Das Kino ist das Medium der Ekstase schlechthin, befreit es doch das fotografische Bild aus seiner Statik und bringt es in Bewegung. Die Filmgeschichte ist deshalb reich an Werken, die nicht bloss von Ausnahmezuständen erzählen, sondern davon selbst ergriffen sind. Die «Ekstase»-Ausstellung im Zentrum Paul Klee ist uns Anlass zu einer berauschenden Filmreihe von Dziga Vertovs Entuziazm und Gustav Machatýs Ekstase zu Werken von Maya Deren, Werner Herzog, Jean Rouch, Jonas Mekas, Peter Mettler, David Cronenberg, Terry Gilliam und Godfrey Reggio.
Rauschzustände sind dem Kino seit seiner Erfindung bestens vertraut, nicht zuletzt deswegen, weil auch das Kino selbst bereits in seiner Frühzeit unter dem Verdacht stand, ein Rauschmittel zu sein. So warnen in den 1910er-Jahren Ärzte wie der Neurologe Robert Gaupp davor, unsere Psyche sei der «nervenzerrüttenden» Macht der bewegten Bilder nicht gewachsen, und der Sozialreformer Victor Noack sieht zwischen Kinopublikum und Alkoholsüchtigen kaum einen Unterschied, wenn er schreibt, «so ein passionierter Kientoppschleicher unterscheidet sich, nachdem erst der obligate Schlager seines Stammkinos ihn in das gewöhnte Stadium der Gehirntaubheit versenkt hat, nicht sonderlich von dem Destillenbruder, dessen Gehirn die gewöhnte Ätherdusche empfangen hat».
Gewiss sind derartige Vorwürfe auch schlicht jenem Misstrauen geschuldet, das jedes neue Massenmedium unweigerlich hervorruft. Vor dem Kino stand bekanntlich bereits der Fortsetzungsroman im Verdacht, er würde die lesenden Hausfrauen süchtig machen, und heute, nachdem die Debatten um brutale Filme und gefährliche Computerspiele abgeflaut ist, wird das Suchtpotenzial sozialer Netzwerke debattiert.
Und doch ist die Analogie von Film und Rauschgift mehr als nur ein kulturpessimistischer Reflex, sondern trifft durchaus einen wesentlichen Aspekt des Mediums: Das Publikum in einen Zustand der Trance zu versetzen, ist nämlich durchaus eine der Ambitionen des Kinos, was man bereits an seiner Einrichtung sieht: Strahlende Bilder und durchdringende Klänge werden hier vorgeführt, während man in einem stillen, dunklen Saal sitzt und somit kaum anders kann, als sich ganz dieser Vorführung hinzugeben. Wer wollte da noch bestreiten, dass es dem Kino um Überwältigung unserer Sinne geht? Nicht zufällig wimmelt es bereits im frühen Film von Zauberern wie dem Illusionisten und Filmpionier Georges Méliès und Hypnotiseuren wie Fritz Langs Dr. Mabuse. Und auch spätere Filmschaffende praktizieren ihr Handwerk ganz bewusst als Verzauberung mit medialen Mitteln: Die Avantgardekünstlerin Maya Deren dokumentiert in einem Film wie Divine Horsemen: The Living Gods of Haiti nicht nur die haitianischen Voodoo-Rituale, sondern gestaltet ihre Trancefilme selbst wie eine Art schamanistisches Ritual, in denen sich das Publikum verlieren kann, und so ergeht es einem auch in den Tagebuchfilmen eines Jonas Mekas.
In seinen filmtheoretischen Manifesten stellte der russische Regisseur Dziga Vertov schon in den Zwanzigerjahren klar, dass das Potenzial des Kinos gerade nicht in der Nachbildung, sondern in der Überwindung menschlicher Wahrnehmung besteht. Und so, wie er im Stummfilm Der Mann mit der Kamera den Kamerablick vom menschlichen Sehen derart entkoppelt, dass uns schwindlig wird dabei (eine Technik, die dann Godfrey Reggio für sein Weltuntergangsgedicht Koyaanisqatsi noch perfektionieren wird), so fügt Vertov in seinem Tonfilm Entuziazm Klang und Bild so ungewohnt zusammen, dass einem bei dieser audiovisuellen Sinfonie buchstäblich Hören und Sehen vergeht. Bedenkt man, dass Vertovs Film dabei nicht nur als filmästhetisches Experiment, sondern zugleich auch als Propagandafilm zur Feier von Stalins Fünfjahresplan konzipiert war, wird einem zudem auch klar, warum politische Agitation und audiovisuelle Ekstase so gern kombiniert werden: Die Massen werden mit elektrisierenden Bildern und Klängen beschossen, um sie so in Bewegung zu setzen. «Montage der Attraktionen» nannte Eisenstein das – der in Aufruhr geratene Film soll beim Publikum den revolutionären Aufstand auslösen.
Ekstase – wortwörtlich meint der Begriff ja das Heraustreten aus dem Stillstand und ist damit auch einfach eine Beschreibung des Mediums an sich: Anstelle der Stasis der Fotografie zelebriert der Film die Ek-Stase des bewegten Bildes. Die vormals starren Abbildungen beginnen sich zu regen, sie geraten in Verzückung.
Ist also dem Film immer schon zwangsläufig etwas Ekstatisches eigen, dann umso mehr, wenn er seinem eigenen Bewegungsdrang ganz die Zügel schiessen lässt und schliesslich auch die Grenzen zwischen Inhalt und filmischer Form nicht mehr einhält, sondern lustvoll überschreitet. Auch Gustav Machatýs Ekstase um den Ausbruch einer Frau aus einer unbefriedigenden Ehe verdient den Titel vor allem wegen jenen Szenen, wo von der ekstatischen weiblichen Lust nicht nur erzählt wird, sondern diese die Bilder selbst ergreift, wie in jenen skandalösen Nahaufnahmen des Gesichts der Hauptdarstellerin Hedy Lamarr. Und sei es David Cronenbergs hypnotische Studie der Selbstzerstörungslust in Crash, Terry Gilliams rasender Streifzug durch den amerikanischen Alptraum in Fear and Loathing in Las Vegas oder Peter Mettlers Reise an die Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit in Gambling, Gods and LSD – bei ihnen allen entpuppt sich (auf je ganz unterschiedliche Weise) die Ekstase, von der sie berichten, zugleich auch als stilistisches Prinzip. Diese Filme handeln nicht nur vom Rausch, sie sind auch selber veritable Trips, bei denen man sich gut am Kinosessel festhalten muss, um nicht fortgeblasen zu werden. Eintritt auf eigene Verantwortung.
Nicht nur Thema und Form, sondern gar Arbeitsprinzip ist die Ekstase schliesslich bei Werner Herzog geworden. Er, der auch schon seine Darsteller unter Hypnose spielen liess, versetzte sich und sein Team für Filme wie Aguirre oder Fitzcarraldo auch geografisch in Ausnahmezustände und mithin an den Rand des Erträglichen. Passend, dass auch Herzog selbst seinen frühen Dokumentarfilm Die grosse Ekstase des Bildschnitzers Steiner als Schlüssel zum eigenen Werk sieht. Sein Bericht über den Schweizer Skispringer Walter Steiner ist zugleich ein Selbstbildnis des Filmemachers, der alles riskieren will für den ekstatischen Moment. Wie der Skispringer Steiner, der höher und weiter fliegt als alle Konkurrenten und dabei in einen lebensgefährlichen Flugrausch zu verfallen scheint, so mag auch Herzog mit seiner Kamera nicht auf Distanz bleiben. Mit Teleobjektiv und Zeitlupe geht das Bild so nah und so insistierend wie nur möglich an die segelnden Extremsportler und ihre im Flugwind verzerrten Gesichter heran, so dass das Publikum selbst den Atem anhält, in Trance gerät beim Anblick dieser schwebenden, sinkenden, oft genug stürzenden und zerschellenden Körper. Zwischen den Sprüngen aber redet Herzog auf seinen Protagonisten ein, redet ihm zu, redet ihn weiter – einer ultimativen Grenze entgegen. «Ekstatische Wahrheit» hat Herzog denn auch das genannt, wo er mit seinen Dokumentarfilmen hingelangen will – eine Wahrheit, die sogar noch den Rahmen des Faktischen sprengen will, mit allen denkbaren Mitteln. An das, was faktisch belegbar ist, diese «Buchhalter-Wahrheit», wie Herzog sie nennt, glaubt der Filmemacher nicht, sondern an eine Wahrhaftigkeit, die über alle Grenzen der Realität hinausschiesst und dabei nicht einmal davor zurückschreckt, wissentlich Fiktionen und Behauptungen, Lügen und Konstruktionen einzusetzen. So erlaubt sich Herzog in Grizzly Man, das Filmmaterial des von einem Bären zerfleischten Tierschützers Timothy Treadwell nach dessen Tod neu zu kommentieren, es gleichsam gewaltsam zu übersprechen. Und so wird, was Treadwell eigentlich als Beleg seiner innigen Naturverbundenheit gedreht hatte, bei Herzog zum Porträt eines wahnwitzigen Ekstatikers, der sich in seinem romantischer Rausch derart weit in die Abgründe einer sinnlosen und brutalen Natur begeben hat, dass es kein Zurück mehr gibt.
Und das ist zugleich die Paradoxie und das Versprechen des ekstatischen Kinos: Während Ekstase ja eigentlich nur momenthaft und nur als riskantes Grenzphänomen möglich ist, stellen die Filme von Herzog bis Mekas und Deren und von Vertov bis Mettler und Gilliam diesen Ausnahmezustand auf Dauer. Das Kino erlaubt es uns, in Ekstase zu geraten, stundenlang und immer wieder, um dann doch wieder unbeschadet aus dem Rausch zu erwachen. Bis zum nächsten Mal, dem nächsten Rausch, der nächsten Voführung.
Johannes Binotto
Johannes Binotto ist Kultur- und Medienwissenschaftler, freier Autor, Dozent und Forscher an der Universität Zürich und der Hochschule Luzern Design + Kunst sowie Mitarbeiter der Filmzeitschrift «Filmbulletin».
Die Ausstellung
«Ekstase», Zentrum Paul Klee, 4. April bis 4. August.