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Hirokazu Kore-eda: Die Essenz des Menschlichen
02.05. – 05.06.2024
Das Diesseitige und das Jenseitige, die luftigen Möglichkeiten, die sich im Augenblick offenbaren, und die Abgründe, die das Leben schwer machen, sie durchdringen sich in den zutiefst humanistischen Filmen des Japaners Hirokazu Kore-eda. Wir zeigen seine bewegendsten Werke, vom phänomenalen Erstling Maboroshi no hikari (1995) bis zum aktuellen Monster (2023).
Kurosawa, Ozu, Oshima – Japan hat viele Meisterregisseure hervorgebracht. Da reiht sich Hirokazu Kore-eda in diesem Jahrhundert nahtlos ein. Mit Shoplifters gewann er 2018 die Goldene Palme von Cannes. Und internationale Stars reissen sich darum, bei ihm auftreten zu dürfen: Catherine Deneuve spielte die Hauptrolle im französischsprachigen Film La vérité (2019), der koreanische Gigant Song Kang-ho diejenige in Broker (2022). Aber Kore-eda kehrt immer wieder nach Japan zurück, zuletzt mit dem grandiosen Verwirrspiel Monster (2023).
Ich freue mich auf alle seine neuen Filme, aber ich muss bei jeder Premiere an Maboroshi no hikari denken, Kore-edas Erstling aus dem Jahr 1995. Zu Weihnachten 1996 kam er in die Schweizer Kinos. Ich war hin und weg, schaute ihn drei Mal. Und dann nie mehr.
Der Grund: Ich hatte Angst, er würde mir im Laufe der Jahre weniger gefallen. Wollte deshalb nur die überwältigenden Eindrücke von damals festhalten: die dunklen, statischen Bilder, die von einer Frau erzählen, welche nach der Selbsttötung ihres Mannes weiterzuleben versucht. Die Geräusche des Meeres im Küstendorf, in das die Frau zu einem neuen Partner zieht. Und vor allem den Klang dieses Glöckchens, den ich stets höre, wenn ich an Maboroshi denke. Eine Hausglocke? Ein rituelles Utensil? Das Totenglöcklein? Ich weiss es nicht mehr.
Manchmal aber hole ich den schwärmerischen Zeitungsartikel hervor, den ich damals geschrieben hatte. Ich versuchte darin Worte zu finden für das, was Hirokazu Kore-eda so genau in Bilder und Töne fasste: Er beschrieb das Gefühl der Trauer. Aber auch das Wissen um ein pragmatisches, konkretes Leben, schon nur dem Kind zuliebe, für das die Mutter wieder einen Vater finden will. Und er schildert die Ahnung, dass da noch mehr ist. Irgendwo. Etwas, das sich nicht fassen lässt. Ich schrieb damals vom «schwebenden Vielleicht», das noch niemand so gut beschrieben habe wie Kore-eda. Und verortete es im Klang des Glöckchens.
Es ist eine Fahrradklingel. Damit beginnt auf jeden Fall Maboroshi no hikari, den ich für diesen Text doch wieder schaue. Und, erste Überraschung: Den Film eröffnen spielende Kinder, ein Prolog sozusagen, der die Protagonistinnen viele Jahre früher zeigt. Aber doch schon mitten ins Thema des Filmes verweist: Die Grossmutter verschwindet aus dem Leben der späteren Hauptfigur. Einfach so, fast nebenbei, indem sie über eine Brücke davonläuft. Und sich nicht aufhalten lässt.
Kinder sind zentrale Figuren im Werk von Hirokazu Kore-eda. Immer wieder stehen sie im Mittelpunkt, am eindrücklichsten wohl in Nobody Knows (2004). Der Film basiert auf einem wahren Fall, in dem die Mutter ihre vier Sprösslinge alleine in einer Wohnung zurücklässt. Die Kleinen leben auf sich gestellt in einem Appartement, unbemerkt von der Nachbarschaft und der Sozialhilfe. Der Älteste, ein Zwölfjähriger, muss schauen, wie sie sich durchschlagen, ist aber oft überfordert.
Nobody Knows ist todtraurig, aber eben auch nicht. «Das Leben dieser Kinder konnte nicht nur negativ verlaufen sein», sagte Kore-eda damals im Interview. Und erzählt im Film die traurigen Momente fast beiläufig. Dafür stellt er das Glück in den Vordergrund, zärtliche Momente zwischen den Jugendlichen, Hoffnung, Freude. Sogar befreiendes Lachen in den hoffnungslosesten Situationen. Das alles in Bildern festgehalten, die manchmal schweben und wackeln wie die Hochbahn, die immer wieder vorkommt.
Maboroshi no hikari dagegen war ein erratischer Block: durchkomponierte Stativaufnahmen, lange Einstellung. Die Filmkritik verglich ihn sofort mit den Meistern dieser Filmsprache, Tarkowski, Angelopoulos, Antonioni. Kore-eda allerdings befreite sich sofort. Er wechselte den Kameramann, drehte seine beiden nächsten Filme in ganz anderem Stil: After Life (1998), über die Entscheidung nach dem Tod, welche Erinnerungen man ins Jenseits mitnehmen will. Und Distance (2001), über die Angehörigen von Sektenmitgliedern, die einen Terrorakt verübten und sich dann umbrachten. Die Bilder zu diesen düsteren Themen wackelten und rüttelten so heftig, dass bestimmt kein Pathos aufkommen konnte.
Diese andere Art der Aufnahmen hatte ich dem Regisseur damals fast übelgenommen. Aber beim Wiedersehen von Maboroshi wird klar: Die Getragenheit dieses Films hätte auch zur Falle werden können. Er ist wunderschön. Der Stil passt allerdings nicht zur Art der Geschichten, die der Regisseur später erzählen sollte. Schicksalsschläge, Unglücke, Verbrechen würden zwar immer eine Rolle spielen, egal ob er nun einen historischen Film dreht (Hana, 2006, über einen furchtsamen Samurai) oder ein Gerichtsdrama (The Third Murder, 2017). Eins dagegen bleibt gleich: Kore-eda will die grossen Gefühle niemals ausspielen. Viele Dinge geschehen, wie im Erstling, fast nebenbei.
In Like Father, Like Son (2012) setzt ein reiches Paar grosse Hoffnungen auf den Sohn, dem im Leben alles offenstehen soll. Da kommt ein Anruf aus dem Spital, in dem dieser geboren wurde: Zwei Kinder seien damals vertauscht worden. Der leibliche Spross lebt also unter ganz anderen Bedingungen auf dem Land. Was tun? Zählt die Vererbung mehr oder die Verbundenheit beim Aufwachsen? Auch solche Themen diskutiert Kore-eda, indem er auf die Kraft des Kinderlachens setzt. Oder einen gemeinsamen Spaziergang zwischen Vater und Sohn. Klein und doch gross.
Der Titel des Erstlings Maboroshi no hikari bezieht sich auf ein «Licht der Illusionen», das einen über dem Meer in den Bann ziehen kann. Das verstand ich damals als die Kraft, eine geliebte, verstorbene Person in Erinnerung zu behalten und doch zu verabschieden. Aber es könnte, wie ich beim Wiedersehen denke, auch ganz einfach die Kraft sein, mit einer schwierigen Situation umzugehen, das Abnormale in das Normale zu bringen. Etwas, was das Werk von Kore-eda konsequent durchzieht.
Die Familie bleibt dabei im Zentrum. Wobei sie immer mehr von der klassischen Struktur abweicht. In Our Little Sister (2014) nehmen drei Schwestern ein weiteres Mädchen auf, das aus dem Nichts auftaucht. In Shoplifters (2018) wird einem eine ganz normale Familie präsentiert, die sich mit Ladendiebstählen über Wasser hält. Bis man merkt, dass die Struktur dieser Gemeinschaft eine ganz andere ist. Und in Broker (2022) wird ein Baby geklaut, aber es ist doch ein Familienfilm.
Selbstverständlich wird Kore-eda immer wieder mit Yasujirô Ozu verglichen, der im letzten Jahrhundert meisterhafte Filme über Familien drehte. Er bedankt sich dann stets höflich. Und sagt: «Mein Vorbild ist Ken Loach.» Er ist eben auch ein genauer Beobachter der sozialen Verhältnisse in Japan. Im vorläufig letzten Film Monster (2023) geht es zum Beispiel auch um den Druck in der Schule, unter dem japanische Jugendliche offenbar besonders leiden. Wobei Missstände nicht mit erhobenem Zeigefinger angeprangert werden, sondern durch die Kraft des Erzählens.
Kore-edas Kunst ist es, das Konkrete zu schildern und dabei das Ungefähre nicht zu vergessen. Deshalb konnte der inzwischen 61-Jährige auch Filme in Südkorea und Frankreich drehen, mit einheimischen Crews, ohne die Sprache zu verstehen. Wie er in diesem Fall wusste, dass eine Einstellung gut gespielt war? «Ich merke, wenn der Rhythmus stimmt. Dann werde ich ganz ruhig», antwortet er auf diese Frage. Damit sind wir wieder beim Gefühl des Schwebenden, das Kore-eda so treffend einfangen kann und das ich beim ersten Film zu beschreiben versuchte. Dieses Vielleicht bleibt, zum Glück, beständig.
Übrigens: Das richtige Glöckchen kommt in Maboroshi no hikari doch noch vor. Es ist winzig klein, die Frau hatte es ihrem Mann geschenkt, der es an seinen Veloschlüssel hängte. Sie bekommt es, nach dessen Tod, als Zeichen des Verlustes zurück. Ganz symbolisch. Und doch so einfach.