Die Mysterien des Alltags - die Filme von Andrei Tarkowski
Die Filme des russischen Regisseurs Andrei Tarkowski gehören zu den Höhepunkten der Filmgeschichte. Der Filmverleih Trigon hat sieben Titel in restaurierter und digitalisierter Fassung, original mit deutschen Untertiteln, neu herausgebracht. Bisher sind die Filme im deutschen Sprachraum lediglich in alten Abtastungen und in am Original nicht prüfbaren DDR-Synchron erhältlich gewesen. Wir nehmen dies zum Anlass für eine Tarkowski-Retrospektive.
In Nostalghia (1983) betritt der traurige Held einen alten Stall und trifft dort auf eine Landschaftsminiatur, deren vermeintlicher Naturalismus zunächst von einem darin platzierten Stuhl entlarvt wird, die jedoch bald mit der wirklichen Landschaft hinter dem Stall verschmilzt. Eine überraschende Synthese, deren Qualität noch gesteigert wird, indem die Miniatur offensichtlich eine russische Gegend abbildet, während die sich damit vereinigende Landschaft eine italienische ist. Das Heimweh-Thema des Films wird so auf eine erlebnisintensive Art bereichert.
Das Heimweh ist autobiografisch. Andrei Tarkowski hatte die Sowjetunion gerade mit der Begründung verlassen, es sei für ihn unmöglich geworden, dort zu arbeiten, zumal man sein Werk zensuriere. Dies wurde im Westen treuherzig geglaubt. Allerdings habe ich in den Tausenden von Seiten, die dem Werk dieses grossen Regisseurs mittlerweile gewidmet wurden, nur wenige Zeilen gefunden, die darüber präziser Auskunft geben. Und wie erstaunt war ich, als ich feststellen musste, dass alle dort erwähnten Änderungsvorschläge der Filmkommission die Filme eindeutig verbessert hätten, mal abgesehen davon, dass keiner dieser Ratschläge für Tarkowski bindend war. Mehr noch: Die Qualität von Der Spiegel (1975), den Tarkowski wohl selbst als sein Meisterwerk betrachtete, verdankt sich in wesentlichen Teilen den Vorschlägen der sowjetischen Filmkommission. Gerade zwei der innovativsten Aspekte dieses Films – die Besetzung der Mutter und der Ehefrau mit der gleichen Schauspielerin sowie der Einbezug dokumentarischen Materials – gehen auf deren Anregung zurück. Alle Kürzungsvorschläge wurden sofort zurückgezogen, wenn Tarkowski sich weigerte, sie vorzunehmen. «Ich werde nichts dergleichen tun», pflegte er in sein Tagebuch zu schreiben. Kaum aber war er im Westen, hatte er ein offenes Ohr für die Verstümmelungswünsche der dortigen Verleiher. Als man etwa in den USA aus Andrei Rubljow (1966) zwanzig Minuten herausschneiden wollte, notierte er: «Natürlich kürze ich ihn.» Und ebenso klaglos tat er dies bei den französischen und italienischen Kopien seiner Filme.
Aufschlussreich ist auch der Vergleich der kleinen, erst nach endlosen Verhandlungen genehmigten Budgets der beiden im Westen gedrehten Filme mit den nachgerade luxuriösen Produktionsbedingungen in der Sowjetunion. Die Dreharbeiten an Stalker (1979) etwa wurden nach dreieinhalb Monaten, als bereits zwei Drittel des Films «im Kasten» waren, vom Regisseur abgebrochen, weil dieser mit Verschiedenem unzufrieden war – nicht zuletzt mit jenem Cinemascope-Format, in dem er später im Westen wohl oder übel wieder drehen musste. Er bestand nicht nur erfolgreich auf einem Neudreh des gesamten Materials, sondern auf einer kompletten Neufassung des Drehbuchs sowie auf dem Austausch der wichtigsten Mitarbeiter. All dies wurde ihm gewährt. Mit anderen Worten: Tarkowski war weniger ein «Verfolgter des Regimes» als ein von diesem Privilegierter. Tatsächlich war der Chef der sowjetischen Filmindustrie, Filipp Ermash, so etwas wie sein Schutzengel, der ihm eines Tages sogar anvertraute: «Du kannst filmen, was du willst.» Dass Tarkowskis Filme dennoch nur mit grössten Verzögerungen in die russischen Kinos kamen, lag vielmehr daran, dass sie in fast jeder Hinsicht den Werten der sowjetischen Gesellschaft offensiv widersprachen. Denn es besteht kein Zweifel daran, dass Tarkowskis Weltbild ausgesprochen reaktionär war, seine Religiosität obskurantistisch und seine Frauenverachtung bestürzend. Und dennoch gehört manches in Tarkowskis Filmen in seiner visuellen und akustischen Innovationskraft zum Besten, was für die Leinwand je geschaffen wurde.
So gibt es im gleichen Film, in dem sich eine russische Landschaft mit einer italienischen vereint, eine Identitätsverwischung, deren technische Realisierung allein schon atemberaubend ist. Der Held schlendert durch eine Strasse, die mit ihren Anzeichen von Verwesung direkt aus Antonionis Deserto rosso (1964) stammen könnte, an einem Kleiderschrank vorbei, der seltsam verlassen dasteht. Der Mann kehrt um und hält vor dem Objekt inne. Die Kamera schwenkt von ihm weg zum Schrank und zeigt eine verspiegelte Tür. Bereits gleitet die Hand des Mannes hin, um den Spiegel auf sich zu richten. Doch darin erscheint nicht er, sondern ein wesentlich älterer Mann. Der Effekt erinnert an Jean Cocteaus Spiegelmanipulationen, etwa in Orphée (1950), nur dass Tarkowski hier keinerlei Tricks anwendet. Es ist einzig und allein die ausgetüftelte Platzierung der beiden Schauspieler sowie eine bis auf den Millimeter kontrollierte und erst noch fahrende Kamera, was dieses kleine Wunder eines Identitätstausches vor unseren Augen entstehen lässt.
Ähnliches wird in Offret (1986) erneut geschehen, und erst noch mit dem gleichen älteren Schauspieler. Dort erscheint dieser zwar nicht in einem Spiegel, sondern tritt in eine Reproduktion eines Gemäldes von Leonardo, das hinter einer reflektierenden Glasplatte an der Wand seines Zimmers hängt. So fügt er sich zu den antiken Personen im Bild, denen er ähnlich sieht, weil er sich den Schal seiner Frau um die Schultern gelegt hat. Und so sehr dies an jene Szene mit dem Spiegelschrank erinnert, so wenig überrascht es, dass die Gattin bald darauf seine Jacke trägt. Denn wenige bleiben in diesen Filmen, wer sie sind. Dafür ein letztes Beispiel.
In Der Spiegel bekommt der jugendliche Held, der das Alter ego des Regisseurs darstellt, Besuch von einer Frau, die starke Ähnlichkeit mit der grossen Dichterin Anna Achmatowa hat. Es klingelt an der Tür, der junge Andrej geht öffnen, und als er zurückkommt, ist die Frau spurlos verschwunden. Durch einen Zufall fand ich heraus, dass Tarkowskis Vater, der selbst Dichter war, als einer der wenigen den Sarg der Achmatowa auf dem Flug von Moskau nach Leningrad begleitete. Versteckt Autobiografisches bildet die Basis in fast allen Filmen dieses Regisseurs, und man freut sich jedes Mal, wenn man ihm dabei auf die Schliche kommt. Atemberaubend aber wird die kleine Szene erst durch einen Dunstfleck. Dieser befindet sich exakt an der Stelle, wo gerade noch die heisse Teetasse der verschwundenen Frau stand. Und während die Kamera darauf zufährt, löst sich der Fleck in nichts auf. Hat es je ein schöneres Bild für jenes alltägliche Mysterium gegeben, das wir unsere Präsenz nennen?
Gemeinsam ist allen Beispielen eine seltsame Form von Destabilisierung: Nicht nur die Identitäten verlieren ihr Gleichgewicht, auch der Raum büsst seine Statik ein. Und Gleiches gilt, wie ich in meiner Vorlesung zeigen werde, für die Zeit. Dies alles geschieht niemals mittels Tricks oder Montage, sondern in langen Einstellungen, die das Geschehen vor unseren Augen langsam, aber sicher aus der Balance bringen und so ein Zwischenreich zwischen Wirklichkeit und Traum entstehen lassen.
Fred van der Kooij
Der Autor ist Filmtheoretiker und Filmemacher sowie Dozent für Filmtheorie.
Am Dienstag, 15. Dezember, hält er um 18.30 Uhr eine Vorlesung zum Werk von Andrei Tarkowski.