
Retrospektive Norbert Wiedmer
02. – 23.02.2023
Mit dem Dokfilm Bratsch – Ein Dorf macht Schule verabschiedet sich Norbert Wiedmer vom Filmemachen. Wir widmen ihm im Februar deshalb eine Retrospektive und lassen sein vielschichtiges Werk Revue passieren. Auf dem Programm stehen 13 Werke aus 43 Jahren, Filme, die mitten ins Land führen – und darüber hinaus.
Matthias Lerf
14 Fragmente zum Werk des Berner Filmemachers Norbert Wiedmer, mit einer leicht persönlichen Färbung.
Bratsch. Klingt gut, der Titel des neuen Films von Norbert Wiedmer. Aber was bedeutet er, ist es ein Musikfilm? Oder eher Lautmalerei, etwas Experimentelles? Nein, ganz profan, Bratsch heisst ein Bergdorf im Wallis, oberhalb von Gampel, von dem ich noch nie gehört habe. «Ein Dorf macht Schule», heisst es im Untertitel. Der Film gibt Einblick in ein Unterfangen, das dort im August 2016 im leer stehenden Schulhaus startete: eine Schule ohne Noten, ohne Fächer und ohne klassischen Unterricht. Er zeigt, wie die Schülerinnen und Schüler spielend lernen, ein Hühnerhaus bauen, der älteren Dorfbevölkerung das E-Banking beibringen. Fünf Jahre lang hat Norbert Wiedmer dort gedreht. Er sagt, Bratsch sei sein letzter Film.
Norbert Wiedmer. Ich kenne den Berner Filmemacher mit Jahrgang 1953 schon lange. Vermutlich sah ich ihn zum ersten Mal 1980 in Solothurn. Das war ein revolutionäres Jahr für die Filmtage, die im 15. Jahr standen: Erstmals wurden auch Videos und Super-8-Filme ins Programm aufgenommen, erstmals gab es eine Auswahlkommission, die Filme auch ablehnen konnte (einer von mir war dabei). Aufgenommen ins Programm wurde eine Dokumentation von Norbert Wiedmer mit dem schönen Titel Fünf Minuten Ende der Welt, entstanden an der Hochschule für Fernsehen und Film in München in Co-Regie mit Martin Mühleis. Es ist eine Langzeitstudie über zwei Penner in der Grossstadt, «heiter und melancholisch», wie damals in einer Zeitung zu lesen war.
Der Auftrag. Norbert Wiedmer arbeitete zuerst als Lehrer, bevor er sich zum Filmemacher ausbilden liess. Nach den Jahren an der Münchner Hochschule, wo er auch Assistent war, kehrte er in die Schweiz zurück und liess sich – mitten im Land – in der Nähe von Bern nieder. Fast gleichzeitig begann ich als Filmjournalist zu arbeiten, begleitete Wiedmers Werk journalistisch: Kritiken, Interviews, Kolumnen. Die Anfrage, diesen Artikel über ihn zu schreiben, beantwortete ich sofort mit «Nein», ich betrachtete die Auseinandersetzung mit ihm als abgeschlossen, hatte seit einiger Zeit nichts mehr von ihm gesehen, wusste zum Beispiel nichts von Bratsch. Aber plötzlich beginnt die Erinnerungsmaschine zu arbeiten, ich wühle im Archiv, fördere dieses zutage und jenes. Und beschliesse, alles so aufzuarbeiten, wie es der Regisseur in Schlagen und Abtun getan hat, seinem besten Film: in losen Fragmenten, die im besten Fall ein neues Ganzes ergeben.
Aufbruch. Ich finde einen «Bund»-Artikel vom November 1993. «Aufbruch unter Berner Dokumentarfilmen» heisst mein Titel, es geht gleich um zwei neue Wiedmer-Filme: der eine ist ebendieser Aufbruch, erneut eine Langzeitstudie, dieses Mal über eine Mutter, die ihr vom Vater ins Ausland entführtes Kind zurückholen will. Der andere ist eine liebevolle Hommage an die Puppenbühne von Monika Demenga und Hans Wirth namens Ein Frosch, der Kuss, zwei Könige. Der Artikel beginnt mit dem Satz: «Mein nächster Film ist der letzte.»
Vierzehn. Immer wieder letzte Filme machen, ein bestechendes Konzept, es hat bisher vierzehnmal funktioniert (wenn nur die grösseren Kinoarbeiten gezählt werden). Das Themenspektrum von Norbert Wiedmer ist breit, die filmische Ausdrucksform auch. Der letzte Film hat immer etwas Definitives, es geht um alles. Und doch auch etwas Vorläufiges, das Letzte muss beendet werden, um jeden Preis, um Raum für Neues zu schaffen. Wobei Norbert Wiedmer, wie bereits damals auf der Filmschule, gerne mit andern arbeitet: Silvia Horisberger, Alfredo Knuchel, Stefan Kälin, Peter Guyer, Enrique Ros führten zusammen mit ihm Regie.
Schlagen und Abtun. Etwas salopp habe ich weiter oben das Porträt von vier Hornussern aus dem Jahr 1999 als besten Film von Norbert Wiedmer bezeichnet. Ich finde meine alte Kurzbesprechung aus der «SonntagsZeitung». Da steht: «Hornussen. Bauerntennis. Männer im Feld, die schreien und Holzbretter in die Luft werfen. Brauchtum, Bratwurst, Tradition. Aber nicht nur das. Der Berner Filmemacher Norbert Wiedmer erzählt in 52 Sequenzen vom Aufbruch in der Szene. Die Hornusser arbeiten nicht mehr im Stall, sondern sind zum Beispiel Versicherungsvertreter, ihre Schindeln tragen das M des Sponsors McDonalds. Entstanden ist ein bilderstarker Dokumentarfilm, der die Grenzen des Hornusserfeldes gekonnt sprengt, mitten im Schweizer Alltag landet und doch äusserst amüsant bleibt.»
Mitten ins Land. «Mitten im Schweizer Alltag» hatte ich also damals geschrieben. Selbstverständlich ist das so etwas wie ein Leitthema in Wiedmers Werk. Das zeigt sich in Alpenglühn (1987, mit Silvia Horisberger), wo es explizit um Brauchtum – das Jodeln – geht. Aber es zeigt sich auch in experimentelleren Werken wie Blau (2005, mit Stefan Kälin), über die Musiker Hösli & Ricardo, die in Luzern weltberühmt waren. Später nennt Wiedmer selbst einen Film Mitten ins Land (2015, mit Enrique Ros). Darin gibt der Dichter Pedro Lenz den Ton an. Aber auch der Bruder des Fussballprofis Gökhan Inler kommt vor, der in Olten die Strassen wischt. Die Geschichten aller Porträtierten kreuzen sich in der Eisenbahnhauptstadt. Und es wird viel Zug gefahren.
Der Stand der Dinge. Natürlich ist es auch Norbert Wiedmer manchmal zu eng, mitten im Land. Er sprengt die Grenzen fast selbstverständlich, in den Musikfilmen sounds and silence (2009, mit Peter Guyer) und El encuentro (2011, mit Enrique Ros). Aber auch in Das Märchen vom Zigarrenkönig (1984) über Zino Davidoff, der aus Genf ein weltweites Zigarrenimperium aufbaute. Es geht darin um den «Stand der Dinge», wie ich in einer Notiz von mir finde. So hiess 1982 ein Film von Wim Wenders, und es ist eine weitere Formel, wie das Werk von Wiedmer beschrieben werden könnte: zeigen, was ist. Eine Momentaufnahme. Die grossen Zusammenhänge erschliessen sich erst im Lauf der Zeit.
Bruno Ganz. Am schönsten zeigt sich das in dem etwas kryptisch betitelten Behind Me (2002), Wiedmers Film über den Schweizer Schauspieler und Weltstar. In einem «SonntagsZeitung»-Interview hatte Bruno Ganz mit meiner Kollegin und mir erstmals über seine Alkoholsucht gesprochen. Norbert Wiedmer rief mich nach der Lektüre an, bekundete seine Absicht, einen Film mit ihm zu machen. «Viel Vergnügen», dachte ich, das wird niemals klappen, zu eigensinnig, zu verschlossen, zu stur in manchen Dingen ist Bruno Ganz. Aber siehe da, der Film ist da, kein klassisches Porträt, mitnichten. Behind Me ist beobachtend, assoziierend, Einblendungen und Erklärungen könnten das Verständnis sicher erleichtern. Aber solch strenge Daten und Etikettierungen würden dem Protagonisten, der auch viel Schalk durchblicken lässt, in keiner Art gerecht. Um es mit den Worten des Schauspielers zu sagen: A good job!
Pitschi-Patschi. Ein einfacher Job, eine Auftragsarbeit hätte der Film über die Young Boys sein können. Der Fussballklub ging in der Saison 2009/10 mit grossem Vorsprung in die Winterpause, YB bestellte einen Film, um den ersten Titel seit Jahren zu dokumentieren, aber es kam anders. Meisterträume (2010, mit Enrique Ros) heisst die Dokumentation jetzt, filmisch sei das Scheitern natürlich interessanter, betonten die beiden Regisseure. Aber klar hätten alle Fans lieber einen Jubelfilm bekommen. Trotzdem gibt es unvergessliche Szenen darin: Trainer Vladimir Petkovic hält eine Taktiklektion, die niemand versteht, schon gar nicht der neue Spieler, an den sie gerichtet ist. Und seiner Verteidigung wirft der Trainer «Pitschi-Patschi» vor. Dieser Begriff stammt auch nicht aus dem Lehrbuch, aber er hat sich gehalten – und taucht bis heute da und dort auf.
Akten I. Ein Mäppchen finde ich auch in meinen Unterlagen: «Leuenberger-Affäre» steht darauf. Norbert Wiedmer wollte 2006 einen Film über Moritz Leuenberger drehen, in dessen Präsidialjahr als Bundesrat. Den Film gabs nie, dafür eine gerichtliche Auseinandersetzung um Schadenersatz und letztlich um das Verhältnis von Kunst und Politik. Eigentlich wäre das auch ein Filmthema.
Akten II. Norbert Wiedmer hat zahlreiche Preise gewonnen. Für Schlagen und Abtun gabs den Schweizer Filmpreis für den besten Dokumentarfilm. Den Berner Filmpreis bekam er wiederholt, für eigene Filme und für die Produktion von anderen wie Gyrischachen von Sonja Mühlemann.
Die alte Kassette. Irgendetwas war da noch. Tatsächlich, ich finde auch diese alte Tonbandkassette noch, angeschrieben mit «Spezialsendung Locarno 1987». Fürs Radio Förderband führte ich zusammen mit einer Freundin ein Interview mit Norbert Wiedmer und Silvia Horisberger zum Film Alpenglühn. Wir sassen auf der Rasenfläche vor der Morettina, kommt mir wieder in den Sinn, und unterhielten uns über die Schauspielerin Christine Lauterburg. Sie lernt das Jodeln, das Juchzen vor Freude, gerät aber, als sie am Jodlerfest teilnehmen will, mit den strengen Gepflogenheiten und Gesetzen des Verbandes in Konflikt. Ist das eine reine Beobachtung, ist es eine Satire, gar eine Art Spielfilm? Diese Punkte diskutieren wir schon damals. «Wir beobachten einfach», antwortet Norbert Wiedmer. Und später: «Wir kommentieren schon. Aber nicht mit Worten.»
Bratsch. Beobachten. Genau hinschauen bei den Kindern und Lehrpersonen. Diesem Prinzip ist Norbert Wiedmer treu geblieben, auch in seinem neuen Film. Seinem letzten? Schauen wir mal.