Vor 30 Jahren realisierte Hal Hartley mit The Unbelievable Truth ein aufsehenerregendes Kinodebüt. Mit Trust und Simple Men eroberte er in kürzester Zeit die Herzen einer ganzen Generation von Filmfans. In den letzten Jahren wurde es ruhiger um den einst rastlos Produzierenden. Mit unserer Retrospektive blicken wir zurück auf ein phänomenales Œuvre und ein Kapitel der Filmgeschichte, das noch nicht fertig geschrieben ist.
Lorenzo Berardelli
In den 1980er- und 1990er-Jahren war Hal Hartley eine der zentralen Figuren jener neuen Generation von Filmschaffenden, die für einen Höhenflug des unabhängigen US-Autorenkinos sorgten. Während einige ihrer Vertreter wie etwa Steven Soderbergh später zum Mainstreamkino wechselten und so von traditionellen Produktionsstrukturen abhängiger wurden, blieb Hartley dem Geist des Independent-Kinos treu. Oftmals nahm er Budgetkürzungen in Kauf, um seine künstlerische Souveränität zu bewahren. Ob heute oder vor dreissig Jahren: Hal Hartley verbiegt sich nicht für andere, und an Publikumserwartungen orientiert er sich höchstens, um diese zu unterlaufen. «Heute ist mir klar, dass ich mich für mehr Erfolg damit hätte auseinandersetzen sollen. Aber ich glaube, dass ich so erfolgreich war, wie ich sein musste», sagt er. Und fügt hinzu: «Ich habe immer geglaubt, dass mein Interesse für den Film sich von dem anderer Menschen nicht wesentlich unterscheidet und dass das Publikum ebenfalls daran interessiert ist, Menschen zu treffen, die anders sind als sie selbst.»
Diese Haltung zeigt sich wiederholt in den Figuren seiner Filme: Ein geistesabwesender Literaturprofessor prügelt sich in Surviving Desire (1991) mit einem seiner Studenten, weil dieser Dostojewski nicht mag, in Amateur (1994) schreibt eine nymphomanische Ex-Nonne pornografische Kurzgeschichten, und die titelgebende Figur in Henry Fool (1997) ist ein verurteilter Sexualstraftäter. In den Fokus rücken sowohl weibliche wie auch männliche Figuren fernab des amerikanischen Traums – getrieben von Ärger und Begehren. Und trotzdem oder gerade deswegen hatte Hal Hartley von seinem ersten Film an Kultstatus. Er ist Regisseur, Drehbuchautor, Cutter, Produzent, Filmmusikkomponist und Selbstvermarkter. Auf eigene Faust beschützt und vertreibt er seine Kunst, um davon leben zu können. Sein Werk umfasst nicht nur Schlüsselfilme des US-Independentfilms, sondern ist ein noch nicht zu Ende geschriebenes Kapitel in der Geschichte des amerikanischen Autorenfilms.
Geboren am 3. November 1959, wuchs Hartley in einer katholischen Arbeiterfamilie in der New Yorker Vorstadt Lindenhurst, Long Island, auf. Er interessierte sich früh für die Malerei und schrieb sich mit 18 Jahren in eine Kunstakademie in Boston ein. In einem Wahlfach drehte er zwei Super-8-Filme und sah viele Experimentalfilme. Die Begeisterung fürs Kino war geboren. Aus finanziellen Gründen brach er das Studium 1978 jedoch ab und kehrte zurück nach Lindenhurst, wo er in einem Kaufhaus arbeitete. In seiner Freizeit drehte er weitere Super-8-Werke, die ihn ein Jahr später an die Filmhochschule der staatlichen New Yorker Universität in Purchase brachten. Die Studiengebühren finanzierte er sich mit Jobs auf der Baustelle. Wie oft in seinen Filmen verdichtete er seine persönlichen Frustrationen bereits in seinem Abschlussfilm Kid (1984). Dieser handelt von einem Mann, dem es mehrmals misslingt, aus Lindenhurst zu entkommen. Auch wenn sich Hartley nach dem Studium in New York City niederlässt und dort einen Job bei einer Werbefilmfirma hat, kommt er künstlerisch von Lindenhurst nicht los. Hier drehte er mit seiner Crew seine ersten zwei Kinofilme, The Unbelievable Truth (1989) und Trust (1990), und teilweise auch Simple Men (1992), mit denen er eine ganze Generation von Filmbuffs entzückte. Der Drehort selbst ist in Hartleys Werk stets zentral. Die örtliche Beschränktheit erzählt nicht nur viel über seine Figuren und deren gesellschaftliches Umfeld, sondern auch über die begrenzten filmischen Möglichkeiten, die das unabhängige Filmemachen mit sich bringt. Das Filmteam und die Darstellenden heuerte er in seinem privaten und universitären Freundeskreis an. Mit seinem für nur 75'000 US-Dollar und in weniger als zwölf Tagen gedrehten satirischen und formal präzisen The Unbelievable Truth landete er 1989 am Toronto Film Festival einen Überraschungshit, der einen wesentlichen Einfluss auf den Indiefilm-Boom und die Filme hatte, die in der Folge daraus entstanden. So bedankt sich etwa der Indie-Filmer Kevin Smith im Abspann von Clerks (1994) vor Richard Linklater, Spike Lee und Jim Jarmusch an erster Stelle bei Hal Hartley dafür, ihm «den Weg zu weisen».
Mit zehnmal mehr Budget als bei seinem Erstling verfeinerte Hartley seine ästhetischen und formalen Ansätze in Trust, der am Sundance Film Festival den Preis für das beste Drehbuch gewann und heute als einer der wichtigsten US-Indiefilme gilt. «Deadpan»-Humor zum einen, philosophische Sätze zum anderen. Dialogzeilen wie «Ich heirate dich, wenn du zugibst, dass Respekt, Bewunderung und Vertrauen gleich Liebe ist», legt er der Hauptfigur Maria (Adrienne Shelly) in den Mund. Sein ironischer, trockener Humor unterwandert die Dramatik. Hartley möchte, dass das Publikum gleichzeitig fühlt und denkt. Ästhetisch fällt Trust durch intensive Farben und den Verzicht von Establishing Shots auf. Der tragikomische Film über Freundschaft eröffnet mit einer Grossaufnahme und macht Gesichter zu Landschaften.
Ein Jahr später drehte er für das US-Fernsehen die unkonventionelle Romantikkomödie Surviving Desire, die zusammen mit den Kurzfilmen Theory of Achievement und Ambition auf VHS-Kassette veröffentlicht wurde und in dieser Retrospektive erstmals neu restauriert und digitalisiert auf der grossen Leinwand zu sehen ist. «Ich bin manchmal verblüfft über ihre ungeheuerliche Ausdruckskraft», kommentiert Hartley die beiden kurzen Filme. «Sie regen mich tatsächlich auch heute noch zum Nachdenken an.» In Theory of Achievement nimmt er unter anderem die Gentrifizierung New Yorks vorweg. In Ambition resümiert ein Mann, der allen Prügel verabreicht, die ihm in die Quere kommen: «Das Leben ist stumpfsinnig, ein guter Kampf hält es interessant.» Hartley krempelt mit choreografierter Körperlichkeit das Innenleben seiner Figuren nach aussen. In Surviving Desire drückt der soeben geküsste Jude (Martin Donovan) seine Freude durch einen leichtfüssigen Tanz aus, der in einer verhängnisvollen Pose endet. Auch in Simple Men wird abgetanzt. Hartley schreckt nicht davor zurück, seinem Publikum die Künstlichkeit des Films in Erinnerung zu rufen – auch verbal, indem er zum Beispiel eine Dialogzeile mehrmals wiederholen lässt. «Es gibt nichts als Ärger und Begehren» wird von Ned (Jeffrey Howard) in Simple Men achtmal wiederholt. Den 1992 in Cannes für die Goldene Palme nominierten Film erklärte der Filmwissenschaftler David Bordwell zum Paradebeispiel für Hartleys eigentümlichen Stil, der sich durch die Auseinandersetzung mit etablierten Kinostilrichtungen entwickelt hat. «Ich versuche immer, den Look von französischen oder deutschen Filmen zu erreichen», erläutert Hartley. «Godard und Melville, der späte Fassbinder, aber auch Dreyer aus Dänemark.» Wie er in vielen seiner Filme präzise die Räumlichkeiten nutzt und matte Farben häufig kontrastiert, erinnert in der Tat an Godard.
Von seinem Frühwerk nabelt sich Hartley mit Amateur (1994) ab. Er begibt sich in grössere Gefilde und verpflichtet auch eine internationale Schauspielgrösse: Isabelle Huppert, die gleich selber bei Hartley um eine Rolle gebeten hatte. «Isabelle hatte einen Brief in mein Büro gefaxt», erzählt Hartley. Seine damalige Assistentin hatte ihn für einen Fanbrief gehalten, und so lag er für ein paar Wochen auf einem Briefstapel brach, während Hartley für Dreharbeiten weg war. Später traf er Huppert in Paris. «Sie hatte das Gefühl, dass sie niemand in Frankreich dafür fähig hielt, lustig zu sein», erinnert er sich. In Amateur macht Hartley nicht nur seine Figuren, sondern auch sein Publikum zu Amateuren. Deren Erwartungen unterläuft er meisterhaft durch die Dekonstruktion der Thriller-Konventionen.
Flirt (1996) spielt in New York, Berlin und Tokio und erzählt die gleiche Story dreimal mit jeweils unterschiedlichen Schauspielenden. Es ist sein persönlichster Film, ein Experiment, gespickt mit selbstreflexiven Kommentaren. So lässt Hartley im zweiten Teil drei Bauarbeiter ihre eigenen Bedenken über den weiteren Verlauf der Handlung ausdrücken: «Wenn wir dem glauben können, was er uns erzählt, dann hat der Filmemacher doch vor, die wechselnde Dynamik ein und derselben Situation in verschiedenen Milieus angesiedelt zu vergleichen.» Hartley fordert das Publikum auf, mögliche Antworten zu hinterfragen oder selber nach Antworten zu suchen.
«Der Wechsel zum digitalen Filmemachen war in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren ein qualvoller und langsamer Prozess», erinnert sich Hartley. The Book of Life (1998) ist sein erster längerer Film, den er auf Digitalvideo gedreht hatte. «Ich wurde gebeten, einen Film über das Ende des Jahrtausends zu drehen – den letzten Tag des 20. Jahrhunderts.» Von impressionistischen Verzerrungseffekten über Verpixelung bis hin zum Umschalten vom farbigen zum schwarzweissen Bild nutzt er erfrischend die Möglichkeiten der damals neuen Technik und kreiert in Kombination mit schrägen Kameraperspektiven ein Narrativ des Unbehagens – ganz im Zeichen des bevorstehenden Millenniums.
Henry Fool, Hartleys Meisterwerk, wurde 1998 in Cannes mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Zudem ist es der erste Film, in dem er unter eigenem Namen und nicht unter dem Pseudonym Ned Rifle die Filmmusik verantwortet. Mit Fay Grim (2006) und Ned Rifle (2014) ist seither eine Trilogie entstanden, die das Publikum nicht nur in die Probleme und Abenteuer der Familie Grim, sondern auch tief in die amerikanische Gesellschaft blicken lässt. Ned Rifle liess sich mit einem Budget von 386'000 US-Dollars vollständig durch seine internationale Anhängerschaft über die Crowdfunding-Plattform Kickstarter finanzieren und gewann an der Berlinale den Preis der Ökumenischen Jury.
Nach der Jahrtausendwende schafften weder Fay Grim noch Ned Rifle den Sprung in die hiesigen Kinos. Es wurde ruhig um den Mann, der in seinen Anfängen einen Film pro Jahr realisierte. Untätig war Hartley aber nicht. Von 2001 bis 2004 unterrichtete er Film an der Harvard University. Ein dreimonatiges Schreibstipendium der American Academy brachten ihn daraufhin nach Berlin, wo er für ein Projekt recherchierte, in dessen Zentrum die französische Philosophin und Sozialrevolutionärin Simone Weil steht. Im Anschluss blieb er fünf Jahre in Berlin und arbeitete hauptsächlich an der Film-Oper «La Commedia», die er in Zusammenarbeit mit dem niederländischen Komponisten Louis Andriessen vorbereitete und inszenierte. Die Premiere fand 2008 in Amsterdam statt. Daneben realisierte er mehrere «Berliner» Kurzfilme, unter anderem seinen Tagebuchfilm A/Muse (2010), in dem er sich mit seinem Entscheid befasst, in die USA zurückzukehren. Von 2015 bis 2017 führte er bei acht Episoden der Amazon-Comedy-Fernsehserie Red Oaks Regie. Seither kümmert er sich um die Restaurierung und Digitalisierung seiner früheren Filme. «Sich der Filme nochmals anzunehmen, ist eine irrsinnig witzige Art des Selbststudiums», erkärt er. Die Rechte an seinen Filmen kaufte Hartley mit seiner kleinen Firma «Possible Films» nach und nach zurück. Hartley schätzt, dass er rund um den Globus etwa 5000 treue Fans hat, die seine Arbeit aktiv verfolgen. Sein Ziel ist es, jedes Jahr einen oder mehrere seiner Filme nach dem gleichen Prinzip veröffentlichen zu können: DVD und Blu-ray mit Untertiteln in jeweils fünf Sprachen. Dank erfolgreichen Kickstarter-Kampagnen konnte dieses Ziel seit 2017 stets erreicht werden.
Sein aktuellstes, noch nicht veröffentlichtes Projekt ist ein kleiner Spielfilm mit dem Titel Where to Land, der in seiner Nachbarschaft in New York gedreht wird: eine Farce über einen Mann, der seinen letzten Willen und sein Testament gemacht hat, weshalb dessen hysterische Freundin und sein ganzes Umfeld glauben, er liege im Sterben. Auch wenn Hartley nicht mehr jener verheissungsvolle Name in der Filmwelt ist, der er Anfang der 1990er-Jahre war, wird ihn nichts aufhalten können, auch weiterhin Filme zu machen – oder wie es Godard im stimmungsvoll integrierten Interview mit David Bordwell in Hartleys Kurzfilm Accomplice stellvertretend für alle unabhängigen Filmemachenden sagt: «Wir werden immer dazu in der Lage sein, mit unseren Freunden einen Film zu machen und ihn jemandem zu zeigen – okay, den Oscar wirst du dafür nicht bekommen.»
Lorenzo Berardelli ist Filmwissenschaftsstudent und beruflich beim Dachverein Die Zauberlaterne tätig. Die Zitate im Text stammen aus einem Interview, das er mit Hal Hartley in Hinblick auf diese Retrospektive schriftlich führen konnte. Die Retrospektive wurde vom tba film collective (Lorenzo Berardelli, Federico Chavez, Marc Frei, Stéphanie Meier und Natalia Schmidt) kuratiert und zu wesentlichen Teilen mitorganisiert. tba-filmcollective.allyou.net