Wir verlängern die Retrospektive von Federico Fellini um eine Woche und zeigen vom 6. bis 12. Februar noch einmal sechs seiner Meisterwerke.
Federico Fellini (1920–1993) war nicht nur ein grosser, sondern auch ein ungemein populärer Regisseur – und ein Künstler, der sich und seinen Stil zum Markenzeichen machte: fellinesk. Sein 100. Geburtstag am 20. Januar 2020 war uns Anlass für eine Retrospektive. Wir zeigten im Dezember und Januar 16 Filme, von I vitelloni über Amarcord, Roma oder Otto e mezzo bis zum Spätwerk E la nave va.
Fred van der Kooji
Nach dem Riesenrummel zu Lebzeiten ist es still geworden um Federico Fellini (1920–1993). Der richtige Zeitpunkt, um mit einiger Distanz ein Œuvre zu betrachten, dessen Regisseur immerzu aus dem Vollen zu schöpfen schien und dafür wie ein Popstar gefeiert wurde. Doch mittlerweile hat der Zahn der Zeit tüchtig zugebissen. Von den 24 Filmen – seine Werbespots nicht mitgezählt – haben meines Erachtens nur deren 5 als Meisterwerke überlebt. Sogar La dolce vita (1960), damals eine Offenbarung, schleppt sich heute langfädig dahin und hat an gesellschaftlicher Sprengkraft eingebüsst. Den grössten Schock hält beim Wiedersehen wohl La strada (1954) bereit. Damals mit Preisen und Lobeshymnen überschüttet, bleibt heute nur noch ein unerträglich sentimentaler, filmisch einfallsloser und technisch wie dramaturgisch linkisch zusammengekleisterter, moralinsaurer Streifen. Aber nach wie vor ist Amarcord (1973) ein einziges Vergnügen, I vitelloni (1953) ein frühes Bijou, Roma (1972) ein virtuoses Feuerwerk, Casanova (1976) ein unterschätztes Teufelsgericht und Otto e mezzo (1963) schlicht einer der grössten Filme der Kinogeschichte.
Wir müssen nochmals über die Bücher.
Das Variété seiner Jugend prägt Fellinis Gesamtwerk bis in die tiefsten Strukturen. Formal gesehen ist diese Gattung des Volkstheaters auf dem Modell des Potpourris gebaut: Nummer wird an Nummer gereiht. Es ist das simpelste Formschema, das man sich denken kann, und Fellini hat es über alles geliebt. Nun wird es Sie überraschen, aber dessen Einfluss auf seine filmische Dramaturgie halte ich eigentlich für einen Glücksfall. Fellini hat wohl als einer der ersten Regisseure entdeckt, dass der Film am Gängelband des ewigen Erzählens auf Dauer nicht vom Fleck kommt. Erzählen spielt mit der Erwartung, Fellinis anekdotische Struktur jedoch mit der Dreingabe. In Giulietta degli spiriti ist eine kuriose Gesellschaft tief in eine Séance verwickelt. Da ist es schon auffallend, dass die Gastgeberin dennoch Zeit findet, sich von einem geringfügigen Geschehen in ihrem Garten ablenken zu lassen. Dort nämlich stelzt ihr Gatte mit einem der Gäste im Gleichschritt durch die Nacht. Eine ebenso bedeutungslose wie schöne Szene. Fellini war nun mal ein Meister der Verschwendung. Im Studio liess er einmal mit Riesenaufwand einen venezianischen Kanal mit einer an historischen Prachtbauten vorbeischwebenden Gondel konstruieren. Die Dauer der Einstellung? Gerade mal acht Sekunden. Was aber ökonomisch Tadel verdient, ist ästhetisch gesehen die Kür. Anstelle einer narrativen Entwicklung tritt bei ihm die Gleichzeitigkeit von verschiedenartigsten Geschehnissen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Autobahnfahrt nach Rom im gleichnamigen Film. Fortwährend fährt die Kamera an Fahrzeugen und an Situationen in der Landschaft entlang, aber diese an sich triviale Ausgangssituation wird dauernd überhöht, indem dabei mal anekdotisch Pointiertes, mal surreal Zugespitztes aufblitzt, als wäre alles Alltägliche nur ein Spuk. Das ganze Panoptikum wird zudem noch eingefangen von einem Kamerateam, das primär mit dem verschwindenden Tageslicht und dem einbrechenden Regen zu kämpfen hat. So verschachtelt sich die Welt zur unerschöpflich wirkenden Mehrstimmigkeit.
Dagegen stehen jene so gut wie dialoglosen Szenen, wo die Kamera wie erstaunt kurz in entleerten Räumen verharrt; eine Beobachterin unberührter Orte. Sie gehören zum Kostbarsten in diesem Werk, allein schon wegen ihrer Seltenheit. Zarte audiovisuelle Ereignisse inmitten einer Dramaturgie der Paukenschläge. Wie etwa jene Landung eines Pfaus auf dem verschneiten Dorfbrunnen in Amarcord, wo eine der schönsten Kranfahrten der Filmgeschichte dessen Landung abfedert und das Tier als Dankeschön dafür die Federn spreizt. Da verschlägt es sogar den Papagalli der Ortschaft kurz die Sprache.
Apropos Papagalli: Obwohl der Pornofilm zur Genüge bewiesen hat, dass das Körperliche an der Liebe zutiefst unfilmisch ist, gelang Fellini das Unmögliche. Gleich den ersten Liebesakt in Casanova verwandelte er in ein hypnotisch schönes Ballett mit von Tüchern umtanzten Körpern, die so den Verlust des Taktilen im Kino souverän kompensieren.
Bei so viel Kunstfertigkeit erstaunt die Tatsache, dass damals in Fachkreisen behauptet werden konnte, Fellini habe von der technischen Seite des Films keine Ahnung. Er selber hat, immer der beste Agent provocateur in eigener Sache, gern an dieser Legende mitgesponnen. Eigentlich wollte er Schriftsteller werden, oder wenn schon Karikaturist. Aber dann haben ihn zuerst Roberto Rossellini und darauf – ein wichtiger Mann zu jener Zeit – Alberto Lattuada buchstäblich in die Filmregie hineingedrängt. So wurde Fellini einer der virtuosesten Dilettanten der Kinogeschichte. Wen das ein zu leicht dahingesagtes Oxymoron dünkt, sollte sich in La dolce vita jene Szene anschauen, wo zwei Kinder vorgeben, die Jungfrau Maria zu sehen. Sie ist – was bis jetzt übersehen wurde – einer der technisch spektakulärsten Sequenzen nachgebildet worden, die je in Hollywood entstanden sind: der Massenszene im strömenden Regen aus Frank Capras 1941 gedrehtem Meet John Doe. Bis in einzelne Details geht da die Anleihe, und dennoch krempelt Fellini die Ausgangslage völlig um und unterwirft sie souverän seinem eigenen, ganz uncaprahaft sarkastischen Anliegen. Da ist Diebstahl vom Feinsten zu bewundern.
Ich habe es schon angedeutet: Fellini hat von Anfang an rücksichtslos Budgets überzogen (bei Casanova um mehr als das Dreifache), Produzenten in den Bankrott getrieben oder zumindest nahe an eine sichere Absturzstelle geführt. Kein anderer Regisseur, weder vor noch nach ihm, hat das überlebt. Und er konnte sich das erstaunlicherweise leisten, obwohl mehrere seiner Filme bei der Premiere zunächst beim Publikum durchfielen. Nach Aussagen von vielen Darstellern, etwa von Donald Sutherland, der es am eigenen Leibe erfahren musste, hat er Schauspieler gehasst und zur Verzweiflung getrieben und war eifersüchtig auf jeden am Set, der brillierte. Dennoch ist er immer «im Geschäft» geblieben, als wäre er ein unkontrollierbares, nicht zu bremsendes Naturereignis. Und dieser Regisseur hatte erst noch die Neigung, sich wie ein Moral predigender Lüstling zu benehmen. Dabei war er, wie Orson Welles einmal gnadenlos feststellte, doch nur ein Provinzler, den es in die Grossstadt verschlagen hat und der sich nun bei seinem eigenen sittenlosen Treiben erstaunt über die Schulter schaute. Zudem arteten die Dreharbeiten immer mehr zu richtigen Parties aus, wo Kollegen und vor allem der internationale Jetset zu Besuch kam. Es war der Konzentration beim Arbeiten nicht gerade dienlich.
Eine zweite Eigenart sorgte dafür, dass bei der Montage eine beachtliche Menge des gedrehten Materials auf dem Boden des Schneideraums landete, und das betraf nicht selten ganze Sequenzen und Personen. Auch dies war die Folge von Fellinis chaotischer Arbeitsweise, die paradoxerweise selber wiederum das Resultat bildete von etwas, das de facto eine grosse Qualität seiner filmischen Ästhetik ist, nämlich die bereits erwähnte Verweigerung, das in Romanen beheimatete Erzählen auf das Kino zu übertragen. «Film», so bemerkte er einmal zu Recht, «kommt nicht von der Literatur her, sondern von der Malerei.» Nur müssten dann eben auch andere Formprinzipien und Organisationsstrukturen für das zu drehende Material gefunden werden. Nüchtern gesagt: Auf die Dauer reicht das Variété dann doch nicht aus. Aber mit dessen Weiterentwicklung wurde Fellini im Grunde nie wirklich fertig. Obwohl sein Casanova voller höchst brillanter Einfälle und superber Bildfindungen steckt, blieb das Werk insgesamt ein mächtiger Koloss, der bei aller Schönheit leider ohne ein wirklich tragendes dramaturgisches Gerüst auskommen muss. Und das frisst mit der Zeit notgedrungen auch an der Substanz, sodass die sechs Filme, die nachher noch folgten, nur in höchst vereinzelten Momente, und, ehrlich gesagt, eigentlich nur in La città delle donne (1980), kurz den Zauberstab dieses grossen und bewundernswert rücksichtslosen Gauklers wieder aufblitzen lassen.
Es war die Folge von etwas, was Fellini selber «la grande confusione» seiner Arbeitsweise genannt hat. Es hat seine Kunst wunderbar befruchtet und zu vielen atemberaubenden Szenen geführt, aber am Ende auch brutal beschädigt. Ein nicht geringer Bestandteil dieser grossen Verwirrung war die zutiefst widersprüchliche Haltung, die Fellini immer wieder gegenüber seinem Ausgangsmaterial verspürte. So hat er seinen Film über Casanova mit einem ausgesprochenen Widerwillen gegenüber dieser Figur begonnen, bis er nach einigen Wochen wohl zu seiner eigenen Überraschung merkte: «Verflixt und zugenäht, dieser Kerl bin ich ja selbst!» Das hätte ihm Gustav Flaubert aber im Voraus sagen können. Es geht zwar die Mär herum, dass weder Schriftsteller noch Regisseure ihre Protagonisten hassen dürfen, aber das ist Nonsens. Man darf, ja manchmal muss man es sogar, denn am Ende stellt sich heraus: «Madame Bovary, c’est moi».
Fred van der Kooij, 1948 in den Niederlanden geboren, lebt seit 1972 in Zürich. Er studierte elektronische Musik, Komposition, Musiktheorie und Malerei. Seit 1980 ist er freischaffender Filmemacher und Filmdozent. Er publiziert regelmässig zu film- und musiktheoretischen Themen und hält filmhistorische Vorlesungen.