Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Russischen Revolution realisieren das Kunstmuseum Bern und das Zentrum Paul Klee gemeinsam die grosse Ausstellung «Die Revolution ist tot. Lang lebe die Revolution!» (13.4.-9.7.2017). Wir zeigen dazu ein Programm mit sowjetischen Stummfilmen, live am Piano von Christian Henking begleitet, die den revolutionären Aufbruch aufnehmen. Und mit Filmen, welche die Folgen der Revolution ästhetisch und politisch reflektieren.
Die Russische Revolution ist zwar längst Geschichte, doch klingen ihre grossen Anliegen immer noch nach. Die Verbesserung der Lebensumstände für grosse Teile der Bevölkerung, Gemeinschaft mit Menschen anderer Kulturen, Aufwertung der Rechte von Arbeitnehmern, gerechtere Verteilung von Besitz, Ressourcen und umfangreiche politische Mitsprache für alle: Diese Themen haben bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren, obwohl das «sowjetische Experiment» – «sowjets» bezeichnet die demokratischen Volksräte, die sich jeweils spontan in Revolutionen bilden – , das auf die Revolution folgte, mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 für gescheitert erklärt werden musste. Es schien, als habe damals endgültig der Kapitalismus über den Sozialismus gesiegt. Und doch ist die Geschichte nicht zu Ende, wie viele Revolutionen auf der ganzen Welt in den letzten Jahrzehnten beweisen. Dabei spielen auch Kunst und Filme eine tragende Rolle. Schon vor hundert Jahren standen sie ganz im Dienst des revolutionären Aufbruchs und sollten die Massen nicht nur aufklären, sondern auch zu einer besseren Gesellschaft erziehen – zu einer Gesellschaft, die es so noch nicht gab und bis heute nicht gegeben hat. Da die Bevölkerung damals zu grossen Teilen aus Analphabeten bestand, mussten die visuellen Künste Informationen liefern, Bewusstsein wecken sowie die revolutionären Gefühle warmhalten, selbst als unter Stalin die Strukturen des neuen sowjetischen Staates längst zum Totalitarismus erstarrt sind und sich die Regierung mit perfiden Schauprozessen, zahlreichen Todesurteilen und massenweiser Verschickung in Zwangsarbeitslager (Gulag) gegen die eigenen Bürger zu richten begann.
1928 war mit Stalin ein Herrscher auf Lenin gefolgt, der aus der Position des Parteisekretärs für sich eine Machtstellung schmiedete, die dem vorherigen, umgestürzten Zaren an Willkür und Machtmissbrauch in nichts nachstand. Im Gegenteil: unter ihm wurde ein Terrorregime errichtet, das bis heute historisch nicht erschöpfend aufgearbeitet wurde und nach vorsichtigen Schätzungen etwa 25 Millionen Todesopfer zur Folge hatte. Dieser «soziale Holocaust» schwärt auch im neuen Russland weiter und zeigt sich in der schwierigen Mischung aus imperialistischen, nationalistischen und chauvinistischen Tendenzen, welche die aktuelle Politik prägt (Ulrich Schmid, Technologien der Seele, Suhrkamp Berlin 2015).
Die als Begleitprogramm der Ausstellung ausgewählten Filme zeigen nun nicht einfach die propagandistische Sicht der Partei, denn dieser Blickwinkel war erst 1934 mit der von oben verordneten Idee des Sozialistischen Realismus vollzogen, sondern das filmische Ringen um die richtige Form. In der Rückblende auf die ersten Filme, welche nach der Oktober-Revolution 1917 und den Bürgerkriegswirren folgten, wird der unglaubliche Weg der Sowjetunion sowie die damit gescheiterten Hoffnungen und Aspirationen nachgezeichnet. Mit den international bekannten Stummfilmklassikern der 1920er-Jahre von Sergej Eisenstein und Dsiga Wertow sowie zu entdeckenden Filmperlen von Lew Kuleschow und Leonid Trauberg – virtuos am Klavier begleitet von Musiker, Komponist und Chorleiter Christian Henking (Ensemble Proton Bern) – wird der Boden gelegt für die Reflexion der Geschehnisse vor hundert Jahren und ihren Auswirkungen. Jene frühen Jahre des sowjetischen Kinos waren geprägt von Optimismus, Aufbruchsstimmung und ehrlichem Bemühen, das rückständige Russland in eine fortschrittliche moderne Industrienation umzuwandeln. Die damals entstandenen Filme mussten im Inland wie im Ausland für die neue Gesellschaftsform werben. Der Staat war der alleinige Auftraggeber und Vergabekriterien wurden ideologisch gehandhabt. Trotzdem entstanden auch humorvolle oder sogar selbstkritische Werke, welche die grossen ideologischen Ansprüche auf das Leben der einfachen Menschen herunterbrachen und deren Nöte in den Mittelpunkt stellten. Nach dem Tod Stalins 1953, als politisches Tauwetter eintrat, wurde es auch möglich, sich kritisch mit der vergangenen Geschichte auseinanderzusetzen. Der grossartige Wenn die Kraniche ziehen (1957) verbindet die Kritik am 2. Weltkrieg mit einer bewegenden Liebesgeschichte und endet als Plädoyer für die Menschlichkeit. Aus den 1970er-Jahren kam hingegen die beeindruckende Analyse der polnischen Verhältnisse von Andrzej Wajda in Der Mann aus Marmor und Der Mann aus Eisen. Anhand eines sozialistischen Heldens, der in Ungnade fiel, werden die Mechanismen des Systems offengelegt. Wie auch in den 1980er-Jahren die Ursprünge der Solidarnosc-Bewegung sowie ihre Verflechtungen mit der vorhergehenden Zeit analysiert werden.
In den 1990er-Jahren drehte Nikita Michalkow den opulenten Spielfilm Soleil Trompeur, der die Stalinzeit mit ihren brutalen Säuberungen anhand einer tragischen Dreiecksgeschichte von Liebe, Freundschaft und Verrat darstellt. Der als Resultat der Perestroika im Westen gefeierte Film war Auftakt einer Trilogie, welche in immer blutigeren Schlachtengemälden mehr und mehr der Stalinnostalgie frönte und damit gleichzeitig die sich radikalisierende politische Haltung Michalkows, der heute zu den grössten Unterstützern Putins gehört, nachzeichnet.
Milo Rau und Karin Rothe nähern sich schliesslich aus heutiger Sicht ihre Themen. Während Milo Rau in Die Moskauer Prozesse die politische Abrechnung mit dem Punkkollektiv Pussy Riot re-inszeniert und als Paradebeispiel für die Bedrohung der Meinungsfreiheit unter Putin vorführt, lässt Karin Rothe in ihrem dokumentarischen Animationsfilm die Künstler zu Worte kommen und stellt deren Erleben der Revolution 1917 in den Mittelpunkt. Hier schliesst sich der Kreis zum Anliegen der Ausstellung, in der weitere Kurzfilme und Videowerke, welche die Revolution und ihre Folgen kritisch reflektieren, bewundert werden können.
Kathleen Bühler
Die Autorin ist zusammen mit Michael Baumgartner und Fabienne Eggelhöfer Kuratorin der Ausstellung «Die Revolution ist tot. Lang lebe die Revolution!»
Die Stummfilmvorstellungen mit Christian Henking am Piano werden unterstützt vom Migros-Kulturprozent.