Jean-Pierre Melville: Pate des französischen Kinos
01. – 28.06.2023
Jean-Pierre Melville (1917–1973), dessen Todestag sich am 2. August zum 50. Mal jährt, ist der grosse Stilist des französischen Kinos. Mit rigoroser Konsequenz deklinierte er in Meisterwerken wie Le samouraï oder Le cercle rouge die formalen Elemente des Gangsterfilms durch, im Genrekino bearbeitete er dieselben Themen wie Michelangelo Antonioni im Kunstfilm: Leere und Entfremdung in einer modernen Welt. Wir zeigen 11 seiner 13 Filme, vom Erstling Le silence de la mer (1949) bis zu seinem letzten Film Un flic (1972).
Gerhard Midding
Ein Mann liegt auf dem Bett und zündet sich eine Zigarette an. Der Rauch schwebt bis zum Käfig eines Vogels, der sein einziger Gefährte ist. Strassenlärm und das Rauschen des Regens dringen durch das Fenster hinein. Es ist später Nachmittag und Jeff Costello bereitet sich auf seinen nächsten Auftrag vor. Er soll einen Nachtclubbesitzer erschiessen. Zum Abschied streicht er mit einer Handvoll Geldscheinen am Gitter des Käfigs entlang. Er nimmt seinen Trenchcoat vom Garderobenhaken, knotet dessen Gürtel fest und zieht vor dem Spiegel die Krempe seines Hutes zurecht.
So beginnt Le samouraï (1967), dessen Titel auf den Ehrenkodex einsamer Kämpfer verweist. Die Hauptrolle hat Jean-Pierre Melville für Alain Delon geschrieben, mit dem er schon lange arbeiten will. Als er ihm das Drehbuch vorliest, unterbricht ihn der Schauspieler: «Sie lesen mir nun schon siebeneinhalb Minuten vor und es ist noch kein einziger Dialogsatz gefallen. Das genügt mir. Ich mache den Film.» Der Legende nach führt Delon ihn in sein Schlafzimmer, wo ein Samurai-Schwert hängt. Ein Pakt ist geschlossen, der drei gemeinsame Filme halten wird.
Melville liebt das gesprochene Wort – Le silence de la mer (1949) und Les enfants terribles (1950) belegen das eindrücklich –, aber er misstraut ihm. Seine Helden sind wortkarg, sie verwirklichen sich im Handeln. Er ist ein Regisseur, der das Schweigen versteht: nicht als Abwesenheit, sondern als eine komplexe Präsenz. Das Nichtgesagte eröffnet Welten in seinen Filmen. Die Rigorosität seiner Regie entspricht der asketischen Professionalität seiner Charaktere. Seine besten Filme besitzen einen Grad an Abstraktion, der noch heute modern wirkt. Sie sind cool und stecken voller philosophischer Tiefe.
Mit der Wirklichkeit haben sie wenig gemein. Zwar hat Melville sich als Kind mit Jugendbanden in Montmarte herumgetrieben und verkehrt während des Zweiten Weltkriegs in der Unterwelt von Marseille. Aber in seinen Filmen ist sie, wie er gern betont, genauso erfunden und umgestaltet wie die europäischen Königshäuser, deren sich Shakespeare in seinen Dramen bedient. Er verleiht ihr eine mythische, tragische Dimension. In der Welt des Verbrechens entdeckt er ein Modell für das menschliche Leben in seiner wesentlichen Ausformung. Seine Vorliebe für Kriminalfilme rührt auch aus der Klarheit, mit der sich in diesem Genre moralische Fragen verhandeln lassen.
Sie sind Kino in Reinform. Melvilles Stil ist elegant, von überlegter Zurückhaltung und unbedingter Präzision. Er ist einzigartig, hat aber viele prominente Nachahmer gefunden, darunter Walter Hill, Jim Jarmusch, Michael Mann und Quentin Tarantino. Nachdem John Woo Le samouraï gesehen hat, lässt er sich die Haare kurz schneiden wie Delon und trägt die gleiche Krawatte wie er.
Schon als Kind begeistert Melville sich für das Kino. Mit sieben Jahren bekommt er von seinen Eltern eine Pathé Baby geschenkt, jene legendäre Schmalfilmkamera, mit der man eigene Filme drehen und vorführen kann. Später verbringt er, wann immer es möglich ist, den ganzen Tag im Kino: Er geht in die erste Vorstellung um neun Uhr morgens und kehrt erst spätnachts heim. Zu einem Zeitpunkt, als es diesen Begriff noch gar nicht gibt, wird er ein Cinéphiler. Er betreibt diese Leidenschaft fanatisch, anspruchsvoll und mit geradezu wissenschaftlicher Akribie.
Noch während des Weltkriegs, an dem er zunächst als regulärer Soldat und dann als Mitglied der Résistance teilnimmt, träumt er davon, ein eigenes Filmstudio zu errichten. Nach der Befreiung von Paris findet er eine alte Fabrikhalle in der Rue Jenner nahe der Place d’Italie. Dort entsteht das zukünftige Zentrum seiner Existenz. Er hat keine Kontakte im Filmgeschäft, will aber um jeden Preis einen Schlüsselroman über die deutsche Besatzung verfilmen: «Le silence de la mer». Der Autor Vercors zögert, sein Buch in die Hände eines Unbekannten zu geben. Melville verspricht ihm, den Film zu verbrennen, falls er ihm nicht gefallen sollte. Er dreht ihn ohne Filmförderung und ohne Zustimmung der mächtigen Gewerkschaften. Zeitweilig besteht das Team nur aus ihm, dem Kameramann, dem Toningenieur und den Schauspielern. Der vermeintliche Autodidakt, der das Kino jedoch genau kennt, schöpft die erzählerischen Möglichkeiten des Stoffes souverän aus.
Dieser Freischärler findet rasch Bewunderer. Für die jungen Kritiker der «Cahiers du cinéma» und späteren Regisseure der Nouvelle Vague wird er zum Vorbild. Sie entdecken in seinen Filmen eine eigene, unverwechselbare Handschrift, die sich radikal unterscheidet vom herkömmlichen französischen Kino. Er ist ein auteur, der nicht nur Regie führt, das Drehbuch schreibt und die Szenenbilder entwirft. Den poetischen Prolog über Montmarte spricht er zu Beginn von Bob le flambeur (1956) selbst. In Deux hommes dans Manhattan (1959) spielt er eine der Hauptrollen.
Seine Autorenschaft geht auf dem Set mit einem rigorosen Autoritätsanspruch einher. Er hat den Ruf, ein Tyrann zu sein. Mit lethargischen Technikern kennt er kein Pardon. Auch seine Zerwürfnisse mit Darstellern wie Jean-Paul Belmondo und Lino Ventura sind epochal. Seine Regieassistenten leiden wohl am meisten unter ihm, andererseits lernen drei von ihnen (Yves Boisset, Volker Schlöndorff und Bertrand Tavernier) genug, um später selbst grosse Regisseure zu werden. Bei der Vorbereitung seiner Filme geht er so methodisch vor wie Gangster bei der Planung eines Coups oder die Polizisten, die ihnen eine Falle stellen. Seine Inszenierung ist wie eine Choreografie, die auf den Millimeter genau festgelegt ist. Er stellt sich immer neue, grössere Herausforderungen. Die zehnminütige Szene aus Le Doulos (1962),in welcher der undurchsichtige Silien (Belmondo) von einem Kommissar verhört wird, dreht er in einer einzigen Einstellung, ohne einen einzigen Schnitt. Das Genrekino dient ihm als Terrain radikaler Stilübungen. Intensiv beschäftigt er sich mit der Frage der filmischen Dauer. Den Überfall auf einen Platin-Transport in Le deuxième souffle (1966) filmt er in einer solchen Ausführlichkeit, dass die Sequenz in Realzeit abzulaufen scheint. In Le cercle rouge (1970) überbietet er dieses Bravourstück noch mit der halbstündigen, stummen Sequenz, die den Einbruch in das Juweliergeschäft an der Place Vendome zeigt.
Melville dekliniert die erzählerischen Möglichkeiten des Kriminalfilms systematisch durch. Le Doulos ist eine filmische Meditation über die Lüge; der Ausgangspunkt von Le samouraï ist die Frage, wie man das perfekte Alibi konstruieren kann. Le cercle rouge ist eine Anthologie sämtlicher Situationen, die in einem Gangsterfilm vorkommen können. (Er hat ausgerechnet, dass es genau 19 sind.) Er ist stolz, in Un flic (1972) als Erster einen Überfall auf einen fahrenden Zug von einem Hubschrauber aus zu filmen. «Jedes Mal, wenn Jean-Pierre Melville einen neuen Film herausbringt», schreibt ein Kritiker, «reservieren alle Filmemacher, auch die, die ihn hassen, einen Platz im Kino, um zu sehen, wie er es macht.»
Der grössten Herausforderung seiner Karriere stellt er sich mit der Verfilmung von Joseph Kessels L'armée des ombres (1969), einem weiteren Schlüsselwerk der Widerstandsbewegung. Melvilles Adaption reflektiert eigene Erfahrungen. Auf eine Sequenz ist er besonders stolz: In einer langen Totalen zeigt er den Aufmarsch einer deutschen Militärparade vor dem Pariser Triumphbogen. Es ist die bis dahin teuerste Einstellung der französischen Filmgeschichte. Mit ihr steht und fällt der Film. Melville schnauzt den Toningenieur an, weil er bei der Nachbearbeitung die Geräusche marschierender französischer Soldaten benutzt hat. Der Stechschritt deutscher Stiefel klingt ganz anders!
Im Kern verhandelt er hier die gleichen Themen, die ihn in seinen Gangsterfilmen umtreiben: Loyalität, Ehre und Verrat, Gefangenschaft, Flucht und Vergeltung. Nie erfahren wir die Gründe seiner Helden, sich im Widerstand zu engagieren. Aber wir begreifen ihr Handeln als getroffene moralische Entscheidung. Sie kämpfen für eine gemeinsame Sache. Das unterscheidet sie vom Personal seiner Kriminalfilme. Dort können sich seine Helden auf nichts anderes mehr berufen als sich selbst. So handeln seine letzten Filme auch von einem existenziellen Sinnverlust. Sie sind geprägt von der Nostalgie nach einer Vergangenheit, die nie existierte. Aber Melville bleibt dennoch Zeitgenosse seines Publikums. Er greift im Genrekino die gleichen Motive auf wie Michelangelo Antonioni im Kunstfilm: Leere und Entfremdung in einer modernen Welt, deren Antlitz anonym geworden ist.
Gerhard Midding ist freier Autor für Tageszeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen. Er lebt in Berlin.