Kunst und Film: Balthasar Kübler
12.08. – 08.09.2021
Balthasar Kübler hat in den letzten zehn Jahren mit seinem Nokia 6131 eine Reihe von Filmen gedreht und in seiner Wohnung an der Herrengasse in Bern geschnitten und vertont. Sein Markenzeichen? «Musik, die als verfluchter Zauber wirkt und nichts mit dem Film zu tun hat.» Zu seinem 80. Geburtstag widmen wir ihm eine Hommage mit vier Programmen.
Interview: B. Q. Blair
B. Q. Blair: Herzlichen Dank, dass Sie sich bereit erklärt haben, mir ein Interview zu geben. Ich würde das Gespräch gerne aufzeichnen, so dass ich es im Anschluss transkribieren kann.
Balthasar Kübler: Und wenn mir das Aufnahmegerät auf die Nerven geht, schalten Sie es ab?
Selbstverständlich! [schaltet das Aufnahmegerät ein] So, das Gerät ist jetzt eingeschaltet. Meine erste Frage –
Es wäre mir lieber, wenn Sie gleich mit der zweiten Frage beginnen würden. Oder noch besser: Sie werfen Ihr Blatt mit den vorbereiteten Fragen in den Papierkorb und wir kommen zur Sache.
[erinnert sich an das Seminar «How Do You Interview a Famous Person?». Es ging darum, über seinen eigenen Schatten zu springen und die Kursleiterin sagte: «Come on, Mr Blair! Sometimes a change of approach is required.» Hinter ihm sass Anna Livia und kicherte: «Have mood, Blair, hold forth! Avanti, Blair! Avanti tutta!»] Werden Sie oft von Musen geküsst?
Sie möchten wissen, wie ich zum Film gekommen bin?
Ja ... auch.
Ich bin im Garten meines Elternhauses, das schon seit über dreissig Jahren leersteht, sehe die Eibe, den Quittenbaum und die Wäscheleine, nehme mein Handy hervor (ein Nokia 6131) und beginne zu filmen.
Sie hatten vorher noch nie gefilmt?
Nein.
Und dann?
Ich filme, wie ich mich durch das mannshohe Brombeergestrüpp zwänge.
Aber das Display des 6131-Modells ist ja nur etwa 4 cm breit. Haben Sie überhaupt gesehen, was Sie filmen?
Nein.
[nimmt seinen Caran d’Ache Bicolor 999.300 aus der Manteltasche und schreibt mit dem blauen Ende: ‹Filmt, ohne zu sehen, was er filmt. Überlässt es angeblich dem Zufall.›]
Mit dem Fuss stosse ich die Haustür auf, filme das Hochparterre und steige bis zum obersten Stock. Alles ist verwildert und voller Staub. Dann filme ich den Estrich (in der linken Hand das Handy, in der rechten die Stange, mit der ich die Falltreppe herunterziehe) und zum Schluss den Keller mit der Wäscheschleuder und den Hurden, wo die Boskoop gelagert wurden.
[notiert: ‹Staub, viel Staub! Die Ästhetik des Zerfalls.›]
Wie ich mir den Film im Zug ansehe, habe ich das Gefühl, dass der Staub durch das Handy in den Film eingedrungen ist. Dasselbe wiederholt sich mit den Pixeln: Der Zerfall des Hauses manifestiert sich im Zerfall des Films. Und was ebenfalls seltsam ist: Der Film stockt ab und zu; es ist, als ob die Zeit, die im Haus stillsteht, den Film angehalten hätte.
Wissen Sie, ob das in dieser Art schon je vorgekommen ist?
Ich habe noch nie ein filmtheoretisches Werk gelesen und gehe nur selten ins Kino. Aber ich schaue gerne «Lena – Liebe meines Lebens» oder «Hanna – Folge deinem Herzen».
[notiert: ‹Liebt Telenovelas.›] Wie war das, als Sie fürs Radio arbeiteten und Ihre Hörspiele gesendet wurden?
Ich besitze kein Radio.
Und Ihre eigenen Hörspiele?
Manchmal mietete ich ein Auto und fuhr mit meiner Lebensgefährtin an einen Waldrand. Ich erinnere mich noch gut, es war anfangs November, das Autoradio spielte mein Musikhörstück über Mozarts «Requiem» mit dem Titel «Spielen Sie Schach, Madame?» und als Constanze –
Ihre Lebensgefährtin?
Nein, nein! Mozarts Gattin, Maria Constanze Caecilia Josepha Johanna Aloisia Mozart – als diese ihren Auftritt hatte, gingen zwei Spaziergänger an unserem Auto vorbei, schielten durch die von unserem Atem beschlagenen Fenster und schmunzelten.
Sie schrieben für SRF2 Kultur über zwanzig Musikhörstücke. Sie gewannen den Prix Suisse und den renommierten Prix Italia, wo Ihr «www.penelope. ch» als das beste Hörspiel Europas ausgezeichnet wurde und haben kein Radio! Jetzt müssen Sie nur noch sagen, dass Sie keine Noten lesen können.
So ist es, ja.
Sie wissen also nicht, was E-Dur oder f-Moll bedeutet.
Mh.
Ihre Filme berühren mich aber auch wegen der Musik. Manchmal ergänzen sich Musik und Film, dann gehen sie wieder eigene Wege, um erneut zusammenzufinden. Das ist spannend, dramatisch und – unerhört. Es ist, als ob Sie einen Trick anwendeten.
Die Merce Cunningham Dance Company tanzte oft zu Kompositionen von John Cage. Das Besondere war, dass der Choreograph und sein Corps de ballet die Musik vorher noch nie gehört hatten. Die Bewegung des Ensembles lief unabhängig von der Musik ab, die vom Orchester gespielt wurde.
[notiert: ‹So ein Blödsinn!›] Das ist aber interessant.
Nehmen wir «What Time is Midnight». Ich exportiere den Film auf den Schreibtisch, sehe, dass er 19'51'' lang ist und suche eine Komposition, die dieser Länge in etwa entspricht. Oder «Venez découvrir mon cabinet»: Fritz Hauser schaut sich den Film in meiner Wohnung an, notiert die Länge, geht in sein Studio und setzt das Gesehene in Klänge und Rhythmus um.
Sie suchen also nicht eine Musik, die der Stimmung des Films entspricht, sondern das einzige Kriterium sind diese 19 Minuten und 51 Sekunden?
In der Regel kommentiert und untermalt die Musik das Gesehene. Erst wenn die Musik nicht mehr die Dienerin des Films ist, sondern als eigenständiges Medium abläuft, entsteht Spannung und Dramatik. Es kann also durchaus vorkommen, dass man im Film Hummeln sieht, die sich auf einer Blüte ausruhen und die Musik in ein fünffaches Forte ausbricht.
[notiert: ‹Die Ruhe im Garten war wegen der Hummeln relativ laut.›]
[schielt auf B. Q. Blairs Notizblatt] Ist das von Ihnen?
Nein, nein! Yoko Tawada, «Utopien». Ich habe gehört, dass Sie sich Ihre Filme immer wieder und wieder anschauen.
Auch Samuel Beckett hat sich seine Texte wieder und wieder vorgelesen. Zuerst dachte ich, dass er den richtigen Rhythmus finden wollte, jetzt jedoch bin ich mir sicher, dass er mit demselben Problem gerungen hat: Er schrieb etwas, das ausserhalb seiner Erfahrung lag und erst einmal verstanden werden musste.
Was mir gefällt, sind jene Momente, wo ein Tableau entsteht. In «Le croisement de cœur» halten Sie den Film manchmal über eine Minute an. Dann kommt das Tableau wieder in Bewegung und wird zu einer verrosteten Schubkarre oder zu einem Perserteppich. Dieses Spiel zwischen malerisch und konkret ist raffinert.
[schaut 1⁄2 in die Ferne, 1⁄2 in die Nähe, lauernd] Ja?
Die Unschärfe und der melancholische Pastellton Ihrer Tableaux erinnern mich übrigens an Gerhard Richter, den grossen Meister von Distanz und Verflüchtigung, Verschmelzung und Verunklärung. Sie inszenieren jedoch eher die Ästhetik des Zerfalls, nicht wahr?
Auch, ja.
Jetzt habe ich noch eine Frage zu «Fensalir». Was sind das für Bilder im Belvedere der Sonnenkönigin?
Das sind Filmstills vom verwilderten Garten meines Elternhauses. Ich habe sie dem Ort entsprechend in irreale Farben getaucht. Auch in anderen Filmen verändere ich die Farbigkeit der Bilder, bis sie meiner Vorstellung entsprechen.
In den Filmcredits ist die Liste der Beteiligten meistens sehr lang. Sie hingegen scheinen ganz allein zu arbeiten.
In einem Interview von 1977 wird Madame Horowitz gefragt, ob sie jeweils frei heraus sage, was sie vom Klavierspiel ihres Gatten halte. Sie antwortet mit einem lang hingezogenen, singenden «Uuuuuh! Absolutely!» Und Vladimir Horowitz fügt an, dass sie alles, was er spiele, beurteile, selbst wenn sie sich in der oberen Etage des Hauses aufhalte, höre sie seine Fehler. Was nun mich anbetrifft: Ich mache in der Tat alles allein, aber ich zeige jeden Film zuerst Skipper V. Sie ist meine conseillère en art und berät mich kompetent, fair und charmant.
Ich schlage vor, wir hören uns unser Gespräch einmal an, trinken eine Tasse Taiping Houkui und fahren dann mit dem zweiten Teil weiter?
Gerne!
[drückt auf die Wiedergabetaste] Das darf doch nicht wahr sein! [notiert mit dem roten Ende des Bicolor: ‹Hat aufgenommen, ohne aufzunehmen.›]
Nichts?
Nichts!
[B. Q. Blair & Balthasar Kübler unisono]Hahahahahaa!
Lebenslauf
Wie haben Sie sich auf unser Gespräch vorbereitet? Ich habe im Internet einen Artikel «Schummeln im Lebenslauf» überflogen. Alter? Neulich sah ich in einem Antiquitätenladen den Bananenwagen «Jamaica» meiner Spieleisenbahn, Fr. 380.–, eine Rarität. Was war das grösste schulische Drama für Sie? Die Schule. Ausbildung? Vom Kindergarten zur Universität Zürich, Anglistik und Germanistik, Dr. phil. und so weiter. Haben Sie Vorbilder? Im Schatten grosser Bäume kann man nicht gut wachsen. Beruf? Seit drei Jahren arbeite ich täglich an die fünfzehn Stunden an meinen Filmen. Preise? Für meine Musikhörstücke: Prix Suisse, Prix Italia und Nomination Prix Europa. Wie stellen Sie Ihre persönliche Work-Life-Balance sicher? Mit Poesie, Kunst und Strandgut. Ihr Lieblingsort? Biel. Kommen Sie manchmal zu spät? Nein, nie. Events, an die Sie sich beruflich gerne erinnern? Meine Ausstellung «93 Ready Mades Magnified» im Dadahaus Zürich, die Aufführung von zwei Filmen im Museum Franz Gertsch in Burgdorf und das Lucerne Festival, wo meine CD «Prometheus» – aber das war 2001, vor zwanzig Jahren! Was tun Sie für Ihr persönliches Glück? Glück macht mich dumm und unproduktiv, was mich interessiert, ist die Spannung zwischen Imagination und Realität. Lieblingsfilm? «Rashomon». Auf welchem Gebiet haben Sie sich zuletzt weitergebildet? Staubsaugern und Physiotherapie. Was kaufen Sie selber ein? Quark, Osterhasen, Biberli, Seifenstahlwatte. Möchten Sie etwas anfügen? Dass meine Filme als Œuvre im Rahmen von «Kunst und Film» aufgeführt werden, ist für mich eine grosse Ehre.
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