Die Geschichte des Kinos ist auch eine Geschichte der Migration. Begleitend zur Ausstellung «Homo migrans» im Bernischen Historischen Museum zeigen wir eine Reihe mit 16 Filmen, die über 100 Jahre Filmgeschichte umfassen, von Chaplins The Immigrant (1917) bis zu It Must Be Heaven (2019) von Elia Suleiman. Formal kennt das Programm keine Grenzen, das Spektrum reicht von Dramen wie Jean Renoirs Toni über Jan Troells Zweiteiler Emigranten / Das neue Land bis zu experimentellen Werken. Mit Mano Khalil und Peter von Gunten ist auch das Berner Filmschaffen prominent präsent.
Fabian Tietke
Kaum ist das Schiff, das Charles Chaplins Immigrant in die versprochene Freiheit bringen soll, an der Freiheitsstatue vorbei, werden die Einwanderer mit einem Seil zusammengezurrt. Eine rudimentäre Kontrolle später findet sich Chaplin «hungrig und pleite» vor einem Restaurant wieder. Eine Münze auf der Strasse verheisst das Glück eines vollen Magens, doch das Restaurant wird dem noch jungen Leben des Immigranten in den USA gleich in mehrfacher Hinsicht eine Wende bringen.
Chaplins The Immigrant entstand 1917 nur wenige Jahre bevor die Einwanderungspolitik der USA rigider wurde. Der 30-minütige Film zeigt die Alltäglichkeit von Migration. Die eigentlichen Sorgen stellen sich erst nach der erfolgreichen Migration ein, und sie bleiben die des Immigranten. Er ist es, der sich «hungrig und pleite» in einem Land des Überflusses wiederfindet; er ist es, der darum bangen muss, gewaltsam aus dem Restaurant geworfen zu werden, wenn er sein Essen nicht bezahlen kann.
Gehen als Akt des Ankommens und als Auslöser der Erinnerung: Chaplins Immigrant geht nur wenige Schritte, bevor er ankommt, heiratet und – so die implizite Botschaft des Filmendes – Fuss fasst. Jonas Mekas, der im Januar 2019 verstorbene Protagonist des amerikanischen Experimentalfilms der Nachkriegszeit, erinnert sich in Reminiscences of a Journey to Lithuania 20 Jahre nach seiner Ankunft in den USA: «Ich ging durch die Strassen von Brooklyn, aber die Erinnerungen, die Gerüche, die Klänge, an die ich mich erinnerte, waren nicht aus Brooklyn.» In Allen Ginsburgs Gedicht «Kaddish», entstanden 1956, wenige Jahre nachdem Jonas Mekas gemeinsam mit seinem Bruder in die USA gekommen war, löst der Gang in Richtung Lower East Side eine Erinnerung an die Einwanderung der Mutter aus. Im Gehen tritt die Gegenwärtigkeit der persönlichen Geschichte wieder an die Oberfläche.
Die Filmreihe «Fremde Heimat – Migrationsgeschichten» unternimmt einen assoziationsreichen Gang durch mehr als 100 Jahre Filmgeschichte. In der Zusammenschau der Filme entsteht eine Idee von den Wandlungen der Migration und des Umgangs mit ihr im 20. Jahrhundert. Chaplins The Immigrant ist das Ende einer Geschichte der Migration, die Europa und Nordamerika vom 19. bis ins 20. Jahrhundert prägte. In der Frühzeit der USA war die Zuwanderung aus Europa eine Grundlage des raschen Aufstiegs des Landes. Die Armut und die Repression in Europa liessen die USA als Land der Freiheit erscheinen. Schwierigkeiten und Schicksalsschläge treiben das schwedische Bauernpaar Karl-Oskar und Kristina in Jan Troells Diptychon Emigranten (1971) und Das neue Land (1972) von Småland nach Minnesota. Die schwedischen Auswanderer kämpfen zuerst mit der Unmöglichkeit, in der alten Heimat zu überleben, und dann mit den Schwierigkeiten, in der neuen Umgebung anzukommen. Das Stück Land in Minnesota mit dem wackeligen Bretterschuppen wird der Familie erst allmählich auch dank des nahe gelegenen Sees, der an die frühere Umgebung erinnert, vertraut. Sie plagen sich aber vor allem mit sich selbst. Die Beziehungen zur Fremde, die sie umgibt, bleiben fragil.
Fragilität prägt auch die Familiengeschichte, die Samir in Iraqi Odyssey (2014) entfaltet: Von den 1920er-Jahren in Basra über die Nachkriegszeit in Bagdad bis in die Gegenwart spannt er den Bogen der Geschichte. Erzählt wird sie von zwei Onkeln, einer Tante, einer Cousine und einer Halbschwester. Die progressive Familie muss sich angesichts der Umwälzungen der irakischen Geschichte immer wieder neu erfinden, im Exil und im Irak selbst. Samirs Grossvater, Ahmed Jamal Aldin, wurde als unbestechlicher Richter von den korrupten Autoritäten jedes Jahr an einen anderen Ort versetzt; gleich mehrere seiner Onkel und Tanten waren Teil der kommunistischen Opposition gegen den König. Die Hoffnungen, die sich mit dem Sturz des pro-britischen Königs 1958 verbanden, wurden durch den Putsch der Baath-Partei fünf Jahre später wieder zunichtegemacht. Ein grosser Teil von Samirs Familie ging nach und nach ins Ausland, nach Paris, nach Grossbritannien, nach Moskau.
«Frag den, der allein ist […], was ihn quält, und in seiner Erinnerung kehren die Nächte der Kindheit zurück», singt die libanesische Sängerlegende Fairouz in einem Film, den der ägyptische Regisseur Henry Barakat im libanesischen Exil inszenierte, in einem Ausschnitt in Iraqi Odyssey. Die Erfahrungen im Exil fallen in der Familie sehr unterschiedlich aus: Einige finden schnell ein Land, in dem sie bleiben, andere wie Samirs Onkel Sabah Jamal Aldin ziehen weiter, verlieren wieder und wieder ihre Lebensgrundlage. Der Kontrast zwischen den Filmen Troells und dem von Samir sticht ins Auge: eine Auswanderung aus Armut im einen Fall, ein Exil aus politischen Gründen im anderen. Eines eint die beiden Filme jedoch: die Behandlung von Migration im historischen Rückblick. Einmal als kollektive Erzählung bei Troell, der die Geschichte der Massenauswanderung von etwa einem Viertel der schwedischen Bevölkerung erzählt, einmal als individuelle Familiengeschichte.
1973, ein Jahr nach dem Kinostart von Troells Das neue Land, läuft Djibril Diop Mambétys Filmklassiker Touki Bouki auf dem Filmfestival Cannes. Der Motorrad fahrende Hirte Mory und die Studentin Anta hegen zusammen Pläne, aus dem Senegal nach Paris zu gehen. Touki Bouki behandelt Migration als Frage der Gegenwart. Im Blick aufs Meer, dem Träumen von der Zukunft in Paris, in französischen Schlagern evoziert Mambéty eine Sehnsucht nach Frankreich, die dem Film zentral dazu dient, das Verhältnis zum Senegal neu zu definieren. Die Emigration ist in dem Film die Kehrseite der bewussten Entscheidung zu bleiben. Wie Chaplins The Immigrant das Ende einer liberalen Migrationspolitik der USA markiert, steht Touki Bouki im Rahmen der Filmreihe für eine europäische Migrationspolitik vor den Gesetzesverschärfungen der 1980er-Jahre.
Eine systematische Erschliessung der europäischen Migrationsgeschichte steht noch aus. Die Geschichte europäischer Auswanderung ist in der Gegenwart zu sehr von der Wahrnehmung der Zuwanderung überlagert. Der Dokumentarfilmregisseur Markus Imhoof verbindet in Eldorado (2018) die Linien der Vergangenheit und Gegenwart zu einer Erzählung. Der Film verwebt seine Elemente dicht miteinander, von der goldenen Rettungsdecke, die unter den Titeln zu Beginn des Films liegt, über das Blättern in den Fotoalben mit Aufnahmen aus der Kindheit des Regisseurs bis zur Verlagerung auf ein Schiff der italienischen Seenotrettungsmission Mare nostrum. Imhoof bringt in seinem Film zwei Linien von Migration zusammen, die viel zu oft getrennt voneinander behandelt werden.
Am sichtbarsten jedoch wird die Dringlichkeit einer Aufarbeitung der Filmgeschichte europäischer Migration in einem Film aus einer unerwarteten Zeit. Während sich Mitte der 1930er-Jahre die Konflikte verschärften, das faschistische Italien Äthiopien überfiel, in Spanien die Spannungen zunahmen, die kurz darauf im Bürgerkrieg kulminierten, drehte Jean Renoir in Südfrankreich das Migrationsdrama Toni (1934). Auf der Suche nach Arbeit wandert Toni von Italien nach Frankreich aus, findet ein Zimmer bei einer Einheimischen. Die beiden verlieben sich. Der Film nimmt eine dramatische Wende, als Toni in der spanischen Arbeiterin Josepha eine noch grössere Liebe entdeckt.
Die Arbeitsmigranten aus Italien in Toni sind noch nicht einmal angekommen, als sie schon von Anfeindungen empfangen werden. Zwei Bahnarbeiter streiten sich, während der Zug vorbeifährt, wie mit den Neuankömmlingen umzugehen sei. Der eine – ein Spanier aus Barcelona – befürchtet, dass sie ihm die Butter vom Brot nehmen, der andere – ein Italiener aus Turin – erkennt in den Menschen im Zug die eigene Not wieder. Der Film ist durchdrungen von einer realitätsgesättigten Schilderung der Lebensumstände von Arbeitsmigranten in Südfrankreich, die in die dramatische Handlung eingewoben ist. Zusammen mit Regieassistent Luchino Visconti drehte Renoir einen der zentralen Filme zur innereuropäischen Migration der Zwischenkriegszeit.
1910, sieben Jahre bevor er The Immigrant drehte, fuhr Charles Spencer Chaplin nach einer Kindheit in Armen- und Waisenhäusern mit 21 Jahren erstmals von Grossbritannien aus über den Atlantik nach Amerika und wurde zum Star. 1952 wurde ihm wegen des Vorwurfs «unamerikanischer Umtriebe» durch das FBI die Einreise in die USA verweigert, und er zog in die Schweiz. «Fremde Heimat» lädt dazu ein, aus der sicheren Distanz des Kinosessels über Migration nachzusinnen. In den Genrewelten des Science-Fiction-Films District 9 (2009) oder von Coppolas The Godfather: Part II (1974) ergeben sich ungewohnte Perspektiven auf eine Geschichte der Migration. Filme wie Im Leben und über das Leben hinaus (2005) und Unser Garten Eden (2010) holen historische Gründe für Migration wie die Verfolgung der Täufer und persönliche Schicksale in die Berner Gegenwart. Eine zentrale Erkenntnis aber stellt sich schon beim Blick ins Programm ein: dass die Geschichte des Kinos auch eine Geschichte der Migration ist.
Fabian Tietke kuratiert mit der Gruppe «The Canine Condition» (Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Cecilia Valenti) Filmreihen. Er ist Vorstandsmitglied von CineGraph Babelsberg e.V. Sein filmisches Interesse gilt Film und sozialen Bewegungen, der italienischen, nordafrikanischen und chinesischen Filmproduktion und -geschichte. Er schreibt für eine Reihe von Print- und Onlinemedien (u.a. Perlentaucher, taz, Cargo, Filmdienst) über Film, Filmpolitik und anderes.
Die Ausstellung im Bernhischen Historischen Museum: «Homo migrans. Zwei Millionen Jahre unterwegs». Bis 28.6. 2020 / www.bhm.ch