Retrospektive Wes Anderson
Wunderkammern, Wunderkinder, 31.08. – 04.10.2023
Die Welt als Wunderkammer: In der Werkstatt des Filmemachers Wes Anderson entstehen retrofuturistische Tragikomödien – bildgewaltige und pointensichere Unikate in extravaganter Formvollendung. Wir zeigen alle seine elf Langfilme, vom Debüt Bottle Rocket (1996) bis zu seinem aktuellen Werk Asteroid City.
Stefan Grissemann
Die Frage, warum man auf die – inzwischen fast zu Tode parodierte – aphoristische Ästhetik des Filmemachers Wes Anderson noch immer nicht ernstlich genervt reagiert, ist leicht zu beantworten. Einerseits erscheint die Hingebung, mit der er seine Farbakzente und Bildkompositionen, seine Dialogpossen und Retro-Soundtracks wählt, augenblicklich nachvollziehbar – hinter den Manierismen seines Stils gibt sich eine genuine Liebe zu abwegigen Looks und Leuten (und zu regelwidrigen Erzählweisen) zu erkennen. Andererseits wird die Methode Anderson mit jedem Film raffinierter, setzt sich immer noch feiner ziseliert, noch wahnwitziger gedrechselt in Szene. Die rückhaltlose Kinokünstlichkeit ist dem Auteur aus Houston zur zweiten Natur geworden.
Die visuelle Prägnanz des Anderson-Kosmos hat jedoch online, unter grosszügiger Verwendung der aktuellen Möglichkeiten künstlicher Intelligenz, zu zahllosen Trittbrettfahrten und Nachahmungstaten geführt. YouTuber stellen Trailer ins Netz, die auf fiktive andersonifizierte Filmklassiker-Remakes (von Star Wars und The Shining bis Lord of the Rings) hinweisen. Auf TikTok schnüren heiter gestimmte Influencer ihre Alltagsbeobachtungen reihenweise in das einzigartige Formenkorsett des Regisseurs («Accidentally Wes Anderson»). Sogar lokale Politgrössen lassen ihre Propagandavideos von sich anbiedernden PR-Abteilungen inzwischen im Anderson-Style anfertigen.
Tatsächlich ist dieser Künstler ein Feinmechaniker des spektakulären Bildes, des sublimen Schau-Spiels. Das Diorama ist Wes Andersons Terrain. Seine Filme ähneln Puppenhäusern, sie sind, im Wortsinn, Ansichtssache, denn man muss sehr genau in sie hineinblicken, um sich einen Reim auf ihre Konstruktion machen zu können: die Welt als Wille und Wunderkammer, jeder Schauplatz ein Schaukasten, jede Szene ihr eigener, unerschöpflich detaillierter Mikrokosmos.
Die Oberflächen der Welt sind in Wes Andersons Filmen so sehr (und so zwanghaft) in Ordnung gebracht, dass einem schwindelig werden könnte vor all ihren rechten Winkeln und Symmetrien, ihren abgezirkelten Parallelfahrten, ihrer Aufgeräumtheit und exakt farbabgestimmten Ausstattung. Das in der Wissenschaft noch nicht hinreichend beschriebene Anderson-Paradoxon hat ein Geheimnis: Hinter der Superklarheit dieses streng systematisierten Universums verbirgt sich eine Art Vertigo – die nackte Angst vor einem Leben, dem emotionales oder politisches Chaos droht, in dem Trauer, Tod und unerwidertes Begehren jederzeit die Oberhand gewinnen könnten.
Andersons jüngstes Werk, das Wüsten-Breitwandtheater Asteroid City ist diesbezüglich instruktiv. In einer wegen ihres gigantischen Meteoritenkraters prädestinierten Ministadt im amerikanischen Südwesten veranstaltet die Forschungsabteilung des US-Militärs 1955 eine «Stargazer Convention» für jugendliche Hochbegabte. Eine dort gefundene Gesteinskugel, die von einem fernen Mond stammen dürfte, ist das Fetischobjekt Nummer eins. Andersons elfter Film glänzt in unwirklichen Farbtönen und zeigt erneut, warum sein Schöpfer als grosser Kolorist des Gegenwartskinos gilt: In das Azur des Himmels mischt sich giftiges Grün, der Wüstensand und die Felsen in der Distanz schimmern in blendendem Orange. In ein paar Kilometern Entfernung werden Nukleartests durchgeführt, dann und wann wächst ein Atompilz in den Himmel. Am Ende der Welt ist die kommende Apokalypse besonders sinnträchtig zu besprechen.
Seit Rushmore (1998) schon gibt Anderson seinen Arbeiten gern intensive Farben. Tilda Swinton wird in Moonrise Kingdom (2012) in strahlendem Kobaltblau in Szene gesetzt, als wäre sie einem der Klassiker des Regie-Duos Powell & Pressburger entstiegen, die nicht grundlos so oft Farben im Titel tragen (Black Narcissus, The Red Shoes): eine Erscheinung in Technicolor. Farbe und Text, gibt Anderson leise rätselhaft zu Protokoll, seien in seiner Arbeit «einander fast entgegengesetzt».
Fast 20 Jahre lang lebt Anderson, in New York City sozialisiert, nun bereits in Paris. Inzwischen könnte man ihn fast schon einen europäischen Filmemacher nennen. In der Familien- und Wunderkinderkomödie The Royal Tenenbaums brachte er seine Formensprache 2001 erstmals zu voller Blüte; von seinem indischen Zugreisefilm Darjeeling Limited (2007) arbeitete er sich zu The French Dispatch (2021) voran, einer Hommage an den legendären «The New Yorker», deren episodische Form das Erlebnis der Lesebewegung von Ressort zu Ressort humoristisch nachbildet. In Ennui-sur-Blasé, dem Aussenposten des amerikanischen Nachrichtenmagazins, geht die Welt ihren ruhigen, selbstgewissen Gang – bis das Weltgeschehen zu Glossen, Recherche und Reportagen ruft: The French Dispatch ist eine entwaffnende Hymne an die Unwägbarkeiten der journalistischen Arbeit. 2009 und 2018 inszenierte Anderson zudem zwei fabelhafte Stop-Motion-Trickfilme mit Tierschlagseite (Fantastic Mr. Fox und Isle of Dogs).
Auch abseits seiner Kinoarbeit bereichert Anderson in seinem kaum verwechselbaren Stil die mitteleuropäische Hochkultur. Für das Mailänder Museum der Fondazione Prada hat er 2015 eine Bar gestaltet, die nun wie eines seiner Filmsets aussieht. Im Herbst 2018 konzipierte er, gemeinsam mit seiner Partnerin, der Designerin, Illustratorin und Schriftstellerin Juman Malouf, eine Ausstellung im Wiener Kunsthistorischen Museum, indem er die Sammlung des Hauses eigensinnig neu ordnete, dabei farblich und gedanklich ungeahnte Verbindungen herstellte. Das Paar nannte die Show gewohnt unorthodox: «Spitzmaus Mummy in a Coffin and Other Treasures».
Als passionierten Schatzsucher muss man sich Wes Anderson definitiv vorstellen. Optischen Sensationen jagt er mit verblüffender Beharrlichkeit hinterher. Der Gegenwart bleiben seine Filme in der Regel fern, um desto schrankenloser von den verschütteten Bildwelten vergangener Dekaden fantasieren zu können – und diese wie Zukunftsvisionen aussehen zu lassen. Schon sein erster Kurzfilm, die gleichnamige Vorstudie zum Debüt Bottle Rocket, klang 1994 jazzig, am Soundtrack musizierten Artie Shaw, Chet Baker, Duke Ellington und Horace Silver. Andersons Filme waren immer schon Zeitmaschinen, akribisch geplant und virtuos konstruiert. Perfektionismus lässt er sich dennoch nicht unterstellen. «Die Art von Film, die ich mache, hätte ohne eine sehr exakte Auseinandersetzung mit den Details nicht den geringsten Sinn», betonte er in einem Interview. «In meinen Werken geht es vor allem um Atmosphäre und anmutige Kleinigkeiten. Ich bin nicht Stephen King, brauche daher langwierige Feinarbeit.» Gedächtnis und Fantasterei gehen bei Wes Anderson seltsame Mischverhältnisse ein. Seine Filme, sagt er noch, seien voller Dinge aus seiner Kindheit, die einst in seinem Kopf wirbelten, wenn er nachts nicht schlafen konnte.
Viele seiner so verspielten Werke basieren auf dem heiteren Kunstgriff, infantile Erwachsene mit altklugen Kindern zu konfrontieren. Moonrise Kingdom etwa berichtet von einer Amour fou unter Halbwüchsigen, in einem Biotop der Pfadfinder, der verliebten Ausreisserkinder und tragbaren turntables. In der Spielzeugwelt des Wes Anderson verwandelt sich jede denkbare Szenerie in ein Kinderzimmer, in dem allerdings eine strenge Choreografie waltet. Und überall demonstriert er, welch ausgefuchster Erzähler und grosser Farbfilmemacher er ist: Seine adoleszente Heldin stapft im rosa Kleid, mit gelbem Koffer und blauweissem Plastikplattenspieler durch die offene Natur. Die Menschen sind seltsam, das ist eine wesentliche Prämisse im Schaffen des 1969 geborenen Texaners. Unrealistisch ist das keineswegs: Wer genau genug hinschaut, wird die Eigenheiten jedes Individuums erkennen können. So kreisen Wes Andersons Filme unablässig, aber sehr lakonisch um die Schrullen und Neurosen seiner Figuren. Insofern ist Bill Murray sein idealer Darsteller, neunmal hat er in den vergangenen 25 Jahren mit dem wunderlichen Schauspieler gearbeitet. Übrigens hat auch die nostalgische Tönung seiner Filme einen Stich ins Abstrakte, denn Anderson ist nicht alt genug, um sich an die 1950er- und 1960er-Jahre, in die er am liebsten abtaucht, erinnern zu können.
Mit der Idee, einen Thriller oder einen Horrorfilm zu drehen, spielt er, wie er meint, «unentwegt», Rosemary’s Baby und Chinatown gehören zu seinen Lieblingsfilmen. Er glaube bei jedem neuen Werk, das er ins Auge fasse, dass er diesmal etwas ganz anderes als eine Komödie machen werde; er träumt von «viel dunkleren» Filmen. Seltsamerweise werde «am Ende trotzdem immer wieder eine Komödie draus. Ich scheine die Wahl meiner Genres nicht richtig kontrollieren zu können.» Die Originalität dieser Aussage gewinnt angesichts eines an Kontroll- und Ordnungszwang nicht eben armen filmischen Werks stark an Wirkung. Andersons inspiriertes, herausforderndes Setzkastenkino verfügt über Witz, Schärfe und Anmut. Man muss schnell denken und noch schneller sehen und hören, um auch nur Bruchstücke seiner anspielungsreichen Gesamtkompositionen wahrnehmen und würdigen zu können. Denn Anderson arbeitet mit einer Betriebsgeschwindigkeit von geschätzt 20 Geistesblitzen in der Sekunde.
Seine erste Produktion für einen Streamingdienst stellt Anderson, nebenbei bemerkt, dieser Tage fertig: Für Netflix hat er Roald Dahls 1977 erschienene Kurzgeschichtensammlung The Wonderful Story of Henry Sugar bearbeitet. Der Film wird im Herbst auf Netflix erscheinen. In den sieben Stories, die Dahl darin versammelt hat, geht es um Taschendiebstahl und Tiertod, um Mobbing, Geldphobie und Kriegsverletzungen. Es droht somit neues Chaos, psychisch, physisch, weltanschaulich.
Als Neudeuter der amerikanischen Filmkomödie geniesst Anderson Weltgeltung. Das komplexe Wesen seiner Werke ist in Begriffen und Kategorien nicht leicht zu erfassen; sie sind weder realistisch noch surrealistisch, vielmehr etwas Drittes, Meta-Erzählerisches, für das es vorläufig noch keine Bezeichnung gibt. Hochmusikalisch ist Andersons Kino in jedem Sinn. In Moonrise Kingdom sind Hank Williams, Françoise Hardy und Benjamin Britten zu hören, verleihen den schon an sich absonderlichen Ereignissen jeweils befremdlich neue Färbungen. Es gibt Stichwunden, Depression und Liebeskummer, ein Hund kommt gewaltsam zu Tode. Für einen Jugendfilm ist dieses Werk zu desillusioniert, für einen Action-Reisser zu stilisiert und für ein Drama zu exzentrisch. Anderson hat kein Genre und kein «Zielpublikum», er richtet sich vielmehr an jeden, der für seine Ideen und seinen Schönheitssinn empfänglich ist. Für den sagenhaften Wes Anderson ist grosses Kino ein Kinderspiel. Er meint es mit ihm glücklicherweise ausgesprochen ernst.