Poesie ist Befreiung: Das iranische Kino vor und nach 1979
01.01. – 04.02.2026
60 Jahre nach der iranischen Neuen Welle, 46 Jahre nach der Revolution, 9 Jahre nach Abbas Kiarostamis Tod und 2 Jahre nach der Ermordung von Dariush Mehrjui gibt das Kino REX die Gelegenheit, vor- und nachrevolutionäre Filme aus dem Iran vergleichend zu sehen und neue Verbindungen zu entdecken.
Die klügste Waffe gegen Totalitarismus ist Vieldeutigkeit, das heisst: Poesie. Das weiss das iranische Kino schon lange. «Ein Film ist gut, wenn der Zensor nicht weiss, was zensuriert werden sollte», hat der iranische Filmemacher Abbas Kiarostami einmal gesagt. Viele iranische Regisseur:innen aus Vergangenheit und Gegenwart mussten aufgrund der ungeschriebenen, unberechenbaren «red lines» der gottesstaatlichen Kulturfunktionäre eine Ästhetik der Auslassung, Andeutung und Ersetzung entwickeln – oder in den Untergrund gehen.
Als enorm populäre Kunstform mit einer weitaus höheren Reichweite als Literatur oder Theater war das Kino in der Geschichte des Iran den Autoritäten immer schon ein Dorn im Auge. Gerade deshalb versuchten die Regime, dieses mächtige Medium in ihre Dienste zu nehmen, sei es in den Gottesdienst nach der islamischen Revolution von 1978/79, die zunächst eine gesamtgesellschaftliche Revolution war; sei es in den Dienst einer rücksichtslosen, die Klassengegensätze verschärfenden Zwangsmodernisierung durch das Regime des Schahs vor 1979.
Die Retrospektive bietet Gelegenheit, über die Revolution hinaus und weiter zurückzublicken, um zwischen dem iranischen Kino vor und nach 1979 Interferenzen und Resonanzen zu entdecken. Wenn das iranische Kino etwa dafür bekannt ist, Figuren zu zeigen, die ständig in Bewegung sind und hierbei verschiedenste soziale Schichten der Gesellschaft durchqueren, so kann dieses Motiv bis zu Ebrahim Golestans Teheran-Noir Brick and Mirror (1964) zurückverfolgt werden – einem zentralen Film der Neuen Welle des iranischen Kinos. Entlang der urbanen Odyssee eines Taxifahrers durch verschiedenste Milieus fängt Brick and Mirror das Zittern einer eskapistisch-hedonistischen Gesellschaft ein, die in ständiger Angst vor Überwachung lebte. Nebst Golestans kafkaesker Grossstadtvision sind weitere Schlüsselfilme dieses widerständigen Autorenkinos zu sehen, das einen entschiedenen Kontrapunkt zu den damals marktbeherrschenden Unterhaltungsfilmen setzte. Die sogenannten «filmfarsi» boten dem Publikum mit Songs, Tanzroutinen, «tough guys» und leicht bekleideten «Puppen» Unterhaltung zwischen Klamauk und Melodramatik, wobei die sozialkritischen Subtexte dann doch nicht zu unterschätzen sind.
Einer der wichtigsten Filme des alternativen Trends im vorrevolutionären Kino ist Dariush Mehrjuis pessimistisch-poetischer The Cow (1969), der – zumindest der Legende nach – sogar Revolutionsführer Ruhollah Khomeini überzeugte, dass das Kino nicht gänzlich verdammenswert sei: Nach dem mysteriösen Tod seiner einzigen Kuh beginnt der arme Dorfbewohner Mashdi Hasan (Ezzatolah Entezami) das Verhalten seines geliebten Nutztiers anzunehmen. Diese Metamorphose ist weniger als Psychose, sondern als Akt einer Selbstbefreiung aus der Entfremdung begreifbar.
Als ganz besonders stilbildend für die iranische Filmpoesie gelten die Filme von Sohrab Shahid Saless und Bahram Beyzaie, von dem im Rahmen der Filmreihe gleich drei Filme zu sehen sind. Beyzaie, der grosse, unangepasste Mythopoet des iranischen Kinos, hat einen singulären Filmstil entwickelt, der getragen ist von einem tiefgehenden Wissen über die Rituale und Gesten der persischen «folk culture». In seinem halluzinatorischen Debütspielfilm Downpour (1972), einer zornigen Abrechnung mit der Misogynie der damals dominierenden Unterhaltungsfilme, zerschellt ein idealistischer Lehrer – wie der Spiegel gleich zu Beginn des Films – an der brutalen Engstirnigkeit und den Kontrollmechanismen seiner Umgebung. Einen ganz anderen, hochgradig minimalistischen Stil hat Saless entwickelt, der zu einer wichtigen Einflussfigur für Abbas Kiarostami wurde. Saless’ streng rhythmisierter Film Still Life (1974) lässt uns in klaustrophobischen Miniaturen die stillgestellte Zeit eines – von der autoritären Modernisierung – unterjochten Bahnwärters und seiner teppichknüpfenden Frau miterleben.
Direkt an das «slow(est) cinema» von Saless anschliessbar ist The Sealed Soil (1977) von Marva Nabili. Heimlich gedreht mit Laiendarstellern in einem Dorf im Südwesten des Iran, zeigt der Film die verzweifelten Versuche der 18-jährigen Rooey-Bekheir, aus dem Korsett der traditionellen Dorfgemeinschaft auszubrechen. Hierbei schliesst Regisseurin Nabili an eine feministische Tradition an, deren Grundstein die iranische Dichterin Forough Farrokhzad legte. Abgesehen von Farrokhzads The House Is Black (1963), dem Gründungsdokument der Neuen Welle, gibt es bezeichnenderweise aus der Zeit vor der Revolution kaum Filme und noch weniger Spielfilme, bei denen Frauen die Regie führten.
Zwar war der Befreiungskampf der Frauen ein durchaus mächtiger Motor der iranischen Revolution von 1978/79, doch hatte das Hijacking der Revolution durch die schiitischen Autoritäten einen Hijab-Zwang zur Folge, der von Khomeini zwei Tage vor dem Internationalen Frauentag am 6. März 1979 per Dekret durchgesetzt wurde. Die Bilder der massiven Proteste von Frauen mit und ohne Kopftuch gegen den Kopftuchzwang haften dem populären Gedächtnis immer noch als Idealbild von klassenübergreifender Solidarität an.
Die Kinos waren als Stätten westlicher Dekadenz zunächst ausgebrannt, allen voran das Cinema Rex in Abadan, in dem bei einem verheerenden Brandanschlag am 19. August 1978 mehr als 400 Personen zu Tode kamen, die sich eigentlich versammelt hatten, um Masoud Kimiais The Deer (1974) auf der Leinwand zu sehen. Es handelt sich um ein bemerkenswerten Scharnierfilm zwischen Unterhaltungs- und Autorenkino über eine Tough-Guy-Bromance mit queeren Untertönen und vorrevolutionärer Sozialkritik.
Die Islamisierung des Kinos nach dem Bildersturm der Kulturrevolution hatte keine homogene Schule des Sehens zur Folge, sondern brachte ein Laboratorium der Wahrnehmung hervor, in dem die Grenzen des Zeigbaren zwischen Blickgeboten, Körperkontakt-Regulierungen und der Subversion dieser schiitischen Mise en Scène ständig neu verhandelt wurden. Hinzu kommt, dass das iranische Kino sich nicht nur nach den tiefgreifenden Umbrüchen der Revolution, sondern noch dazu während des achtjährigen Iran-Irak-Kriegs (1980–88) regenerieren musste. Jene Filme, mit denen das iranische Kino nach diesen Transformationen auf der Karte des sogenannten Weltkinos wieder auftauchte, waren in erster Linie kriegsbezogene Filme, was in Europa kaum jemand bemerkt hat: Beyzaies Bashu – The Little Stranger (1985/88), Amir Naderis The Runner (1984) sowie Kiarostamis Where Is the Friend’s Home? (1987) fielen in erster Linie als Filme auf, die anhand von Solidarisierungsgesten und Problemlösungstaktiken weiser Kinder Gesellschaftsutopien entwarfen.
Während Kiarostami in den 1990er Jahren das iranische Kino zum wichtigsten Exportgut nebst «Pistazien, Teppichen und Öl» zählte – und hierbei verschmitzt wohl seine eigenen Filme dazurechnete –, benötigten die nicht weniger bedeutsamen Spielfilme von Rakhshan Banietemad, der wichtigsten Wegbereiterin eines sozialkritischen Filmrealismus nach 1979, Jahrzehnte länger, um in Europa wahrgenommen zu werden. Mit The May Lady (1998) zeigt das REX einen meta-reflexiven Schlüsselfilm von Banietemad, in dem eine 42-jährige, alleinerziehende Dokumentarfilmregisseurin eine Liaison mit einem Mann unterhält, der zwar optisch abwesend, aber durch Telefon, Briefe und Voice-over-Poesie präsent ist.
Die iranische Filmgeschichte ist eine innige Liebesgeschichte zwischen dem reflexiven Potenzial einer Kunstform und den Sehnsüchten der Bevölkerung, ihren «real life struggle» endlich angemessen auf der Leinwand wiederzufinden. Nicht ohne Grund geht es in so vielen iranischen Filmen aus Vergangenheit und Gegenwart um Formen der Selbstermächtigung mittels Wiederaneignung der Kinoapparatur. Mohsen Makhmalbaf greift in Salaam Cinema (1995) im Rahmen eines Filmcastings sogar zu drastischen agitatorischen Methoden, um die Bewerber:innen zur Rückeroberung der Filmkunst zu bewegen. Und Abbas Kiarostamis Close-Up (1990) verhandelt das Begehren nach einem Platz im Film in einem komplexen Gewebe aus Fakt und Fiktion: Es geht um den legendär gewordenen arbeitslosen Drucker und Cinemaniac Hossein Sabzian, der sich bei einer wohlhabenderen Familie als Mohsen Makhmalbaf einnistet, um seiner Stimme Gehör und Anerkennung zu verschaffen. Was das Kino als Propagandainstrument angerichtet hat, kann nur das Kino selbst wieder reparieren, sofern es zum Werkzeug der Selbstermächtigung für die Entrechteten wird.
Zu Recht haben einige iranische Kritiker:innen und Filmemacher:innen kritisiert, dass die westliche Berichterstattung die iranische Filmzensur allzu stark fetischisiere. Im Grunde ist die gottesstaatliche Kulturpolitik stolz darauf, das allegorische Versteckspiel mit der Zensur zu einer sensationalisierbaren und exotisierbaren Trademark entwickelt zu haben. Ich möchte empfehlen, den Erfindungsreichtum der iranischen Filmpoesie auch in unseren Diskursen vom Stachel der Zensur zu befreien – und ihn für das schätzen zu lernen, was er einem lokalen wie auch internationalen Publikum zu geben imstande ist: die Transformation von Angst in Befreiung.