Die Allianz zwischen dem Kino und der Psychiatrie ist unheimlich, auch deshalb, weil sie so alt ist wie das Kino selbst. Das hat nicht zuletzt mit der Geschichte des Mediums zu tun, das von Beginn an einen Raum der Wünsche und Träume, der Wahnvorstellungen und Ängste der Gesellschaft absteckte. Der zweimonatige Filmzyklus (weitere Filme folgen im März) lotet diese vielschichtige Beziehung anhand von Schlüsselwerken, Klassikern und Kultfilmen aus.
Um 1900 trat auch die noch junge Wissenschaft Psychiatrie an, die menschliche Psyche zu verstehen. Allerdings nicht, um ihr Freiräume zu verschaffen, sondern um sie therapeutisch zu behandeln und ordnungspolitisch einzugrenzen. Dazu gehört insbesondere die Unterscheidung, was psychisch krank oder gesund ist; wer aus welchen Gründen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird und damit, ähnlich wie Straftäter, seine persönlichen Freiheiten einbüsst.
Kino und Psychiatrie, so könnte man behaupten, besetzen mit umgekehrten Vorzeichen das gleiche Thema: Was im Kino freigesetzt wird – die dunkle Seite der menschlichen Existenz, ihr «Wahnsinn» im wörtlichen Sinne –, versucht die Psychiatrie zu kontrollieren. Entsprechend nehmen fast alle Filme über die Psychiatrie die Perspektive der Patienten und Patientinnen ein, die angstvoll ein gesellschaftlich tabuisiertes Terrain betreten. Die Darstellung der Psychiater hingegen folgt meist etablierten Klischees: Sie sind entweder lächerlich, gütig oder durch und durch böse. Zusätzlich wirken stereotype Bilder der Psychiatrie lange nach; noch heute prägt One Flew Over the Cuckoo’s Nest (1975) die populäre Vorstellung von psychiatrischen Kliniken.
Die Darstellung der Psychiatrie im Film lässt sich aber auch als ihre Kulturgeschichte verstehen: von dem Magier, den uns Das Cabinet des Dr. Caligari noch um 1920 präsentiert, zu den gutmütig- allwissenden Heilern der Vierzigerjahre, die uns etwa in John Hustons Dokumentation Let There Be Light (1946) begegnen. Insbesondere der Zweite Weltkrieg hatte tief traumatisierte Soldaten zurückgelassen, deren Krankheit entstigmatisiert werden sollte. Entsprechend ist Hustons Film ein Plädoyer für einen aufgeschlossenen Umgang mit der Psychiatrie, den aber schon Anatole Litvaks The Snake Pit (1948) zurücknimmt, indem er umgekehrt von der schwierigen Rollenfindung der Frau nach der kriegsbedingten Abwesenheit der Männer berichtet. Noch weiter geht Suddenly, Last Summer von Joseph L. Mankiewicz (1959), der die um 1940 durchaus populäre Therapie der Lobotomie verurteilt und zeigt, dass den Patientinnen häufig ein von der gesellschaftlichen Norm abweichendes Verhalten aus dem Gehirn geschnitten werden sollte.
Andere Filme – so etwa Leopold Lindtbergs Matto regiert (1946/47) oder auch The Cobweb (Vincente Minnelli, 1955) – halten die Situation bewusst offen, indem sie entweder Personen von aussen zur Beobachtung in die Psychiatrie schicken (wie beispielsweise den Wachtmeister Studer) oder auch eine Schilderung der Psychiatrie ohne subjektive Perspektive versuchen. Pointierter werden die Darstellungen in den Sechzigerjahren: Das trifft einerseits auf La tête contre les murs (1958/59) von Georges Franju zu, der einen jungen Rebellen in die Psychiatrie schickt, um die dortigen Verhältnisse anzuklagen. Oder auch auf Ken Loachs Family Life (1971), der die Thesen des kritischen Psychiaters Ronald D. Laing aufnimmt und psychische Krankheit in Verbindung mit der modernen Kleinfamilie bringt. Diese Filme, in denen sich anti-psychiatrische Bewegungen manifestieren, reflektieren eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der Psychiatrie. Den Zustand der damaligen Kliniken schildert drastisch Frederic Wisemans Titicut Follies (1967), der in einer forensischen Psychiatrie in den USA entstand. Die Dokumentation zeigt den nahtlosen Entzug von Privatsphäre und menschlicher Würde durch das klinische Personal.
Erst Ende der Siebzigerjahre weicht die Aufklärung über den Machtmissbrauch hybrideren Darstellungen, die die liberalen Fortschritte in der Psychiatrie belegen. So etwa in I Never Promised You a Rose Garden (1977), der den Einfluss der Psychoanalyse zeigt, indem er das Gespräch zwischen Ärztin, Patientin und Angehörigen eröffnet. Den Versuch, der Psychiatrie ohne vorgefasste Meinung zu begegnen, ja sogar deren Bild zu entstigmatisieren, kann man erst seit der Jahrtausendwende beobachten, so etwa in der Dokumentation von Constantin Wulff, Wie die anderen (2015), die in der vorliegenden Reihe als Premiere gezeigt wird. Ähnlich wie Wiseman versucht Regisseur Wulff, ein objektiver Beobachter zu sein, und schildert dabei sowohl die Probleme der Patientinnen wie auch die der Institutionen, die ihrerseits im juristischen Regelwerk gefangen sind.
Der gesellschaftspolitische Spiegel reflektiert aber auch, dass psychiatrische Diagnosen weder geschlechtsneutral noch kulturell universell sind. Ob filmische Fachärzte häufig männlichen Geschlechts, Pflegepersonal sowie Kranke häufig weiblich sind – stets brodelt auch Gendertrouble unter der Oberfläche der Filme. Explizit nimmt sich Allie Light in Dialogues with Madwomen (1993/94) dieser Rollenmodelle an, um den Stand der Psychiatrie im Kalifornien der Achtzigerjahre zu dokumentieren. Zudem werden deutlich westliche Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit mit dem Kolonialismus auch in andere Kulturen exportiert. Dass dadurch Reibungsflächen entstehen, zeigt Ce qu’il reste de la folie (2014), ein aktueller Dokumentarfilm, der im Senegal psychiatrische Modelle mit traditionellen Heilmodellen konfrontiert und für einen interkulturellen Austausch votiert.
Welches Bild haben wir von der Psychiatrie? Welches Bild psychischer Krankheit und psychiatrischer Therapie kann das Kino reflektieren? Der Gang der Kamera in die «Anstalt» ist immer auch eine Entscheidung darüber, was wirklich und was Täuschung ist. In seinen vielleicht besten Momenten lässt das Kino diese Antwort offen: Scheinbar gesunde Menschen (wie etwa ein Reporter in Shock Corridor, 1963, oder ein Polizist in Shutter Island, 2010) betreten die Kliniken, können aber bald nicht mehr entscheiden, wo der Boden der Tatsachen endet und der Wahnsinn beginnt. Es ist ein Spiel mit einem doppelten Boden, der auch die Angstlust des Publikums vor dem Realitätsverlust bedient, den jeder Gang ins Kino heraufbeschwört. Insofern zeigen Psychiatriefilme auch, was Kino kann: ein Tabu sichtbar und damit verhandelbar machen.
Veronika Rall
Dr. Veronika Rall ist Dozentin und Forscherin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Sie ist Mitarbeiterin des vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten interdisziplinären Forschungsprojekts «Schizophrenie» – Bedeutungswandel, Rezeption und Kritik eines Begriffs im 20. Jahrhundert.
www.schizophrenie.uzh.ch / www.film.uzh.ch
Die von Veronika Rall kuratierte Filmreihe «Psychiatrie im Film» ist eine Kooperation zwischen dem Kino REX Bern, dem Psychiatriemuseum Bern und dem Seminar für Filmwissenschaft Zürich.