Mia Hansen-Løve
31.10. – 04.12.2024
Filme im Fluss der Zeit, offen für die Wechselfälle des Lebens, getragen von einem humanistischen Grundvertrauen: Die französische Filmautorin Mia Hansen-Løve hat aus intimer Nähe zu ihren Figuren ein Werk geschaffen, das luzide von existenziellen Problemen erzählt und dabei leicht und offen bleibt. Wir zeigen alle ihre Langfilme, vom Erstling Tout est pardonné (2007) bis zu ihrem jüngsten Film Un beau matin (2022).
Linda Waack
Es gibt keine passendere Jahreszeit für die Filme von Mia Hansen-Løve als den Herbst, die Zeit der Veränderung und des Blätterfalls. «Lass gehen» klingt als leiser Imperativ in ihren Geschichten an, obwohl sie eigentlich keinen Befehlston enthalten. Loslassen müssen sie alle, die Töchter, Geliebten und Ehefrauen in Hansen-Løves Filmwelt: Pamela ihren Vater in Tout est pardonné (2007), Camille ihre erste grosse Liebe in Un amour de jeunesse (2011), Nathalie in L’avenir (2016) ihren Mann und so ziemlich alles, was ihr Leben in der Vergangenheit stabilisiert hat. «Alles, was geht», könnte dieser Film heissen, doch er heisst «Alles, was kommt». Oft ist es der Jahreswechsel, der wie von selbst Neuerungen bringt und die Figuren ein weiteres Kapitel aufschlagen lässt. Es sind Lektionen der Offenheit, die Hansen-Løves Filme immer wieder sehenswert machen. Stimmig also, dass das Kino REX zum Ausgang des Jahres 2024 dazu einlädt, sich mit ihr genauer zu beschäftigen.
Mia Hansen-Løve kam als Schauspielerin (Fin août, début septembre 1998) und Autorin der «Cahiers du cinéma» zum Film. Was sie am Film interessiert, was sie wahrnimmt und beschreibt, bündelt sie ab 2006 in eigenen Regiearbeiten. Geprägt durch Filmemacher wie Robert Bresson, Éric Rohmer und Olivier Assayas entwickelt sie eine minimalistische Haltung, wobei die hoffnungsfrohe Gewissheit, dass es am Ende gut wird, auflockernd unter den Bildern liegt, selbst wenn die Figuren über ihre Lebensjahre Federn lassen. Seit 2020 nehmen konträr zur Weltlage Zuversicht und Leichtigkeit zu, sodass Bergman Island (2021) und Un beau matin (2022) schon als Variationen der in den frühen Filmen noch etwas dunkler gezeichneten Motive von Liebe, Verlust und Trauer gelten können, etwa dem heftigen Einschnitt der Suizidtrauer in Le père de mes enfants (2009) oder dem Aufgebenmüssen zentraler Lebenspläne in Eden (2014).
Entwickeln lässt sich ein Überblick über die Arbeiten von Mia Hansen-Løve vom Rand her, dem vermeintlich abseitigsten Film der Reihe, Maya von 2018. Es handelt sich um ihren sechsten Spielfilm, der im Werkzusammenhang wenig beachtet und vielleicht ein Geheimtipp ist. Dieser Film verlässt den gewohnten westeuropäischen Radius – Mia Hansen-Løve filmt nicht selten nur innerhalb des Stadtgebiets von Paris – und spielt in Syrien, Indien und an den Stränden von Goa. Unter Verdacht stellen könnte man den westlichen Blick, der da schweift und noch dazu einen erwachsenen Mann mit einer jungen Inderin (Aarshi Banerjee) zusammenbringt. Handelt es sich um einen dieser Filme, in denen weisse Globetrotter komplett kaputt im Paradies unterwegs sind und ihre Heilserwartungen auf den indischen Raum projizieren?
Der Protagonist von Maya, der Kriegsreporter Gabriel (Roman Kolinka), müsste sich einen solchen Vorwurf gefallen lassen. Der Film rückt jedoch immer wieder von der Sichtweise des Journalisten ab und so seine Haltung zurecht. Er lässt die Verunsicherung einer westlichen Perspektive regelrecht in die Bilder ein. Auf diese Art gelingt, dass der Film gerade nicht aussieht wie eine TUI-Werbung, bei der man ins nächste Flugzeug steigen möchte, sondern dass er genau ist, beobachtend, vor Ort präsent. Insbesondere der Kameraarbeit von Hélène Louvart, die vom Dokumentarfilm kommt, ist das zu verdanken. 2018, im Produktionsjahr von Maya, bekam sie den Marburger Kamerapreis, später dann den Silbernen Bären für die Kameraführung in Disco Boy (2023). In Bezug auf ihre Bildgestaltung in Maya möchte ich eine Sequenz, die in der Tempelanlage in Hampi in Südindien spielt, besonders hervorheben. Hier fährt die Kamera erst die Reliefstrukturen des Tempels ab, später baut sie die beiden Hauptfiguren visuell in diese Struktur ein. Gabriel und Maya werden durch diesen Kameraeinsatz selbst reliefhaft und zu einem lebendigen Teil der Tempelarchitektur. Diese Sequenz strahlt eine schlichte, sandfarbene Wärme aus und neigt sich gleichzeitig ein wenig ins Konzeptuelle. Es ist die Kamera, die hier Beziehungsarbeit leistet und die Verbindung zwischen beiden Figuren auf der Bildebene herstellt, ohne dass es dazu einen ausführlichen Dialog bräuchte.
Die Verknüpfung von formbewussten visuellen Einfällen einerseits und einer ansonsten unprätentiösen Erzählform ist auch für die anderen Filme der Regisseurin bezeichnend. Hier jagt nicht eine Idee die nächste, sondern es gibt einen Grundton, der lange gehalten wird und nur dann und wann aufblitzen lässt, was an formalen Ausgefallenheiten möglich wäre. In dieser Bereitschaft zur Reduktion klingt die Bressonsche Prägung an. Zurückhaltung ist ein Wort, das man in Bezug auf die Arbeit von Regisseurinnen vielleicht besser mit Vorsicht gebraucht, dennoch finde ich es hier angemessen. Es ist eine Filmsprache der Zurück-Haltung: Die Langfilme Un amour de jeunesse, Eden und L’avenir sind durch ihren ruhigen Erzählfluss gekennzeichnet, der nur punktuell von einer überraschenden Ellipse aufgewirbelt wird.
Die erfreulichste Ausnahme von dieser Regel bildet Bergman Island. Das ist ein Film der, jedenfalls mir, einfach Spass macht, weil er einerseits mit vielen filmgeschichtlichen Referenzen und Anspielungen umgeht, andererseits für Cinephilie im Sinne eines erstarrten, kanonisierten Wissens über Film wenig übrighat. So hält es die junge Filmemacherin Chris (Vicky Krieps), die im Zentrum der Rahmenhandlung steht, in den trockenen Museums- und Diskursräumen, die zu Ehren von Ingmar Bergman eingerichtet wurden, kaum aus und durchstreift die schwedische Insel Fårö auf eigene Faust. Dabei löst sie sich stromernd und schreibend aus einer erkaltenden Beziehung. Parallel dazu erfindet sie mit Amy (Mia Wasikowska) eine charmante Stellvertreterin, von der die Binnengeschichte, ein Film im Film, erzählt. Amy, die zur Hochzeit einer Freundin ein weisses Kleid mitbringt und damit kolossal die Codes verfehlt, rechtfertigt ihren schönen unbewussten Sabotageakt mit der Idee, es handle sich um «gebrochenes Weiss». Mit dem Hinweis auf die feine farbliche Abstufung, die ihr Kleid von dem einer Braut doch merkbar unterscheide, stellt sich auch der Film auf die Seite der in den Arbeiten von Mia Hansen-Løve ästhetisch so oft betonten Nuancen. Für Zweifel und Zwiespalt haben ihre Geschichten immer etwas übrig.
Die Film-im-Film-Struktur von Bergman Island ist ein ungewohnter Kunstgriff in den ansonsten linearen und schlichter gebauten Erzählungen, lässt sich aber, wie Till Kadritzke zeigt, als schlüssige Fortsetzung ihrer Auseinandersetzung mit der Wechselwirkung von Lebenswelt und künstlerischer Arbeit verstehen: Sie ist «zwar durchaus eine Neuerung in Hansen-Løves Werk, dabei aber nur konsequente Übertragung der Durchlässigkeit ihrer Figuren für den Blick aufs eigene Schaffen. So wird der Film fast zu einem kleinen Werkstattgespräch: Die eigene Kunstproduktion erscheint darin als Osmose zwischen Leben und Fiktion, ein Gegenprinzip zur Idee eines souveränen, autonomen Kinos.» (Till Kadritzke: «Schimären des Souveränen»).
Die hier beschriebene Durchlässigkeit der fiktionalen Welt für biografische Herausforderungen macht die Filme anschlussfähig an eigene Lebenserfahrung. Wer kennt sie nicht, die Enttäuschung, die eine ausbleibende Nachricht in Gang setzt, die quälenden Gespräche im Vorfeld einer Trennung, die jahrelange Arbeit, die der Tod eines nahestehenden Menschen notwendig macht, die Erleichterung, die einsetzt, wenn die Unterströmung des Lebens einen wieder an einen guten Ort gebracht hat. Schön gebündelt wird diese Auf-und-Ab-Bewegung im jüngsten Film der Reihe Un beau matin. Sandra (Léa Seydoux) lebt als Übersetzerin in Paris und kämpft mit den Begleiterscheinungen ihres nicht so gut eingerichteten Alltags: Da ist die fortschreitende Krankheit des Vaters, die Tochter, die allein erzogen wird, eine jahrelange Phase ohne Beziehung, die Affäre mit einem verheirateten Mann. Mia Hansen-Løve führt ihre abgearbeitete Figur an einen nahezu kraftlosen Punkt und dann, wie von selbst, tut die Zeit ihr Werk und was sich lösen lässt, löst sich. Für diesen tiefen Vorgang der Veränderung bildet das abschliessende eingefrorene Bild des Films eher einen treffenden Ausdruck als einen Widerspruch. Es ist eine angehaltene Momentaufnahme, die sagt: Hierbei wird es nicht bleiben, es ist ein guter Ausblick, von hier aus geht es weiter. Solche Bilder der Veränderung sind der Signature Move der Regisseurin: Aufnahmen eines Flusses, der sich glitzernd durchs Bild zieht in Un amour de jeunesse, Bilder des Verkehrs, der wieder anrollt, in Tout est pardonné, Fähren, die ablegen und übersetzen in L’avenir und Bergman Island. Immer wieder fällt dabei ein Seitenblick auf Kinder. Die Filme beobachten beiläufig, wie sie geboren werden, durch die Nachbarschaft streifen, Kontakt aufnehmen, ihre Teenagerjahre bestreiten. So als wollten sie zum Ausdruck bringen, dass sich hinter der gerade erzählten Geschichte schon wieder eine neue anbahnt. Da ist sie wieder, die Hansen-Løve’sche Neugierde auf das nächste Kapitel, die Offenheit.