Er begann als eine Art Popstar und entrückte zunehmend ins Feld des Legendären, des Unerklär- und Ungreifbaren. Am 3. Dezember wird Jean-Luc Godard 91. Wir widmen JLG eine Hommage in 20 Filmen, von seinem Erstling A bout de souffle bis zu Le livre d’image, seinem jüngsten Werk.
Stefan Grissemann
Die Menschheit hat in den vergangenen Jahrzehnten in Wellen zu denken gelernt, in Ausbreitungsszenarien und Flutbewegungen, die von Tsunami-Katastrophen bis zur Viruskrise reichen. Eine Gesellschaft in Schockstarre bereitet sich während der zweiten schon auf die dritte Welle vor, eine Nouvelle Vague sehnt sich heute niemand mehr herbei. Das Denken und die Kunst des Filmemachers Jean-Luc Godard aber verliefen seit jeher wellenförmig, Erstarrungszustände konnte er sich folgerichtig vom Leib halten. Mit dem Wogen hoher Gräser in einem Feld im Sturm und den kleinen Wellen, die sich nach Steinschlag in der Oberfläche stillen Wassers bilden, eröffnete Godard 1985 seinen Film Je vous salue, Marie. Und Nouvelle Vague nannte er fünf Jahre später dreist – tausend Wellen von der Stilrichtung, die er einst mitdefinierte, entfernt – eine seiner literatur- und filmzitatewütigen Inszenierungen.
Auf Instagram erschien Godard Anfang April 2020 als verquerer Geist der Filmgeschichte – im Hochformat einer Smartphone-Aufnahme, mit zittriger Stimme, aber hellwachem Geist, im grünen Pullunder, mit einer extradicken Zigarre: Auf Einladung Lionel Baiers, des Filmabteilungsleiters an der Kunsthochschule Lausanne (ECAL), gab er da ein gut anderthalbstündiges Live-Interview (siehe unten), das in gewohnt assoziativem Stil Malerei, Fernsehen und Schauspiel, Sokrates und Freud, Palästina und Corona berührte. In seinem 90. Lebensjahr beanspruchte Godard in bester Laune seinen Platz in den Sozialen Medien, als wäre in dieser Aktion irgendwo eine sehr gute Pointe versteckt.
Vor genau 71 Jahren waren seine frühesten filmkritischen Texte bereits erschienen; die Studien, die er als Teenager auf eigene Faust in den Pariser Cinéclubs absolviert hatte, waren entscheidend für die Wahl seines Metiers. Ab 1950 trat er als Kinodenker, als Kritiker und Nebendarsteller im Kino in Erscheinung, ab 1954 auch als Kurzfilmregisseur. Er erlebte und begleitete zwischen den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts und den Zwanzigerjahren des 21. alle künstlerischen, technischen und politischen Wandlungen seines Mediums. Und er wurde dabei immer eigenwilliger, immer abstrakter. Er blieb ethisch und ästhetisch mobil, entwickelte seinen Umgang mit den Bewegtbildmedien wie besessen bis ins hohe Alter weiter – und marginalisierte sich dabei absichtsvoll selbst. Er begann als eine Art Popstar und entrückte zusehends ins Feld des Legendären, des Unerklär- und Ungreifbaren.
Godards spezielle, zwischen Politisierung und Romantisierung changierende Cinéphilie geht auf seine Bekanntschaft mit Henri Langlois, dem Mitbegründer der Pariser Cinémathèque française, und mit dem Filmtheoretiker André Bazin zurück, der 1951 die Zeitschrift «Cahiers du cinéma» initiierte. Sie wurde zum Zentralorgan der Nouvelle Vague, in dem nicht nur Godard schrieb, sondern auch all die anderen jungen Wilden des neuen französischen Kinos theoretisieren und das Kino der Altvorderen mit viel Klugheit, Pathos und Selbstüberhöhung attackieren durften: Eric Rohmer, Jacques Rivette, François Truffaut und Claude Chabrol.
Die Nervosität, die Zeitzeugen dem kunst- und theoriehungrigen jungen Godard attestierten, prägt auch dessen Spielfilmdebüt, das er mit Ende zwanzig, fieberhaft und ungeduldig, ausser Atem eben, improvisierte. Er widmete A bout de souffle (1960), in Würdigung eines unabhängigen Low-Budget-Kinos, dem Studio Monogram Pictures, einer in den 1930er- und 1940er-Jahren produktiven B-Movie-Schmiede aus Hollywoods sprichwörtlicher Poverty Row, wo man mit ein paar Tausend Dollar wendige Aktionsfilme, vor allem Western, Krimis und Melodramen herstellen konnte. Mit Martial Solals jazzigem Soundtrack und der Comics-Seite einer Boulevardzeitung setzt Godard den Ton des Lässigen und Trivialen. «Alles in allem bin ich ein Arschloch», erklärt Jean-Paul Belmondo ungebeten aus dem Off, ehe der Poser wenige Sekunden später selbst ins Bild rückt, den Gangsterhut so tief über die Augen gezogen, dass er kaum noch etwas sehen kann, eine Zigarette zwischen den Lippen.
Anything goes in Godards Erstling, jeder freche Verstoss gegen die alte Filmgrammatik ist hier legitim, sogar erwünscht. Man spricht direkt in die Kamera, ins Auditorium der Kinos, freut sich über Jump-Cuts und Anschlussfehler, solange nur unentwegt darauf hingewiesen wird, dass der sogenannte Realismus im Kino eine höchst artifizielle Angelegenheit ist (und trotzdem sehr viel Spass machen kann): ein Befreiungsschlag. Raoul Coutard, an der Reportage geschult, agierte in den Strassen von Marseille und Paris mit radikal beweglicher, für alles offener Kamera, und Godard collagierte Erzählmuster, die eigentlich nicht zueinander gehörten. «Widerlich? Was soll das sein?», fragt sich (und uns) am Ende die Amerikanerin Jean Seberg, nachdem sie ihren Revolverhelden verraten und mit dem Ekelbegriff dégueulasse auf den Lippen sterben gesehen hat.
Collage und Selbstreflexion sind entscheidende Kategorien, um Godards sehr spezielles Kinoverständnis einordnen zu können. Als er 1957 Jean Renoirs späte Historienkomödie Elena et les hommes rezensierte, feierte er deren Spannweite: Sie biete «Kunst und Kunsttheorie in einem, Schönheit und deren Geheimnis, Kino und zugleich auch eine Grundsatzrede zu dessen Verteidigung». Man mag darüber rätseln, wo gerade in jenem Film Kunsttheorie und Kinoplädoyers zu finden seien, aber vermutlich meinte Godard in der zitierten Passage ohnehin eher sich selbst, den Regievirtuosen, der er werden sollte – und der es In Le mépris 1964 zuwege bringen würde, einen Brigitte-Bardot-Film (mit produktionsseitig erzwungener, sarkastisch «expliziter» Nacktszene) zu einer Studie der Eigenheiten seines Mediums umzubauen, ein schwelgerisch orchestriertes Beziehungsdrama mit filmtheoretischen Exkursen und avancierten Inside-Jokes zu verschmelzen.
Auch mit Filmen wie Une femme est une femme (1961) und Pierrot le fou (1965) erwies sich Godard als begnadeter Kino-Kolorist, seine primär- und signalfarbenen Inszenierungen wurden zur unverkennbaren Signatur. Doch das Korsett der Nouvelle Vague wurde Godard in Wahrheit schon Mitte der 1960er-Jahre zu eng, auch weil die Neue Welle des französischen Kinos unmittelbar nach den Premieren von Truffauts Les quatre cents coups (1959) und A bout de souffle so widerwärtig hell und aufgeregt in die Welt zu strahlen begonnen hatte. Das Folterdrama Le petit soldat (1960) drehte er nicht nur in Reaktion auf die laufenden Ereignisse im Algerienkrieg, sondern auch, weil man der Nouvelle Vague unterstellt hatte, sie zeige ohnehin nur Menschen, die in Betten herumliegen. Er setzte, während alle Welt von ihm nur Pop, Sex und Zeitgeist erwartete, auf politischen Schock und ideologische Konfusion. Ein erster Endpunkt war, 12 oder 13 Filme später, bald erreicht: Week End, Godards aktionistische Abrechnung mit Konsumismus und sozialer Idiotie nannte er einen «im Kosmos verirrten, auf dem Schrott gefundenen Film». Es ist ein surrealistisches Wald- und Wiesendrama, in dem Blechlawinen, sinnlose Gewalt und blutige Unfälle von zynisch gesetzter Hochkultur flankiert werden. Das Blut, das aus allen Körpern dringt, klebt wie aquarelliert in den Gesichtern der Menschen: Es sind die letzten Aufzeichnungen einer Todesgesellschaft.
Danach tauchte er in den linksradikalen Kunst-Untergrund ab. Mit dem militanten Kritiker Jean-Pierre Gorin gründete Godard, auch im Bann der Ereignisse im Pariser Mai 1968, die marxistisch-leninistische Groupe Dziga Vertov und begann, «kollektiv» organisierte Agitprop-Filme herzustellen. In dem stark formalisierten Fabrikarbeiter-Traktat Tout va bien (1972) gipfelte (und erschöpfte) sich die Zusammenarbeit von Gorin und Godard. Mit Anne-Marie Miéville, die bis heute an seiner Seite arbeitet, erschloss er sich Mitte der 1970er-Jahre die (heute vorsintflutlich anmutende) Videotechnik als neue cinécriture, als Instrument radikal persönlicher Filmarbeit. Die Video-Magnetbänder, die Filmgeschichte plötzlich für den Heimgebrauch verfügbar machten, ebneten Godard den Weg zu seinem Magnum Opus, den Histoire(s) du cinéma (1988-98). Dieses kulturarchäologische und gesamt-geistesgeschichtliche Unternehmen stellt den hochambitionierten Versuch dar, Kino- und Weltgeschichte über ein dichtes Netz aus Filmsplittern, Musikfragmenten und Zitaten aus Literatur und Philosophie gleichsam komprimiert und hochdruckerhitzt in zeitloser Gültigkeit erfahrbar zu machen. Die Botschaften, die von den aus allen Kontexten gerissenen Bild-, Text und Ton-Fundstücken gebildet werden, sind oft kryptisch. Aber das passt dem Filmemacher, schliesslich ist ja auch die Geschichte dieses Planeten, genau wie jene der bewegten Bilder, nicht ohne Mysterien. Die Überforderung ist für Godard der einzig sinnvolle Weg.
Das Sampling, das er betreibt, ist jedoch nicht elitär, sondern demokratisch gedacht: «Er betrachtet die Filmgeschichte eben auch als Historie eines Materials, das jeder Mensch benützen und bearbeiten können sollte», sagt die französische Filmtheoretikerin Nicole Brenez, die mit ihm unlängst gearbeitet hat: «Er liebt beschädigte Bilder, denn sie zeigen die Geschichte, die sie in sich tragen, am deutlichsten. Und ihm ist jede Quelle recht: Er sieht etwa leidenschaftlich gerne Tierdokumentationen im Fernsehen – und keinerlei Ironie darin, auch diese in seinen Filmen zu zitieren. Man muss, wenn man schon die Welt nicht befreien kann, wenigstens die Bilder freigeben. Seine Filme sind nicht anarchisch, sie sind anarchistisch: ästhetisch präzise geordnet, aber mit Aufruf zum Umsturz.» Vor den Bildern des absoluten Grauens des 20. und 21. Jahrhunderts verschliesst Godard die Augen daher nicht, er verschneidet Krieg und Leichenberge mit Meisterwerken des Kinos, der Malerei, der Klangkunst, der Poesie. Es gehe dabei immer um die Frage, hat Michael Althen geschrieben, wie sich die Kunst zu den Schrecken der Realität verhält. Für Le livre d’image (2018) hat Godard gar nichts mehr selbst gedreht, nur noch Material bearbeitet, ineinandergeblendet und kommentiert. Das Kino ist mehr als eine Kamera und ein Drehbuch. Es ist auch, neben vielem anderen, eine Reflexionsfläche.
Es gibt unter all den lebenden Kunstschaffenden niemanden, der das Kino so sehr (und dermassen vielgestaltig) definiert hat wie Jean-Luc Godard. Kultische Verehrung ist, bei allem Respekt, dennoch fehl am Platz: Weltanschaulich ist Godard keineswegs über jeden Zweifel erhaben. Seine Israel-Aversion beispielsweise, die auf der Parteinahme für das Existenzrecht Palästinas gründet und legitime Regierungskritik aber bisweilen überschreitet (er nennt sich «antizionistisch»), erscheint ebenso überschiessend wie der Sexismus, der sein Frauenbild in manchen Fällen kontaminiert. Godard ist ein «anstössiger» Künstler, im Guten wie im Schlechten. Er hat sich in den ambivalenten Ruf, den er heute geniesst, vergnügt zurückgezogen. «Aus einem Hipster avant la lettre, als der er 1960 erscheinen konnte», schreibt Bert Rebhandl in seinem 2020 erschienenen Buch zur Arbeit des Filmemachers, «ist ein Eremit geworden.» Aus dem Mainstream-Betrieb hat er sich früh ausgeklinkt: Godards Werk hat sich in eine Serie von «Meditationen» verwandelt, seine späten Werke sind als Randerscheinungen des Gegenwartskinos zu Kontemplationsobjekten für Eingeweihte geworden.
Die digitalen Bilder aber, die via Mobiltelefonie unsere Leben überfluten, interessieren ihn wie einst die Details des analogen Filmdispositivs: Unter den Semantiktrümmern, die er aus dem Off in seiner jüngsten filmischen Arbeit, dem knapp einminütigen Trailer zum Dokumentarfilmfest im tschechischen Jihlava 2018, formuliert, ragen die Begriffe «Utopie» und «Hoffnung» heraus. Die Rolle des Kulturpessimisten verweigert er auch in seinem neunten Lebensjahrzehnt konsequent. Filme seien ein Antibiotikum, orakelt Godard 2020 – auch wenn nicht ganz klar sei, welche Krankheiten sie heilen könnten oder sollten.
In einem Filmprojekt, das er unlängst angekündigt hat, will Godard zurück an den Ursprung des fotografischen Bildes, sich mit dem Heliografie-Pionier Joseph Nicéphore Niépce auseinandersetzen: Die Schatten im Silber reproduzieren, fixieren, kopieren und konstituieren Wirklichkeit, aber auf jeweils ungeahnte Weisen. Über das Kino und dessen traditionelle Räume denkt Godard inzwischen weit hinaus. Wie über die seinem Leben gesetzten Grenzen. In Allemagne 90 neuf zéro (1991) philosophierte er vor 30 Jahren über deutsche Geschichte, Faschismus und Mauerfall, über einen historischen Moment der Verwirrung und der Stagnation. Nun ist Godard selbst 91; Verwirrung stiftet er noch immer gerne, nur Stillstand hat er nicht zu bieten.
Stefan Grissemann leitet seit 2002 das Kulturressort des österreichischen Nachrichtenmagazins «profil». Er unterrichtet Filmgeschichte an der Wiener Filmakademie. Unter den Büchern, die er veröffentlicht hat, finden sich Publikationen zu Robert Frank, Peter Kubelka, Ruth Beckermann, Michael Haneke und Elfriede Jelinek. 2007 verfasste Grissemann eine Studie zur Arbeit des Regisseurs Ulrich Seidl, vier Jahre davor die erste Biografie des B-Picture-Stilisten Edgar G. Ulmer («Mann im Schatten»). Seine Texte zum Gegenwartskino erschienen u.a. in der FAZ, der Berliner «tageszeitung» und im New Yorker «Film Comment».
Bert Rebhandl: Jean-Luc Godard: Der permanente Revolutionär; Zsolnay Verlag 2020, 288 Seiten
https://www.youtube.com/watch?v=QYQhra_EMNk