Betörende Bilder einer gescheiterten Revolution: 60 Jahre nach der Machtübernahme durch Fidel Castro widmen wir dem kubanischen Revolutionskino eine Hommage mit vier Produktionen, die zwischen 1964 und 1968 entstanden sind. Es sind Filme, die ästhetisch und politisch jener Freiheit verpflichtet sind, die in der Realität zunehmend unter Druck geriet.
Das mythenumrankte Jahr 1968 fand auch in Kuba statt. In der offiziösen Sprachregelung auf der sozialistischen Karibikinsel hiess es «Año del guerillero heroico» – und der «heroische Guerillero» war kein anderer als Ernesto «Che» Guevara. Dieser hatte als ehemalige Nummer 2 der kubanischen Revolutionsregierung 1965 all seine Ämter abgegeben, um die Revolution an andere Orte der Welt zu tragen, und war dann im Oktober 1967 bei seinem gescheiterten militärischen Abenteuer in Bolivien getötet worden. Das Jahr 1968 war aber auch das Jahr, als Fidel Castro die «Revolutionäre Offensive» befahl, ein Schlag gegen letzte noch verbliebene privatwirtschaftliche Klein- und Kleinstbetriebe. In ganz Kuba wurden kleine Manufakturen, Läden, Bars und Restaurants verstaatlicht, eine Versorgungskrise war die Folge, dies im Namen einer reinen Lehre, wonach Privatbesitz an Produktionsmitteln, und sei er noch so klein, in der neuen, idealen Gesellschaft keinen Platz mehr hatte. 1968 war aber auch das Jahr, in welchem Castro die sowjetische Invasion in die Tschechoslowakei rechtfertigte («ein schwerer Schlag für die internationale revolutionäre Bewegung wäre gewesen, wenn die Tschechoslowakei in die Hände der Imperialisten gefallen wäre»). Und 1968 war in Kuba auch das Jahr, als die Staatsführung auf internationalen Druck die berüchtigten, 1965 installierten Arbeitslager schloss, in denen unter dem beschönigenden Namen «Militäreinheiten zur Unterstützung der Produktion» (Unidades Militares para la Ayuda a la Producción, UMAP) Zehntausende von Homosexuellen, Kirchenleuten, Dissidenten und «Arbeitsscheuen» eingesperrt worden waren.
Insgesamt also hatte das kubanische 1968 wenig gemeinsam mit jenem Aufbruch der Jugend, der damals so viele Teilen der Welt bewegte. Was allerdings einige der in den Strassen von Berlin, Paris, San Francisco oder anderswo Demonstrierenden nicht hinderte, an ihren Manifestationen neben Bildern von Mao, Ho Chi Minh, Che Guevara oder Rosa Luxemburg auch solche von Fidel Castro mitzutragen – in Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse. Im Bereich der Kultur waren die Verhältnisse aber in jener Zeit auf Kuba durchaus widersprüchlich – davon legen Filme der Epoche beredtes Zeugnis ab. «Innerhalb der Revolution alles, ausserhalb der Revolution nichts», hatte Fidel Castro in einer als «Worte an die Intellektuellen» berühmt gewordenen Rede im Juni 1961 verkündet. Unter diesen Intellektuellen gab es nicht wenige, die glühende und überzeugte Revolutionäre waren. Sie hatten diese Revolution in ihrer heissen Phase vor dem Sieg am 1. Januar 1959 schon tatkräftig unterstützt, und nun wollten sie am Aufbau der versprochenen neuen Gesellschaft mithelfen. Einer, der das exemplarisch verkörperte, war der 1928 geborene Tomás Gutiérrez Alea. «Titón», wie Alea unter kubanischen Cineasten genannt wird, hatte Anfang der 1950er-Jahre am Centro sperimentale di Cinematografia in Rom studiert, unter anderem zusammen mit Julio García Espinosa und Alfredo Guevara, dem späteren Leiter des kubanischen Filminstituts ICAIC. 1954 war Alea nach Kuba zurückgekehrt und realisierte im Jahr darauf gemeinsam mit Garcia Espinosa El mégano, einen Kurzdokumentarfilm über das Elend der Köhler in einer kubanischen Provinz. Der Film, der heute als eines der ersten und wichtigsten Zeugnisse eines sozialkritischen lateinamerikanischen Kinos gilt, wurde damals von den Behörden der Batista-Diktatur verboten, was dann wenige Jahre später natürlich Aleas (und Espinosas) Ruf als Revolutionäre beförderte. Beide waren mit von der Partie, als im März 1959 das ICAIC gegründet wurde, und es war Alea, dem die Ehre zufiel, 1960 mit Historias de la Revolución den ersten Spielfilm des revolutionären Kuba zu realisieren. Der im Stil des italienischen Neorealismus weitgehend mit Laien gedrehte und, so Alea, von Roberto Rosselinis Paisà inspirierte Film erzählte in drei Episoden von Kampf und Triumph der Revolutionäre. Mit diesem Werk festigte sich Aleas Ruf auch international, er reüssierte nicht nur in Kuba und am Festival von Moskau, sondern auch an Festivals in Italien und Australien.
Das mag ein Stück weit erklären, warum Alea 1966 mit der schwarzhumorigen Komödie La muerte de un burócrata eine erstaunlich offene Abrechnung mit Auswüchsen der angestrebten neuen Gesellschaft nicht nur problemlos realisieren, sondern damit auch in Kuba und international Erfolg haben konnte. Die Farce um einen armen jungen Mann, dessen Bemühungen scheitern, vom Friedhofsverwalter eine Genehmigung zur Exhumierung seines kürzlich verstorbenen Onkels zu erhalten – und der deshalb zur Selbsthilfe greift und dann beim Versuch der Wiederbestattung im Labyrinth der Bürokratie eine wahnwitzige Odyssee erlebt –, ist auch heute noch von erstaunlicher Frische. Titón hatte allerdings zum Erfolg des Films, der als «Mutter aller kubanischen Filmkomödien» gilt, ein eher zwiespältiges Verhältnis. «Vielleicht habe ich etwas falsch gemacht, wenn auch die Bürokraten den Film so furchtbar lustig finden», befand er Jahrzehnte später, als er in Guantanamera (1995), seinem letzten Film, kurz vor seinem Tod, das Motiv der für Verwicklungen sorgenden Leiche erneut aufgriff – ein Motiv, das im Übrigen bereits Hitchcock in The Trouble With Harry (1955) verwendet hatte.
Doch zurück zu 1968 in Kuba. Es war nicht nur das Jahr, da Aleas Opus Magnum, Memorias del subdesarrollo (Erinnerungen an die Unterentwicklung) im August Weltpremiere in den Kinos der Insel feierte, sondern auch jenes, in dem zwei Monate später mit Lucía ein monumentales, fast drei Stunden dauerndes Werk eines erst 27 jährigen Cineasten namens Humberto Solás das Licht der Welt erblickte. Der mit wenig Mitteln gedrehte Film von Alea erzählt die Geschichte des bürgerlichen Intellektuellen Sergio, der im Jahr 1962, als wegen der Stationierung sowjetischer Atomraketen die Welt kurz vor einem Atomkrieg stand, die gesellschaftlichen Veränderungen um sich herum als Aussenseiter kommentierte. Der Film war Dialektik pur. Und mit der an Antonioni gemahnenden Weltverlorenheit dieses von Sergio Corrieri grossartig gespielten Sergio hatte Alea einen Antihelden geschaffen, der zwar die zu überwindende alte Gesellschaft verkörperte, gleichzeitig aber Wahrheiten aussprach, die ihn zum Sympathieträger werden liessen. Demgegenüber ist Solás' Lucía, ein Werk über Unterdrückung dreier Frauen in drei unterschiedlichen Epochen (1895, 1932, 1961), ein so opulenter wie von einem erstaunlich feministischen Geist erfüllter Episodenfilm, der mit der delirierenden Kamera von Jorge Herrera bisweilen psychedelisch anmutende Momente schafft und so durchaus etwas vom Geist von 1968 ausstrahlt.
Was unglaublich virtuose Kameraarbeit betrifft, so setzt in dieser Reihe ein Film Massstäbe, der einige Jahre früher (1962 bis 1964) entstanden, allerdings nur ein «halber» kubanischer Film ist: Soy Cuba von Michail Kalatosow und Enrique Piñeda Barnet. Der vierteilige Episodenfilm, eine Hymne an die kubanische Revolution und die einzige je realisierte sowjetisch-kubanische Koproduktion, ist sowjetisches Revolutionskino in der Tradition eines Pudowkin oder Eisenstein, verpflanzt in das tropische Ambiente eines Landes, das sich soeben vom neokolonialistischen Joch befreit hat. Ähnlich wie Eisenstein in Que viva Mexico! (1932) die mexikanische Revolution in einer sowjetischen Optik sah, taten dies in Soy Cuba auch Kalatosow (der 1957 mit Wenn die Kraniche ziehen weltberühmt geworden war) und seine beiden Kameramänner Sergei Urusewski und Alexander Calzatti. Der atmosphärisch von slawischem Pathos und russischer Feierlichkeit getragene Film verblüfft mit seinen Abfolgen von ungewöhnlichen Winkeln und Verkantungen, von atemberaubenden Kran- und Dolly-Fahrten. Allerdings gefiel er bei seinem Erscheinen weder den sowjetischen noch den kubanischen Behörden. Während Erstere bemängelten, der Film verherrliche in seiner Darstellung des Lebens im vorrevolutionären Havanna den Kapitalismus, sahen die Kubaner die Revolutionäre als zu zögerlich und zu wenig kampfentschlossen dargestellt. So verschwand Soy Cuba bald nach seinem Erscheinen, und erst 1992 wurde durch Zufall eine Kopie im Archiv der renommierten Filmschule von San Antonio de los Baños ausserhalb von Havanna gefunden. Von da an erlebte Soy Cuba einen Siegeszug durch die Cineastenwelt, und 2004 drehte Vicente Ferraz, ein junger brasilianischer Absolvent der Filmschule, einen Dokumentarfilm über die verschlungene Entstehungsgeschichte dieses Erfolgs. Sein Titel spricht für sich: Soy Cuba, o mamute siberiano.
Geri Krebs