1962 traten die Söhne auf den Plan und erklärten das Kino ihrer Väter für tot. Seit dieser historischen Zäsur gilt das westdeutsche Filmschaffen der 1950er-Jahre als seicht und belanglos. Zu Unrecht, wie der Kölner Filmkritiker Olaf Möller mit der Retrospektive zeigt, die er für das Filmfestival Locarno kuratiert hat. Wir haben 15 Titel übernommen, Heimat- und Kriegsfilme, Sozialdramen und Psychothriller, Dokfilme und Theateradaptionen mit Stars wie Peter Lorre, Gert Fröbe, Romy Schneider, Horst Buchholz oder Mario Adorf. Es gibt ein Kino zu entdecken, das überraschend vielfältig und konfliktfreudig, manchmal sogar unverschämt und bizarr ist.
Zu Beginn von Dominik Grafs und Johannes Sieverts Essay «Verfluchte Liebe deutscher Film» (2016) erinnert sich der Regisseur Stefan Lukschy eines Bonmots aus den 1950ern, wonach das Leben zu kurz sei, um sich deutsche Filme anzuschauen. Er schreibt diesen Satz Fritz Kortner zu, was eine gewisse Glaubwürdigkeit hat angesichts von dessen Frustration über die Produktionslandschaft der BRD: So ziemlich alle Werke, an denen Kortner beteiligt war, erwiesen sich als kommerzielle Flops. Wie einige seiner Theaterarbeiten jener Jahre waren sie zudem heftigen kritischen Anfeindungen ausgesetzt.
Diese Anekdote fasst knapp zusammen, wie es um die filmhistorische Erinnerung an jene Jahre bestellt ist: trüb. Die BRD war das Land der Hendrik Höfgens, wie Klaus Mann in «Mephisto – Roman einer Karriere» (1936) seinen auf Gustav Gründgens basierenden «symbolischen Typus» genannt hatte. Es ist bezeichnend, dass zu den wenigen Werken jener Ära, die bis in die 1980er hinein relativ beständig in den bundesdeutschen Kinos liefen, Peter Gorskis Faust (1960) gehört, die Kino-Adaption von Gustav Gründgens’ Inszenierung des Stoffes aus dem Jahre 1957. Das war der Goethe der «inneren Emigration», der Elite der Nachkriegszeit, mit Gründgens selbst in der Rolle seines Lebens: Mephisto.
Heraufbeschworen wird bis heute das Bild einer restaurativ gesonnenen Nation von borniert auf Verdrängung Sinnenden, deren Bedürfnissen sich die lokale Kinoindustrie scheinbar hemmungslos unterwarf. Opfer-Geschichten wie die vom dauernd an seiner Entfaltung behinderten Genie Wolfgang Staudte (Kirmes, 1960) oder von Peter Lorres wenig glücklichem Versuch, im BRD-Kino mit seinem Serienmörder-Trümmer-Noir Der Verlorene (1951) Fuss zu fassen, machten klar, wie schlimm es in den Adenauer-Jahren um den (west)deutschen Film bestellt war.
Viele Kinoschaffende und Kritiker, die in jener Zeit tätig waren, würden diesen Eindruck bestätigen. Die erste Philippika zum Thema erschien denn auch schon 1950, stammt von Wolfdietrich Schnurre und heisst «Rettung des deutschen Films». Bis zum Oberhausener Manifest (1962), der knapp-brüsken Grabrede auf den «alten Film» (wie er darin genannt wird), würde sich an diesem allumfassenden Sackgassen-Gefühl wenig ändern: Nörgeln gehörte zum guten Ton der einheimischen Rezensenten. Die Italiener, Franzosen und Amerikaner konnten ohnehin alles besser. Und was auch immer sich an vielversprechenden Ansätzen zeigte wie etwa im Fall von Georg Tresslers Die Halbstarken (1956), wurde beim nächsten Film mit Argwohn betrachtet. Dass Tresslers Endstation Liebe (1958) brillant war, wollte denn auch niemand wirklich bestreiten, aber vorgestellt hatte man sich schon etwas Anderes, auch wenn man nicht so genau sagen konnte, wie das aussehen und klingen sollte.
Nur: Wie passt dieses Bild eines scheinbar kollektiven Komplettversagens zusammen mit der erklecklichen Menge an Preisen, die der bundesdeutsche Film jener Jahre gewann? Kaum jemand erinnert sich heute noch daran, dass Victor Vicas’ Weg ohne Umkehr (1953) einen Golden Globe gewann und zu den meist diskutierten wie gefeierten Werken seiner Saison zählte. Und wenn der BRD-Film so provinziell, seine Protagonisten so talentlos-unattraktiv waren, wie kommt es dann, dass Schauspielerinnen und Schauspieler wie Cornell Borchers, Romy Schneider, Liselotte Pulver, Curd Jürgens, Hardy Krüger, Horst Buchholz oder Mario Adorf internationale Stars wurden? Wie ist zu erklären, dass der bundesrepublikanische Film zudem eine beachtliche Verleih-Präsenz hatte und sich teilweise auch ins Ausland gut verkaufen liess? Diesen Umstand thematisierte Joe Hembus in seiner berühmt-berüchtigten Abrechnung «Der deutsche Film kann gar nicht besser sein» (1961) sogar noch unfreiwillig: Er zitierte nämlich einige besonders deprimierende ausländische Kritiken um zu demonstrieren, welchen Schaden dieses Kino dem Ansehen der Nation zufügte! Und wenn es denn so schlimm bestellt war um den bundesdeutschen Film im Besonderen und das Land im Allgemeinen: Warum kamen dann so viele vor den Nazis Geflüchtete dahin, um kreativ an der Entwicklung einer neuen Kultur mitzuarbeiten wie etwa Robert Siodmak (Nachts, wenn der Teufel kam, 1957), Frank Wisbar (Hunde, wollt ihr ewig leben, 1959) oder eben gleich zu Beginn Peter Lorre und Fritz Kortner?
Man könnte auch fragen: War ein schillerndes Delirium wie Hans Heinz Königs Heimat-Horror-Film Rosen blühen auf dem Heidegrab (1952) bloss eine Ausnahme oder doch eher die Regel eines aufreizend-gefährlichen bundesdeutschen Kinos der Sehnsüchte, Ängste, Neurosen und Brüche, das seiner Kartographierung harrte? Da passt vieles nicht zusammen, was wiederum passt zu einer Nation, die der spätere Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll in einem Text von 1960 als «ungenau» bezeichnete – eben weil nichts zur Gänze dem entsprach, was man erwartete oder erhoffte. Die BRD unter Konrad Adenauer war immer etwas anders als tradiert. Aber wie war sie? Sicherlich gerne glücklich und blauäugig wie im einzig wahren Werk zum «Wunder von Bern», Fussball Weltmeisterschaft 1954 (1954) von Gerhard Grindel, Horst Wigankow und Sammy Drechsel - und genauso verlogen, neurotisch, melancholisch und neblig wie Wolfgang Staudte sie in seinem damals weitreichend verhassten Kirmes (1960) zeigte. Im bereits erwähnten Endstation Liebe offenbart sie sich etwa als berauschend vielgestaltig, belebt von Menschen, die versuchen, sich eine Art Glück und Heim(at) aufzubauen in einer halbfertigen Welt, wo Prachtbauten der modernen Architektur gleich neben Brachen und Ruinenlandschaften stehen – wo die Gegenwart der Kriegserfahrung also genauso greifbar ist wie die schöne, lichtere Zukunft. Ähnlich offensichtlich sind die Risse in Helmut Käutners Himmel ohne Sterne (1955). Der Film zeigt zwei Staaten, zwei Ideologien, zwei Visionen besserer Morgen – und auch zwei verschiedene, dabei aber doch ungemütlich ähnlich restriktive Strukturen: Die DDR ist jünger, attraktiver, dabei gebückt unter der Last des historischen Auftrags; die BRD ist für jeden, der genau in sie hineinhorcht und –schaut, ein offensichtliches Pulverfass, das dann Mitte der 1960er-Jahre mit der ersten genuin bundesrepublikanischen Generation auch explodiert. Rückblickend findet man die ersten RAF-Vorahnungen schon in den besten Werken der Wallace- und Mabuse-Zyklen.
Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die Werke des «Ostens» über den «Westen», erzählen einem doch Martin Hellbergs grossartige sozrealistische Agitgrätsche Das verurteile Dorf (1952), der Militär-Thriller Weisses Blut (1959) von Genre-Genie Gottfried Kolditz oder Das Kleid (1961/91), ein jazzig-modernistischer Märchenfilm, der im Postproduktionsstadium abgebrochen wurde, mehr über die Träume, Hoffnungen, Ängste und Paranoia-Phantome der DDR als über die BRD. Andererseits: Sowohl Hellberg als auch Kolditz gehen Themen frontal an, die eine bundesrepublikanische Produktion zu dem jeweiligen Zeitpunkt im besten Falle hätte allegorisch anschneiden können.
Die Bundesrepublik Deutschland war eindeutig anders, als man sich das landläufig erzählt. Und auch ihr Kino war anders – sehr anders! – als das, was man darüber gemeinhin zu wissen glaubt. Wie und auf welche Art anders, das gilt es zu entdecken.
Olaf Möller
Der Autor ist Filmkritiker und lebt in Köln
Zur Eröffnung der Reihe hielt Wolfram Knorr am 1. September im REX eine Einführung. Den Text finden Sie hier.