Im Verlaufe seines langen Lebens komponierte der Römer Ennio Morricone (1928–2020) an die 500 Filmsoundtracks. Kaum je banal, immer unverkennbar Morricone, erfüllten die meisten einfach ihren Zweck. Nicht wenige aber passten so, als wäre das Kino just für sie erfunden worden. In diesen lichten Momenten transzendierte seine Musik Raum, Figur, Erzählung – und die Leinwand brannte. In unserer Hommage an den Maestro zeigen wir zwölf Beispiele, darunter Filme von Sergio Leone, Terrence Malick, Pier Paolo Pasolini, Henri Verneuil, Sergio Corbucci.
Benedikt Eppenberger
In Rom konnte, wer den Namen der Kirche kannte, während Jahren jeweils am frühen Sonnabend Ennio Morricone leibhaftig Orgel spielen hören. Der gläubige Katholik versah dort seinen Kirchendienst und spielte, zur Irritation der vereinzelt unter den Gläubigen sitzenden Fans, ausschliesslich sakrale Stücke, streng innerhalb der Liturgie und ganz ohne Ausflüge in die Soundwelten, welche der Maestro für Filme aller möglichen Genres geschaffen hatte. Beharrlich weigerte sich Morricone an diesem Ort, das Sakrale mit Profanem zu mischen. Zuletzt hatte er einen Posten als Berater am römischen Vikariat mit der Begründung abgelehnt, die Abwertung der Gregorianik im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils nie verwunden zu haben. Dies, weil damals «mit Gitarre und weltlicher Musik die katholische Liturgie um 500 Jahre zurückgedreht» worden sei.
Mit Morricone beklagte ausgerechnet jener Mann die Öffnung der katholischen Kirche Mitte der 1960er-Jahre, der just zur selben Zeit mit seinem Sound das populäre Kino neu aufmischte. Es waren Jahre der gesellschaftlichen Umwälzungen, in welchen der eher unpolitische Morricone zum bevorzugten Soundtrack-Lieferant für Kommunisten wie Bernardo Bertolucci, Elio Petri, Gillo Pontecorvo oder Pier Paolo Pasolini wurde. Heute zum Teil vergessen, bildeten diese Filmemacher damals eine avantgardistische Speerspitze, die ein neues populäres Kino wollte. Angeleitet vom Revolutionstheoretiker Antonio Gramsci (1891 – 1937), der stehts darauf bestanden hatte, dass man als Kommunist nicht nur die populäre Kultur als Produktion des Alltagswissens ernst nehme, sondern immer auch einen Dialog mit der traditionellen Hochkultur und am Ende Übernahme und Versöhnung anzustreben habe, übten sich die Filmemacher in Dialektik.
Das Ergebnis waren zahlreiche eigenwillige Meisterwerke des italienischen Films, die in den Kinos aber, aus Sicht des Partito Comunista Italiano (PCI), das Volk aus den «falschen» Gründen ergriff. In Folge überwarfen sich sowohl Pasolini, wie auch Bertolucci, Petri und Pontecorvo mit dem PCI, an dessen betonierter Vorstellung von Populärkultur jeder dieser vier Individualisten über kurz oder lang verzweifeln musste. Morricone blieb von diesen Kämpfen weitgehend verschont, denn die, die ihn engagierten, interessierten sich nicht für Linientreue, sondern für die einzigartige Fähigkeit des Römers, alte und neue, klassische, gegenwärtige und futuristische, harmonische und disharmonische Sounds so zu arrangieren, dass die Musik Räume, Figuren und Geschichten im Kino zum kollektiven Traum zusammenführte und dieser Verbindung eine Dynamik gab, wie man sie bis dahin nicht kannte.
Dabei war das, was er lieferte, nie Produkt eines Ideologen oder einer exaltierten Künstlernatur. Zeitlebens war der Maestro ein kontrollierter Mensch, der mit derselben Ernsthaftigkeit und Disziplin, mit welcher er seinen Orgeldienst versah, auch die einfältigsten Erotikfilme mit eingängigen Melodien versah und Schlager mit raffinierten Arrangements davor bewahrte, zu reinem Gefühlskitsch zu werden. Mit nüchterner Neugierde erforschte der studierte Musiker, Komponist und Arrangeur mit Avantgarde-Gruppen auch die chaotischen Geräusch- und Lärmkulissen des Alltags, um dabei gefundene «natürliche» Klänge wie seltene Insekten aufzupinnen und ins abenteuerlichste Verhältnis zueinander zu setzen.
Morricones Sound stand immer auch für sich allein; mythenschaffende Kraft und dynamisierendes Potential aber entwickelte seine Musik vor allem dann, wenn er einem Filmemacher zuarbeiten konnte, der im populären Kino mehr sah als bloss eine kulturindustrielle Geldmaschinerie mit dem ewigneuen Opium fürs Volk. Es entstand etwas Unbeschreibliches, wenn dieser Musiker auf einen Bildgestalter traf, dessen Filme etwas zeigten, das besser und grösser war als die Wiederkunft des Ewiggleichen; es entstand Kino, das in seinen besten Momenten Ausbruch war aus diesem Elend und Vorschein einer besseren Welt. Der Mann, mit welchem sich Morricone in dieser Hinsicht am innigsten verbunden fühlte, war Sergio Leone.
Wie Godard & Co. war auch der Römer Leone am Ausgang der 1950er-Jahre ein Verehrer des alten Hollywood-Genrekinos. Im Gegensatz zur Nouvelle Vague mit ihrem elitären Auteur-Tick aber war der Italiener weniger Kopfmensch als vielmehr ein begnadeter Erzähler mit feinem Gespür für die unterschiedlichsten Formen von Spektakel. Erfahrungen gesammelt hatte Leone, dessen Vater und Mutter bereits in den Römer Filmstudios tätig gewesen waren, bei US-Produktionen wie Ben Hur (1959); mit dem bunten Antikenmärchen Il colosso di Rodi (1961) übernahm er 1961 ein erstes Mal die Regie. Leone befand sich zu Beginn der 1960er-Jahre mittendrin im italienischen Filmgeschäft, das damals ununterbrochen Filme ausspuckte, um den gewaltigen Kinohunger der Italiener und Italienerinnen zu stillen. Produziert wurde alles, was Erfolg versprach, und so verlegte man sich in Rom darauf, US-Erfolgsgenres wie Bibelepen, Ritter- und Horrorfilme, Krimis und Slapstick zu italianisieren und in horrendem Tempo in billigem Kulissenzauber in Szene zu setzen. Es war demnach nichts Aussergewöhnliches, wenn Leone 1963 seiner Produktionsgesellschaft vorschlug, es mit einem eigenen, auf das italienische Publikum zugeschnittenen Western zu versuchen.
Europäische, gar italienische Western waren durchaus schon vor Leones Per un pugno di dollari entstanden. Und Morricone hatte Filmmusik, auch Western-Soundtracks, bereits vor der ersten Zusammenarbeit mit seinem ehemaligen Primarschulkameraden komponiert. Dass er 1963 den Auftrag für Per un pugno di dollari erhielt, war zunächst nicht geplant. Denn Leone bestand ursprünglich auf dem Komponisten Francesco Lavagnino und Morricone musste ihm von der Produktionsfirma förmlich aufgezwungen werden. Der in Spanien mit Clint Eastwood abgedrehte Film war jenseits der üblichen, bisweilen höchst ungelenk von Hollywood-Vorbildern kopierten Dutzendware und bot Morricone Raum, mit der Musik ähnlich unkonventionell zu verfahren.
Wie Leone, der das amerikanische Vorbild nicht einfach kopieren wollte sondern «seinen» Western aus passenden Elementen des japanischen Samurai-Films, aus Comics-Strips, Märchen, der Commedia dell’arte und pikareskem Schelmenroman zusammengesetzt hatte, griff Morricone für den Soundtrack ebenfalls auf bestehendes Material zurück. Das Thema zur animierten Titelsequenz etwa, dessen zunächst lieblich gepfiffenen und mit akustischer Gitarre intonierten Melodiebogen er mit Hufgeklapper, peitschenden Pistolenschüssen, simplen Flötentönen und unartikuliert gebellten Wortfetzen vorwärtspeitschte, hatte Morricone ursprünglich für den kalifornischen Cowboy-Sänger Peter Travis «volkstümlich» arrangiert. Vor dieser mediterran gefärbten Musikkulisse hatte Travis den alten Woody Guthrie Song «Pastures of Plenty» vorgetragen, was dann so ganz und gar nicht wie der symphonische Pomp klang, mit welchem US-Western üblicherweise ins erhabene Landschaftspanorama mit seinen edlen Cowboys einzuführen pflegten.
Morricones oft mit volkstümlichen Musikinstrumenten gespielter oder mit wortlosen Gesangsstimmen geschriener, gehauchter und gepfiffener Sound hatte nichts Heroisches, sondern wirkte archaisch, arm, bodenständig, schmutzig, gefährlich, was half, eine Stimmung zu evozieren, in der – wie in der Natur – Liebliches und Spassiges jederzeit in Tod und Verderben umschlagen kann. Als Morricone Leone den Song vorspielte, sah dieser darin sein Westernkaff im Grenzgebiet zu Mexiko atmosphärisch perfekt getroffen; jenen wüsten Ort, bevölkert von hässlich-abgelebten Fressen, wo die Kojoten heulen, Kugeln die Stille zerreissen und von brutaler Gewalt niedergehaltene Menschen einzig darauf hoffen können, dass der nächste Fremde, der sich in ihre Gegend verirrt, noch etwas durchtriebener und treffsicherer ist als ihre furchtbaren Herren.
Vergleichbar dann das Vorgehen bei der später für den Italowestern so typischen Duellsituation, die Leone, neben anderem, als Handlungselement aus Kurosawas Samurai-Film Yojimbo (1961) übernommen hatte. Kulturell, atmosphärisch (und preislich) passte diese Form des ritualisierten Zweikampfes weit besser in den italienischen Western als (teure) Indianerüberfälle, worauf die Handlung in US-Western meistens hinauslief. Leone schlug hier zur Untermalung ein im John-Wayne-Western Rio Bravo (1956) gehörtes Stück vor, eine Trauerweise, die von den Mexikanern bei der Belagerung der Alamo in Endlosschlaufe gespielt worden sein soll, um die Texaner daran zu erinnern, wie ihre Zeit verrinnt und der Tod unausweichlich ist. Morricone löste das Stück aus dem historisch aufgeladenen Kontext, machte es wieder zu einer Musik, die Trauer ausdrückt, dabei die Zeit zerdehnt, die Spannung vor der erlösenden Explosion ins Unermessliche steigert, bis schliesslich der Tod als Gleichmacher und einzige Wahrheit übrigbleibt – all dies in einer kleinen Melodie.
Ein Jahr später, für ihren zweiten gemeinsamen Western Per qualche dollaro in più, liess Leone, entgegen der Gepflogenheit im Filmmusikgewerbe, Morricone schon vor Drehbeginn Musik-Themen zu einzelnen Figuren entwerfen und einspielen. Es sollte Leone helfen, seine psychologisch eher unterentwickelten Charaktere reicher und farbiger zu gestalten. Damit aber griff Morricone mit seiner Musik immer stärker ein ins Drama, akzentuierte Gemütszustände und schuf eine Atmosphäre die weit über den Bildrand hinausreichte. Leone liess es zu, denn er befand sich, wie er einmal nicht ohne Ernst sagte, mit Ennio Morricone in einer katholischen, also untrennbaren Ehe.
Dieser «Ehe» entsprangen danach mit Il buono, il brutto, il cattivo, C’era una voltà il West, Giù la testa und Once Upon a Time in America noch vier weitere Filme. Beide Künstler erweiterten sukzessive ihre Palette und verwoben Bild und Ton zu immer komplexeren Gebilden, die heute wie die Kathedralen der Pop-Moderne in der Filmlandschaft stehen. Als Sergio Leone 1989, fünf Jahre nach der Premiere von Once Upon a Time in America – ihrem einzigen gemeinsamen Film ausserhalb des Western-Genres – starb, hörte Ennio Morricone nicht auf, Musik fürs Kino (und TV) zu komponieren. Einen wie Leone aber sollte er nicht wiederfinden. Die Regisseure und Filmemacher, für die er jetzt arbeitete, waren oft mittelmässig; bisweilen waren es durch die Entwicklung der Filmwirtschaft zur Mittelmässigkeit verdammte Könner, oder aber Könner, die einen Morricone-Soundtrack bestenfalls noch als nostalgisches Signal zu setzen wussten – als Erinnerung an jene Zeit, als in der spanischen Wüste eine der verrücktesten Phasen der analogen Filmmusik begann.
Das Ende für ihn und seine Art Filmmusik kam, als immer anonymere Ingenieure des digitalen Sounddesigns übernahmen. Suchte man in der Welt der Wagen und Motoren nach Entsprechungen zu Morricones Filmmusik, dann fände man sie am ehesten im nervigen Röhren einer alten Ferrari-Bolide oder im eleganten Schliessgeräusch der Türe eines Rolls Royce. Dagegen nehmen sich die heute immer perfekter gestalteten digitalen Soundwelten fürs populäre Kino, Serien und Games so glamourös aus, wie das glatte unspezifische Surren eines Tesla-Motors.
Es war einmal die Musik von Ennio Morricone...
Benedikt Eppenberger ist Spielfilm- und Serienredaktor beim Schweizer Fernsehen SRF.