Chronique d'une disparition - Chronik eines Verschwindens nannte der palästinensische Regisseur Elia Suleiman seinen ersten, 1996 erschienenen Spielfilm. Der Titel ist programmatisch für das gesamte palästinensische Filmschaffen. Wir zeigen je drei Spielfilme von Elia Suleiman, Hany Abu-Assad und Annemarie Jacir sowie zum Auftakt Hochzeit in Galiläa von Michel Khleifi, der mit seinem Schaffen den Weg für die folgenden Generationen bereitete. Den Abschluss macht Wajib, der neue Film von Annemarie Jacir, den wir als Vorpremiere und in Anwesenheit der Regisseurin zeigen.
Irit Neidhardt
International ist die Filmproduktion nationalstaatlich organisiert, was sich beispielsweise in Länderreihen oder der Herkunftsangabe eines Films im Kinoprogramm zeigt. Staaten mit einer starken öffentlichen Filmförderung nutzen ihre Produktionen als kulturelle Diplomaten. Zur kulturellen Diplomatie, als Waffe, haben auch die nationalen Befreiungsbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre das Medium Film eingesetzt.
Das palästinensische Filmschaffen begann Ende der 1960er-Jahre im arabischen Exil. Die Werke, die in den verschiedenen Gruppen unter dem Dach der PLO entstanden, verfolgten primär das Ziel, Gegenöffentlichkeit herzustellen. Selbstbestimmung und Bildhoheit wurden propagiert. Abgesehen von einem Langspielfilm produzierte die PLO, den damaligen internationalen Gepflogenheiten entsprechend, kurze Dokumentarfilme. Artistisch spannten sie den Bogen von Lehr- und Informationsfilmen über den künstlerischen Dokumentar- zum experimentellen Stummfilm. Zwei Tabus zeichneten dieses Filmschaffen aus: Palästina wurde nicht kritisiert, also gesellschaftliche Geschlossenheit suggeriert. Während die Forderung nach Rückkehr der Flüchtlinge und damit die Umsetzung des Artikels 11 der UN-Resolution 194 vom Dezember 1948 ein Kernanliegen der PLO ist, wurde die Rückkehr nie konkret dargestellt. Mit dem Abzug der PLO-Führung aus Beirut im Spätsommer 1982 kam das Filmschaffen der Befreiungsbewegung nahezu zum Erliegen. Kurz zuvor, 1980, war die erste unabhängige palästinensische Produktion veröffentlicht worden. In seinem abendfüllenden Dokumentarfilm Das fruchtbare Gedächtnis brach der Regisseur Michel Khleifi mit beiden Tabus.
Khleifi stammt, wie seine jüngeren Kollegen Elia Suleiman und Hany Abu-Assad, aus Nazareth. Sie kommen, wie man auf Arabisch sagt, «von drinnen». Damit unterscheiden sich ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen fundamental von denen ihrer palästinensischen Kolleginnen und Kollegen im Exil. Die Palästinenserinnen und Palästinenser, die meist als Binnenflüchtlinge in dem Gebiet blieben, das 1948 zu Israel wurde, lebten von 1949 bis 1966 unter israelischer Militärverwaltung. Ihre Bürgerrechte waren weitgehend ausser Kraft gesetzt. Die nachhaltigen Auswirkungen dieser Zeit auf Individuum und Gesellschaft zeigt Emile Habibis Schlüsselroman «Der Peptimist oder von den seltsamen Vorfällen um das Verschwinden Saids des Glücklosen» (1974). Dazu gehören Entfremdung und das gegenseitige Misstrauen innerhalb der palästinensischen Bevölkerung, welches von der starken israelischen Geheimdiensttätigkeit in den palästinensischen Ortschaften herrührt. Die Motive von Entsolidarisierung und Kollaboration ziehen sich direkt oder indirekt durch sämtliche palästinensische Filmproduktionen «von drinnen».
Während die Filmschaffenden der PLO in der Regel staatenlos waren, haben diejenigen «von drinnen» einen israelischen Pass, der ihnen relative Reisefreiheit und Aufenthaltsgenehmigungen in Westeuropa ermöglicht. Vor allem dort finden sie cineastische Referenzen sowie die Finanzierung für ihre filmischen Arbeiten.
Michel Khleifi ging 1971 nach Brüssel, wo er Theater studierte, bevor er sich dem Film zuwandte. Er sei nicht zum Kino gekommen weil er cinéphil war, sondern um Palästina verteidigen zu können, so der Regisseur in einem früheren Interview mit der Autorin dieses Textes. In seinen Spielfilmen, besonders in Hochzeit in Galiläa (1987), hält er mit einer gewissen Besessenheit die Kultur fest – Bräuche, Farben, Klänge –, wissend, dass sie aufgrund der Besatzung verschwinden werden. Gleichzeitig seziert der Regisseur die Realität schonungslos und liebevoll, blickt präzise auf die Menschen, ihren sozialen Umgang, ihre Sorgen und Bedürfnisse, weil für ihn nur auf dieser Grundlage politische Lösungen möglich sind.
Damit hat Khleifi den Weg für folgende Generationen bereitet. Mit ihren sehr unterschiedlichen künstlerischen Handschriften klagen Elia Suleiman und Hany Abu-Assad die Besatzung an und legen den Finger in die Wunden ihrer Gesellschaft.
Suleiman hat sich dem Autorenfilm verschrieben. Für ihn, sagte Suleiman der «Krytyka Polityczna», schaffe «ein wahrhaft politischer Film einen offenen Raum, in dem sich das Publikum emanzipieren kann, indem es die Bedeutung der Bilder, die man anbietet, mit herstellt». Dieser partizipatorische Ansatz erfordert eine tiefe Kenntnis der im Film verwendeten politischen, historischen und sozialen Codes seitens des Publikums, das im Falle des unabhängigen palästinensischen Films vor allem im Westen zu finden ist. So verwundert es nicht, dass Suleimans Bildraum sich von seinem ersten zu seinem dritten und bisher letzten Spielfilm zunehmend geschlossen hat.
Das Palästinensische Kulturministerium schickte mit Intervention divine (2002), Suleimans zweitem Spielfilm, erstmals einen Beitrag ins Rennen um den Oscar für den besten nicht englischsprachigen Film. Die Einreichung wurde zurückgewiesen, weil Palästina kein international anerkannter Staat sei. Da jedoch Bewerbungen aus Hongkong, Taiwan und Puerto Rico um die begehrte Trophäe zugelassen sind, akzeptiert die Akademie in Hollywood seit 2004 nun auch palästinensische Einreichungen.
Hany Abu-Assads Paradise Now (2005) und Omar (2013) haben es bis zur Oscar-Nominierung geschafft. Als die Ernennung des massgeblich mit deutschen Fördergeldern finanzierten Paradise Now bekannt wurde, verkündete das deutsche Magazin «Focus»: «Vier Filme im Rennen. Deutsche stolz wie Oscar. Die Vorauswahl für die Oscars ist so deutlich wie noch nie von Deutschen geprägt.» De jure ist Paradise Now ein deutscher Film.
Unter den unabhängigen Filmschaffenden Palästinas ist Abu-Assad der einzige, der Genrekino macht. Seine neueren Filme finden grossen Anklang beim palästinensischen Publikum, Omar lief vier Wochen lang im Kino in Ost-Jerusalem, eine absolute Ausnahme für einen palästinensischen Film. Viele sagten, sie sähen sich das erste Mal in ihrem Kino gespiegelt und repräsentiert. Wenn sonst auf die eigenen Filme Bezug genommen wird, dann eher, weil ein wichtiger Filmpreis aus dem Ausland die Menschen mit Stolz erfüllt. Den Film zu kennen, braucht man dafür nicht.
Annemarie Jacir realisierte ihren ersten Film aus dem US-amerikanischen und den zweiten aus dem jordanischen Exil. Das Drehbuch für ihr neustes Werk, Wajib (2017), schrieb sie, als sie bereits in der palästinensischen Stadt Haifa wohnte. Ihrem Oeuvre chronologisch zu folgen, wozu diese Filmreihe Gelegenheit bietet, bedeutet buchstäblich, sich Palästina zu nähern. Cineastisch gesehen vom Blick auf eine mehr oder weniger einheitliche palästinensische Gemeinschaft zum Eintauchen in eine vielschichtige und kontroverse Gesellschaft.
Irit Neidhardt betreibt mec film, eine internationale Verleih- und Vertriebsfirma für arabische Filme, und arbeitet als Autorin, Kuratorin und Referentin zum Themengebiet Kino und arabische Welt. Sie lebt in Berlin.