Great Expectations – Das britische Kino 1945-1960
02.10. – 05.11.2025
Von der heiteren Komödie bis zum düsteren Gangsterfilm spannt die diesjährige Retrospektive des Locarno Film Festival einen weiten Bogen und eröffnet ein facettenreiches Panorama des Lebens in den Nachkriegsjahren, wie es im britischen Populärkino zum Ausdruck kommt. Wir präsentieren eine Auswahl von elf Filmen – darunter zeitlose Klassiker wie Night and the City wie auch selten gezeigte Entdeckungen.
Ehsan Khoshbakht
Mit einer Retrospektive unter dem Titel Great Expectations präsentierte das Locarno Film Festival dieses Jahr 45 britische Filme, die zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 1960 gedreht wurden. Ab seiner ersten Ausgabe zeigte das Festival ein echtes Interesse am britischen Kino und verlieh seinen Hauptpreis an Hunted (1952) von Charles Crichton. Die Auswahl von Locarno feiert die prägenden Jahre und die Blütezeit des britischen Kinos.
Die Retrospektive wurde rund um die Frage nach der Identität und dem Leben in Grossbritannien konzipiert, wie sie sich im Nachkriegskino widerspiegeln. Sie konzentriert sich auf zeitgenössische Erzählungen (mit Ausnahme der Komödie Whisky Galore!, die während des Zweiten Weltkriegs spielt) und lässt die zeitgenössischen Bewegungen der Nouvelle Vague und des «Kitchen Sink Cinema» bewusst ausser Acht.
Obwohl Kriegsfilme nicht vertreten sind, wirft der Krieg seinen Schatten auf die Motivationen der Figuren und prägt die zerklüfteten Landschaften des städtischen Lebens und seiner spärlichen, rationierten Freuden. Die britischen Filme dieser Zeit zeigen eine Landschaft, die von Trauer und Entwurzelung geprägt ist. Sie zeichnen die Wiedergeburt einer Nation aus den Trümmern des Konflikts nach und verfolgen ihre zögerlichen Schritte zum Wiederaufbau vor dem Hintergrund des Niedergangs des britischen Empire.
Great Expectations skizziert ein populäres Kino, das in der Realität verankert ist, sich aber je nach Genre, Filmemacher und formalen Entscheidungen davon entfernt. Fantasyfilme sind zwar bewusst ausgeschlossen, doch zwei populärere Genres der Nachkriegszeit, die Komödie und der Krimi, zeigen eine gewagtere Seite des britischen Kinos und Lebens. Die Auswahl beleuchtet auch Aussenperspektiven, beispielsweise die von Joseph Losey und Jules Dassin, zwei auf die schwarze Liste gesetzte Amerikaner, die in der britischen Filmindustrie Zuflucht fanden.
Denn obwohl das britische Populärkino Ende der 1950er Jahre Gewalt und Sex zeigte – und damit zu Recht lauter, greller und fröhlicher wurde –, war es in dieser Zeit auch brillant minimalistisch. Manchmal genügte eine Reflexion in den Blasen eines Pintglases, wie in Odd Man Out (1947) von Carol Reed, wo James Mason, der übrigens den grössten Teil seines Lebens in der Schweiz verbracht hat, das britische Kino und seine Meisterwerke perfekt verkörpert: Existentialismus, Angst und eine gewisse Fatalität.