Er musste in dem, was er tat, und sei es als Bauarbeiter wie in Martin Ritts Edge of the City (1957), besser sein als die anderen. Er musste gute Manieren haben, gebildet sein (ebenfalls unter der Regie von Stanley Kramer in Guess Who Is Coming to Dinner spielt er einen Arzt, der für die Vereinten Nationen überall auf der Welt unterwegs ist), in ordentlichen Verhältnissen leben, blendend aussehen und ein Herz haben, das grösser war als die Angst der Weissen vor dem Schwarzen Mann. Verboten waren auf dem Territorium der Weissen – auch der liberalen Weissen in Hollywood, auf dem er seine Karriere machte – Aggression und deutlich markierte sexuelle Ausstrahlung.
So schien es für eine Weile, er sei nicht nur Vorreiter und Vorbild für Schwarze Ambition, sondern auch Fahnenträger einer weissen Idee: der Harmonie zwischen Weissen und Schwarzen, wenn diese sich gut benehmen. Einer Harmonie, in der die Gewaltverhältnisse, in denen die Schwarzen lebten, seit die ersten von ihnen auf Sklavenschiffen ins Land verschleppt worden waren, aufgehoben und vergeben wären. Einer Harmonie, in der sich anständige Menschen mit universalistischen Idealen verständigten im Sinn einer gemeinsamen Idee von einer besseren Welt, einer Idee, zu der Sidney Poitier sich auch in seinen Büchern bekannte. Das kam nicht bei allen Afroamerikaner:innen, die sich in den Sechzigern zu radikalisieren begannen, gut an. Und auch im Kino wurden mit Blaxploitation-Filmen wie Shaft (1971) zum Beispiel andere als solch versöhnliche Töne angeschlagen.
Gleichzeitig aber waren die Erwartungen an Sidney Poitier immens. Er wusste genau, dass er die Last der Träume und Hoffnungen aller Schwarzen auf den Schultern trug, die es im Unterhaltungsgeschäft zu etwas bringen wollten, das jenseits der Klischees lag, für die sie im Film immer schon herhalten mussten.
Sidney Poitier sass in der Falle der Repräsentation – er musste mehr als sich selbst, nämlich die Gemeinschaft aller Afroamerikaner:innen repräsentieren und gleichzeitig für ein Problem stehen, das nicht seines war: Der antischwarze Rassismus ist genuin das Problem der Weissen, seine Lösung aber sollte nun er herbeiführen, der erste Schwarze Schauspieler, der in einer Liga mit Tony Curtis und Paul Newman und all den anderen spielte. Dabei hatte er in den ersten zehn Jahren seines Lebens, das er in Cat Island auf den Bahamas begann, gar keine Vorstellung von «Rasse», keine Wahrnehmung einer in unterschiedliche Ethnien aufgeteilten Welt. Alle Menschen um ihn herum waren Schwarz. Das änderte sich erst, als die Tomatenfarm der Eltern nicht mehr genügend Ertrag abwarf und Sidney Poitier im Alter von vierzehn Jahren nach Miami in Florida ging – und plötzlich von Weissen umgeben war. In seinem Erinnerungsbuch «The Measure of a Man» (einem von dreien, die er geschrieben hat) erzählt er, wie verblüfft er darüber war. Und wie er lernte, sich zu verhalten, um nicht unter die Räder etwa der Polizei zu kommen. Er beschreibt zum Beispiel eine Szene, die aus einem seiner Filme stammen könnte: wie er auf dem Rückweg von einer Exkursion in ein von Weissen bewohntes Viertel abends versucht, nach Hause zu trampen. Wie ein Polizeiwagen neben ihm anhält, wie ein Polizist die Waffe zieht. Wie er nach Hause laufen muss, immer vor dem Polizeiwagen her, ohne sich umdrehen zu dürfen. Wie er um sein Leben fürchtet, weil ihm klar wird, wie ausgeliefert er ist.
Ende August dieses Jahres wurde in Hollywood an der Ecke Hollywood Boulevard und Vine Street ein sechsstöckiges Wandgemälde des Künstlers Tristan Eaton enthüllt. An die Fassade des Aster Club und Hotel gesprayt, zeigt es auf den ersten Blick zwei bekannte Gesichter: Judy Garland und Sidney Poitier. Auf den zweiten lassen sich weitere Held:innen und Ikonen des Kinos und Kaliforniens erkennen, unter ihnen Joan Didion und Divine. Eine poppige Angelegenheit im Mischmasch verschiedener Street-Art-Stile, und offiziell beglaubigt ist die Sache auch – durch zwei Zertifikate für Künstler und Hotel von der zuständigen Handelskammer.
Tristan Eaton ist Jahrgang 1978. Zu jung, um sich zu erinnern, dass die Kombination der Porträts des ersten Schwarzen Oscar-Preisträgers der Filmgeschichte mit der tragischen weissen Frau, die Judy Garland nach ihren frühen Erfolgen wurde, skandalös gewesen wäre. Niemand hat es in der Karriere der beiden gewagt, sie miteinander auf die Leinwand zu bringen.
Dabei ist Sidney Poitier mit weissen Darstellerinnen aufgetreten, und der vermutlich berühmteste dieser Filme, Guess Who’s Coming to Dinner, macht das Unbehagen, das eine Schwarz-weisse Paarung in den Vereinigten Staaten damals hervorrief, sogar zum Thema – und handelte sich damit ein, was heute ein Shitstorm wäre. Ebenso erging es ein gutes Jahrzehnt früher, im Jahr 1955, dem Fernsehsender NBC während und nach der Live-Ausstrahlung des Stücks «Edge of the City», das später die Grundlage wurde für den gleichnamigen Film. Darin spielt Hilda Simms die Ehefrau von Sidney Poitier – eine hellhäutige Afroamerikanerin, die im Schwarzweissfernsehen jener Jahre als Weisse wahrgenommen wurde. Ein Skandal ohnegleichen, mit der ironischen Wendung, dass Hilda Simms ja Schwarz war (nur offenbar nicht Schwarz genug).
Auch dies ist eine Anekdote aus Sidney Poitiers Memoiren. Er war niemals blauäugig, was die Verhältnisse anging, in denen er ein Star wurde. Dass das weisse Establishment ihn nicht fürchtete und er trotzdem als Idol der Schwarzen besteht, hatte mit seiner Eleganz, mit seiner Klugheit, mit seinem Können und vor allem mit einer Haltung zu tun, die mehr ist als cool: Er wusste immer, was kommen könnte. Es gibt diesen Augenblick in In the Heat of the Night, in dem er ganz bei sich zu sein scheint. Während ein weisser Polizist auf ihn zuschleicht wie auf ein wildes Tier, schlägt Sidney Poitier lässig die Beine übereinander und neigt den Kopf unbeeindruckt vom Unheil, das sich zusammenbraut, zur Seite, als wolle er sagen: «So what? What now?» – nonchalant aus eigener wie aus kollektiver Erfahrung, dass mit allem zu rechnen sei.