
Gena Rowlands - Schauspiel als Grenzerfahrung
03. – 30.04.2025
Sie ist zweifellos eine der bedeutendsten Schauspielerinnen des 20. Jahrhunderts: Mit einer Handvoll unvergesslicher Rollen in den Independent-Filmen ihres Lebensgefährten und Mitstreiters John Cassavetes revolutionierte Gena Rowlands die Schauspielkunst ebenso wie die Darstellung der Weiblichkeit im Film. Wir zeigen sämtliche Filme, die dieses mythische Paar gemeinsam realisiert hat, sowie eine Auswahl weiterer Paraderollen aus fünf Dekaden, vom düsteren Western Lonely Are the Brave bis zur Romanze The Notebook.
Murielle Joudet
Es genügt, den Namen Gena Rowlands zu erwähnen, um die Gesichter von Schauspielerinnen, Darstellerinnen und vielleicht auch der Frauen im Allgemeinen erstrahlen zu sehen. Da ist mehr als nur eine grosse Bewunderung für ihre Arbeit: Es ist ein tiefes, intimes Verständnis für das, was diese Frau tat und wie sie uns alle repräsentierte.
Gena Rowlands, die an Alzheimer litt und am 14. August 2024 im Alter von 94 Jahren verstarb, war mehr als nur eine Künstlerin, die ihre Kunst revolutionierte. In ihrer Arbeit schien sie die gesamte Palette weiblicher Erfahrung durchlaufen zu haben, mit einer Vorliebe für die Schattenseiten des Daseins. Ihre grössten Rollen erzählen von einer erschöpften, missverstandenen, verrückten Frau, von der Angst vor dem Alter, von unglücklicher Liebe und einsamer Trauer. Vielleicht ist dies für eine Schauspielerin das einzige Territorium, das es zu betreten, das einzige Schauspiel, das es zu spielen gilt: das der Müdigkeit der Frauen.
Ihr Name ist untrennbar mit einem anderen verbunden, dem des Regisseurs und Schauspielers John Cassavetes (1929–1989). Ein mythisches Paar, aber diese Bezeichnung allein reicht nicht aus, um dem gerecht zu werden, was die beiden für ihre Kunst geleistet haben: kompromisslose Unabhängigkeit und Liebe als kreativer Treibstoff. So viele Filmschaffende haben Cassavetes nachgeeifert, so viele Schauspielende wollten so sein wie Gena Rowlands. Aber ihre Genialität beruhte auf einer Art des Filmemachens, die so riskant, anstrengend und einzigartig war, dass sie im Grunde nicht reproduzierbar ist.
Virginia Cathryn Rowlands wird am 19. Juni 1930 als Tochter einer wohlhabenden Familie in Cambria, Wisconsin, geboren. Ihr Vater ist Lokalpolitiker und ihre Mutter Hausfrau, die ihre Tochter in ihre künstlerischen Aktivitäten wie Malen, Musik und Theater einbezieht. Bis zu ihrem 12. Lebensjahr hat sie grosse gesundheitliche Probleme, verpasst die Schule und lebt ihre Fantasie ausserhalb des Kinderzimmers aus. Als sie wieder auf den Beinen ist, schliesst sie sich im Alter von 14 bis 17 Jahren einer ambitionierten Theatergruppe an. Da sie noch zu jung ist, um ihr Glück alleine in New York zu versuchen, probiert sie vergeblich, sich von der Theaterwelt zu lösen: «Ich wollte wieder in der realen Welt Fuss fassen, wieder zur Schule gehen. Aber es war zu spät, das Theater hat mich nicht mehr losgelassen.»
Gena Rowlands und John Cassavetes lernen sich an der American Academy of Dramatic Arts (AADA) in New York kennen. Sie beginnt ihr Studium, als er seinen Abschluss macht. Immer wieder kreuzen sich ihre Wege in den Gängen. Nach jeder ihrer Vorstellungen schleicht sich Cassavetes hinter die Bühne, um der jungen Frau zu gratulieren. Sie verlieben sich ineinander und machen ihre Beziehung 1953 offiziell, obwohl die Schauspielerin auch Zweifel hegt: «Ich hatte überhaupt nicht vor, meine Karriere aufzugeben und Hausfrau zu werden. Ich war fast verärgert, als ich John kennenlernte, denn ich hatte noch nie einen so gut aussehenden Mann gesehen, und ich dachte: Das war’s dann wohl.»
Nach der Ausbildung lebt das Paar von kleinen Rollen und Gelegenheitsjobs. Cassavetes spielt fürs Fernsehen, Rowlands zieht es ans Theater. Vier Jahre lang geht es mit ihren Karrieren kontinuierlich bergauf. Er schafft den Sprung vom kleinen Bildschirm auf die Leinwand, sie bekommt immer grössere Rollen auf der Bühne und feiert ihr TV-Debüt in grossen Serien wie Columbo, Bonanza und Peyton Place. Das ist die andere Dimension in der Karriere der Schauspielerin, die das Fernsehen nie mehr ganz loslässt, bis zuletzt in einer kleinen Rolle in NCIS im Jahr 2010. Das gibt ihr Sicherheit und ein regelmässiges Einkommen, welches es ihr ermöglicht, an der Seite ihres Mannes alles zu riskieren und ihre gemeinsame künstlerische Utopie zu finanzieren.
1957 war das Paar im Filmgeschäft etabliert. Die Geschichte hätte die eines mühelosen Aufstiegs zweier gut aussehender, talentierter Schauspielenden mit erfolgreichen Karrieren sein können. Aber John Cassavetes stellt bitter fest, dass die künstlerischen Freiheiten eines Filmschaffenden durch die Profitinteressen der Geldgebenden stark eingeschränkt werden. Während Gena Rowlands auf Tournee geht, sucht er nach einem Weg, einen Ort zu errichten, der nichts anderem als der Freiheit der Kunstschaffenden unterworfen ist. Er beginnt wieder bei null.
Zusammen mit Burt Lane legt er den Grundstein für einen offenen, unorganisierten Schauspiel-Workshop, aus dem nach zwei Jahren der Film Shadows (1959) hervorgeht, mit dem er zum neuen Gesicht des amerikanischen Independent-Kinos wird. Inzwischen erhält Rowlands ihre erste grosse Filmrolle in David Millers düsterem Western Lonely Are the Brave (1962): Während die Männer über die weite Prärie galoppieren, reproduziert sie bereits das Bild einer im Haushalt eingesperrten Weiblichkeit.
Nach einem unbefriedigenden Abstecher in die Studiowelt dreht John Cassavetes Faces (1968), der das Potenzial von Gena Rowlands endgültig freisetzt. Sie spielt Jeannie Rapp, ein nonkonformistisches Callgirl. Faces ist ein filmischer Liebesakt, eine Art Taufe, in der die Schauspielerin ihre grösste Stärke zeigt: eine unglaubliche Sensibilität, gefangen in kalter Einsamkeit, selbst inmitten anderer Menschen. Arbeit und Eheleben sind nun untrennbar miteinander verwoben. Von diesem Film an wird Rowlands zur treibenden Kraft, zur Motivation für Cassavetes’ Regiearbeit. Das Kino stellt eine Kamera zwischen die beiden und bringt sie in die richtige Distanz zueinander, was sie schliesslich noch enger zusammenführt: Minnie and Moskowitz (1971), A Woman Under the Influence (1974), Opening Night (1977), Gloria (1980), Love Streams (1984).
Es ist kein Zufall, dass Jeanne Dielman von Chantal Akerman ein Jahr nach A Woman Under the Influence(1974) in die Kinos kommt. Die beiden Filme sind sehr unterschiedlich, aber sie zeigen die gleiche Realität, die bisher niemand zu sehen vermochte: Was macht eine Frau den ganzen Tag allein zu Hause? Gena Rowlands spielt Mabel Longhetti, eine Mutter, die das Leben zu Hause in den Wahnsinn treibt. Sie wechselt zwischen Psychiatrie und melancholischen und manischen Phasen zu Hause und kann sich weder um ihre Kinder noch um den Haushalt kümmern. Cassavetes filmt genau das: eine Frau, die ihre zu schwere und zu triste Rolle nicht ausfüllen kann, und entlarvt so die Maskerade der häuslichen Weiblichkeit.
Zunächst glaubt man, dass Mabel verrückt ist, bis man versteht, dass es die Normalität ist, die verrückt ist, eine Rolle, die unmöglich zu erfüllen ist. Was erfindet Gena Rowlands hier? Aus sich heraus scheint sie eine Montage aus Posen, vorgefertigten Sätzen und Haltungen zu erstellen. Als würde ein Roboter versuchen, die Rollen zu imitieren, die Frauen zugewiesen werden: brave Ehefrau, perfekte Hausfrau, liebende Mutter. Die Schauspielerin schöpft aus ihrem Innersten, um die Idee auszudrücken, dass Mabels Leben nicht ihr gehört.
Film für Film wird Gena Rowlands einsamer, müder. Sie altert vor unseren Augen, der Raum um sie herum wird immer grösser: Erst ist es eine Wohnung, dann ein Haus, dann ein Theater, dann eine ganze Stadt, die zu ihrer Bühne wird. In Opening Night (1977), einem Remake von Joseph Mankiewicz’ All About Eve, spielt sie Myrtle Gordon, eine erfolgreiche Schauspielerin, die es nicht ertragen kann, sich selbst altern zu sehen, und sich mit dem Geist eines tragisch verstorbenen Groupies unterhält – ein Symbol für die Jugend, die sich von ihr abwendet.
Myrtle Gordon ist eine Frau, die ausser dem Publikum niemand versteht. Das ist die Kunst von Gena Rowlands, die hier ihre Lieblingsfigur spielt. Immer wieder fällt sie hin, bricht zusammen, stolpert, kann nicht mehr aufstehen… bis selbst die Techniker am Set an einen echten Schwächeanfall glauben. Diese Kunst des Niedergangs hat Gena Rowlands in all ihren Filmen perfektioniert. Besser noch als ihre Dialoge ist ihre Darstellung einer Weiblichkeit, die abdankt, die nicht mehr mitspielen will. Es ist die Wahrheit, die sich hinter ihrem Spiel verbirgt: Frauen spielen immer, sie sind alle Schauspielerinnen, oft müde, es zu sein.
In Gloria (1980), bei dem Cassavetes für MGM Regie führt, verbirgt sich hinter dem Gangsterfilm die Geschichte eines kleinen Jungen, den man einfach gern haben muss. Der sechsjährige Phil wird von einer Mafiabande verfolgt und schliesslich von seiner Nachbarin, der Einzelkämpferin Gloria, aufgenommen. Cassavetes und Rowlands inszenieren einen urbanen Tanz durch New York zwischen einem Kind und einer Frau und zeigen die Mutterschaft zum wiederholten Mal als nicht selbstverständliche Rolle.
John Cassavetes ist mit 50 gesundheitlich angeschlagen. Trotzdem wendet er sich dem Theater zu und inszeniert Three Plays of Love and Hate. Da die drei Stücke an aufeinanderfolgenden Abenden für die Besetzung zu anstrengend sind, verschmelzt er sie zum Drehbuch von Love Streams (1984). Rowlands und Cassavetes spielen Bruder und Schwester, die beide eine gescheiterte Ehe hinter sich haben. Ein Grossteil des Films wird bei ihnen zu Hause gedreht. Sie irren betrunken durch das Haus, das wie von einem anderen Stern zu sein scheint.
John Cassavetes stirbt am 3. Februar 1989 im Alter von 59 Jahren an den Folgen einer Leberzirrhose. Rowlands arbeitet weiterhin für Film und Fernsehen. Für Regisseur:innen ist es jedoch schwer, die Erinnerung an ihre Rollen mit Cassavetes auszublenden.
In Woody Allens Another Woman (1988) spielt sie die Philosophieprofessorin Marion, die sich zurückzieht, um ihren nächsten Roman zu schreiben. Das Zimmer, das sie mietet, teilt sich jedoch eine Wand mit der Praxis eines Psychoanalytikers. Durch ein Lüftungsgitter kann Marion alles hören und ist bald besessen von den verzweifelten Geständnissen einer schwangeren Frau (Mia Farrow). Another Woman ist ein eigenwilliger Film in Woody Allens Filmografie, der sich ganz auf die Vorstellungskraft der Schauspielerin verlässt und sie einmal mehr zu einer instabilen Heldin macht.
1991 setzt Jim Jarmusch sie in Night on Earth (1991) ein, einem Episodenfilm, der aus fünf simultanen Taxifahrten in fünf verschiedenen Hauptstädten besteht. In der Sequenz in Los Angeles trifft sie als Casting-Agentin auf die junge Winona Ryder. Man kann hier durchaus von einer Staffelübergabe zwischen einer Ikone und einer neuen Generation sprechen. Im prächtigen The Neon Bible (1995) des britischen Regisseurs Terrence Davies spielt sie die launische Tante Mae, eine ehemalige Kabarettsängerin, die das Leben ihres Neffen auf den Kopf stellt. Mit The Notebook (2004) von ihrem Sohn Nick Cassavetes feiert die Schauspielerin einen weiteren grossen Publikumserfolg: Allison ist eine ältere Frau, die an Alzheimer leidet und in einem Pflegeheim lebt. Jeden Tag liest ihr ein alter Mann aus demselben Buch vor, eine Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Menschen, die durch ihre soziale Herkunft voneinander getrennt sind. In sehr unterschiedlichen Filmen taucht das gleiche «rowlandsianische» Motiv auf: das einer strauchelnden Weiblichkeit, die sich über Konventionen hinwegsetzt und gerade deshalb zu kalter Einsamkeit verdammt ist.
Zweifellos projiziert der Sohn Cassavetes in The Notebook ein Stück der Geschichte seiner Eltern. Gena Rowlands war eine zurückhaltende Frau, die ihre Beziehung zu John Cassavetes kaum öffentlich kommentierte. Ihre Kunst bedurfte keiner medialen Erklärung. Auf der Leinwand sagten sie alles, gaben alles von sich preis und schienen die ganze Bandbreite dessen durchgespielt zu haben, was ein Mann und eine Frau gemeinsam tun können.