Grössere Vielfalt, überraschendere Perspektiven, klarere Programmstruktur: Das Kino REX und das Lichtspiel haben ihre gemeinsame Filmgeschichte sanft erneuert. Neun Expertinnen und Experten beleuchten in zehn 75-minütigen Vorlesungen und am Beispiel von 20 Filmen zentrale Aspekte der Filmgeschichte. Nach wie vor gilt: Wir präsentieren Filmgeschichte im Kinoformat.
Wie die Filmgeschichte selbst ist auch die Auseinandersetzung mit ihr ein Work in progress. Es liegt deshalb in der Natur der Sache, dass wir das Konzept unserer Filmgeschichte immer wieder erneuern. So haben wir auch für die Ausgabe 2019/2020 wieder Änderungen vorgenommen. Grössere Vielfalt, überraschendere Perspektiven, klarere Struktur waren drei Ziele, die wir dabei anpeilten.
Neu bieten wir zehn statt acht Vorlesungen, und diese werden von fünf Frauen und vier Männern gehalten, alles ausgewiesene Expertinnen und Experten mit unterschiedlichem Hintergrund. Wir schreiten chronologisch und in Jahrzehnt-Schritten durch die Filmgeschichte, und jedes Jahrzehnt betrachten wir unter einer spezifischen Fragestellung. Zu jeder der monatlichen Vorlesungen, die jeweils mittwochs um 18.15 alternierend im REX und im Lichtspiel stattfinden, zeigen wir ebenfalls mittwochs (mit Wiederholungen sonntags im REX) zwei Filme respektive Filmprogramme.
Wir starten die Filmgeschichte spektakulär mit brennenden Windmühlen, entlaufenen Löwen und frühen Farbexplosionen: Daniel Wiegand und Bregt Lameris befassen sich in ihren Vorlesungen mit der Frühzeit des Kinos bis 1919 und dem Farbfilm in den 1920er-Jahren (siehe S. dd). Im Kino der 1930er-Jahre entdeckt Franziska Heller Parallelen zur Gegenwart: Filmtechnisch vollzieht sich mit dem Tonfilm eine ähnliche Revolution, wie sie aktuell die Digitalisierung zur Folge hat. Andreas Berger analysiert die 1940er-Jahre im Spannungsfeld von Film noir und Neorealismus. Johannes Binotto zeigt auf, wie das Kino der 1950er-Jahre zum einen das Wirtschaftswunder in farbenfrohen Idyllen feierte, hinter diesen Fassaden aber zugleich dunkle Ahnungen und paranoide Ängste entdeckte. Die formalen, technischen und politischen Erneuerungsbewegungen der 1960er-Jahre sind Thema von Barbara Flückigers Vorlesung. Daran schliesst Bernhard Giger mit seiner Analyse der 1970er-Jahre an, die er unter den Titel «Der Blick von unten – die Welt im Kopf» stellt. Er sieht die Geschichtsschreibung von unten in Dokumentarfilmen wie Richard Dindos Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. und der künstlerische Aufbruch, wie er sich in den Filmen von New Hollywood zeigte, als zwei zentrale Aspekte dieser Dekade. Einen Kontrapunkt dazu bilden die 1980er-Jahre, denen immer wieder Oberflächlichkeit vorgeworfen wurde. Dass dieses Kino aber gerade in der Auseinandersetzung mit den Oberflächen abgründige Tiefe gewann, zeigt Johannes Binotto in seiner zweiten Vorlesung. Als rauschhaftes Spiel mit Pop-Referenzen charakterisiert anschliessend Elke Kania das Kino der 1990er-Jahre, und zum Abschluss befasst sich Miriam Loertscher mit den neuen Heldinnen des Autorenkinos, die sich in den Nullerjahren als künstlerische Gegenpole zur amerikanischen Mainstream-Maschinerie behaupten.
Eintrittspreise
Vorlesungen: CHF 14.-
Filmvorstellungen: CHF 17.-/15.-
Kombiticket Vorlesung plus Filmvorstellung (nur an der Kinokasse erhältlich): CHF 24.-
1. Vorlesung
Das Kino bis 1919: Spektakel, Chaos, Sensationen
Daniel Wiegand
REX, Mi. 4.9., 18:15
Brennende Windmühlen, Fliegerangriffe und entlaufene Löwen – im frühen Stummfilm baute man ganz auf visuelle Spektakel. Wir zeigen stellvertretend Maudite soit la guerre, ein prachtvoll koloriertes und bombastisches Kriegs-Melodrama, sowie zwei kürzere Sensationsdramen und eine anarchisch-subversive Burleske. Im zweiten Programm ist das groteske Lustspiel Die Austernprinzessin von Ernst Lubitsch zu sehen, einem der bedeutendsten Regisseure der Stummfilmzeit.
Daniel Wiegand
Seit August 2018 Assistenzprofessor für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Studium der Germanistik, Anglistik und Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und der Ruhr-Universität Bochum. Magisterarbeit zum dänischen Stummfilm. Promotion am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und im Nationalen Forschungsschwerpunkt «Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen» mit einer Analyse des historischen Zusammenhangs von Tableaux vivants und frühem Kino. 2016 bis 2018 Postdoc an der Stockholm University.
2. Vorlesung
Die 20er-Jahre: Farbrevolution und Farbfilm
Bregt Lameris
Lichtspiel, Mi. 2.10., 18:15
Die 1920er-Jahre sind gekennzeichnet durch einen Farbausbruch in Mode, Textil und Design. Die Themen sind auch in den schön gefärbten Filmen präsent wie in Paris en cinq jours (1925), bei welchem Nicolas Rimsky und Pière Colombier Kunst mit populärer Kultur und Art-Deko-Exposition mit Pariser Jazz-Clubs vermischen. Zusätzlich gab es in den 1920er-Jahren eine Vielfalt von Filmfarbsystemen mit eigener Materialität und Ästhetik. Diese sind in Phantom of the Opera (1925) von Rupert Julian sichtbar. In der Vorlesung werden sowohl die Farbrevolution wie auch die Farbfilme der 1920er besprochen.
Bregt Lameris
Studium Film und Theater an der Katholischen Universität von Nijmegen (jetzt Radboud Universität) und an der Sorbonne Nouvelle Paris III. 1998 bis 2001 Filmhistorikerin am Nederlands Filmmuseum in Amsterdam (jetzt EYE Filmmuseum). Seit Februar 2015 Postdoktorandin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich mit dem Forschungsprojekt «Historicizing Color in Film. Technologies, Aesthetics, Affects». Ihr Buch «Film Museum Practice and Film Historiography» wurde 2017 herausgegeben. Weiter arbeitet sie an der Herausgabe des Sammelbandes «The Colour Fantastic» (Amsterdam University Press).
3. Vorlesung
Die 30er-Jahre: Parallelen zur Gegenwart
Franziska Heller
REX, Mi. 6.11., 18:15
Ein Jahrzehnt mit Parallelen zur Gegenwart: Filmtechnisch vollzieht sich mit dem Tonfilm eine ähnliche Revolution, wie sie die Digitalisierung zur Folge hat. Hollywood konsolidiert sein Studiosystem und reagiert auf ein konservatives Gesellschaftsklima. Wirtschaftliche Depression und autoritäre Systeme in Europa prägen den allgemeinen Zeitgeist: The Lady Vanishes ist als britischer Spionage-Thriller die Reaktion Alfred Hitchcocks. In Ninotchka bildet die Stimmung die Folie für politische Satire, welche Ernst Lubitsch geschickt vorbei an der Hollywood-Selbstzensur inszeniert.
Franziska Heller
Studium zur Magistra Artium an der Ruhr-Universität Bochum. 2009 Promotion mit der Dissertation «Filmästhetik des Fluiden. Strömungen des Erzählens von Vigo bis Tarkowskij, von Huston bis Cameron» (Wilhelm Fink Verlag 2010); ausgezeichnet mit dem Dr. Klaus-Marquardt-Preis. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte am Seminar für Filmwissenschaft der Uni Zürich in verschiedenen KTI- und SNF-Projekten zur Digitalisierung von Archivfilmen; 2015 Autorin der Monographie «Alfred Hitchcock. Einführung in seine Filme und Filmästhetik» (Wilhelm Fink Verlag); 2018 Habilitation an der UZH mit der Schrift «Update! Film- und Mediengeschichte im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit» (erscheint 2019 im Wilhelm Fink Verlag).
4. Vorlesung
Die 40er-Jahre: Film Noir
Andreas Berger
Lichtspiel, Mi. 4.12., 18:15
Der zweite Weltkrieg prägt die Filmproduktion in der ersten Hälfte der 1940er-Jahre, überall wird unter jener Devise produziert, die hierzulande als «geistige Landesverteidigung» bezeichnet wurde. In Opposition zur allgegenwärtigen Propaganda etablieren der italienische Neo-Realismus und der amerikanische «film noir» neue Sichtweisen auf die Welt. In der Nachkriegszeit ziehen zeitkritische Trümmerfilme nur in Einzelfällen ein grosses Publikum an, mit Einsetzen des kalten Kriegs beginnt eine Renaissance konventioneller Unterhaltungsspektakel.
Andreas Berger
Andreas Berger arbeitet seit 1980 als Filmjournalist für «Der Bund» und gelegentlich auch für andere Medien. Parallel dazu drehte er ab 1980 erste eigene Filme, darunter den Super-8-Film Zafferlot (1986) und den 1990 fertiggestellten und 1991 mit dem kantonalen Filmpreis ausgezeichneten Kinodokumentarfilm Berner beben. Seit 2008 arbeitet er hauptsächlich als Kameramann, Autor und Regisseur von kurzen und längeren Dokumentarfilmen wie Zaffaraya 3.0 (2011) und Welcome to Hell (2014). Er lebt in Bern und ist Vater von drei Kindern.
5. Vorlesung
Die 50er-Jahre: Hinter den Fassaden
Johannes Binotto
REX, Mi. 8.1. 2020, 18:15
Der zweite Weltkrieg ist vorbei, der Schrecken ausgestanden. Nun darf konsumiert werden, wir erleben ein Wirtschaftswunder. Entsprechend zeigen die Filme der Fünfzigerjahre farbenfrohe Idyllen mit erfolgreichen Geschäftsmännern in hellen Büros und adretten Hausfrauen in blitzenden Küchen. Zugleich aber ist genau dieses angeblich ganz auf Konsumfreundlichkeit ausgerichtete Kino voller dunkler Ahnungen: Glamouröse Melodramen, wie All That Heaven Allows sind zugleich ätzende Demontagen des American Dream und in Luis Buñuels Él entlarvt sich die bessere Gesellschaft als paranoid. Das Kino zeigt einen anderen Blick auf eine nur scheinbar heile Zeit.
Johannes Binotto
Dr. Johannes Binotto ist Kultur- und Medienwissenschaftler, Dozent für Filmtheorie an der Hochschule Luzern Design+Kunst und Mitarbeiter am English Department der Universität Zürich, ausserdem freier Filmpublizist und ständiger Autor der Zeitschrift «Filmbulletin».
6. Vorlesung
Die 60er-Jahre: Neue Wellen in Europa
Barbara Flückiger
Lichtspiel, Mi. 5.2. 2020, 18:15
Ab den 1950er Jahren setzten in verschiedenen Ländern Erneuerungsbewegungen ein, die im Anschluss an die französische Nouvelle Vague als Neue Wellen bezeichnet werden. Zur Erneuerung gehörten auch Experimente in Farbe, die bis heute als herausragend wahrgenommen werden. Denn die neueren, sogenannt chromogenen Farbfilmmaterialien forderten eine aktive Auseinandersetzung mit deren Gestaltungsmöglichkeiten. Zwei herausragende Filme dieser Zeit, nämlich Les parapluies de Cherbourg und Sedmikrásky vertreten exemplarisch den ästhetischen Wandel dieser Epoche.
Barbara Flückiger
Prof. Dr. Barbara Flückiger, Professorin, Seminar für Filmwissenschaft, Universität Zürich
7. Vorlesung
Die 70er-Jahre: Der Blick von unten, die Welt im Kopf
Bernhard Giger
REX, 4.3. 2020, 18:15
Der Film der 70er-Jahre war ein politisches Kino: Geschichtsschreibung von unten, zerrissene Figuren vor konkretem politischen Hintergrund. Dafür stehen der Dokumentarfilm Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. von Richard Dindo und Niklaus Meienberg, einer der meistdiskutierten Schweizer Filme, und der Erstling der US-Regielegende Terrence Malick, Badlands. Ein Outlaw-Drama, das in den Fünfzigern spielt und die Zeit des Vietnam-Traumas meint.
Bernhard Giger
Bernhard Giger, 1952 geboren in Bern, nach einer Fotografenlehre Programmmitarbeiter des Berner Kellerkinos, Film- und Fernsehkritiker und ab 1979 Redaktor zuerst siebzehn Jahre bei «Der Bund» und danach zehn Jahre bei der «Berner Zeitung» in den Bereichen Medien, Kultur und Stadtpolitik. Seit 1981 Spielfilme für Kino und Fernsehen, unter anderen Winterstadt (1981), Der Gemeindepräsident (1984), Tage des Zweifels (1991), Oeschenen (2004), mehrere Dokumentarfilme. Seit 2009 Leiter des Kornhausforums Bern.
8. Vorlesung
Die 80er-Jahre: Oberfläche als Abgrund
Johannes Binotto
Lichtspiel, Mi. 1.4. 2020, 18:15 - online
Die Sechziger- und Siebzigerjahre gelten als revolutionär, die Kultur der Achtzigerjahre hingegen hat keinen guten Ruf. Als oberflächlich und geschmacklos verschrien, wird hier angeblich ganz unkritisch wild wuchernder Kapitalismus zelebriert. Tatsächlich aber nimmt das Kino der Achtzigerjahre den Vorwurf des Oberflächlichen auf und wendet ihn zum Argument: genau in den Oberflächen steckt eine abgründige Erkenntnis. Existenzialistische Thriller wie William Friedkins To Live and Die in L.A. führen vor, was es bedeutet, wenn sich die eigenen Wünsche auf blosse Äusserlichkeiten reduzieren und in Truffauts Abschiedsvorstellung Vivement dimanche lebt der film noir wieder auf, weil auch die Gegenwart düster geworden ist.
Johannes Binotto
Dr. Johannes Binotto ist Kultur- und Medienwissenschaftler, Dozent für Filmtheorie an der Hochschule Luzern Design+Kunst und Mitarbeiter am English Department der Universität Zürich, ausserdem freier Filmpublizist und ständiger Autor der Zeitschrift «Filmbulletin».
9. Vorlesung
Die 90er-Jahre: Befreiung und Spiel mit Referenzen
Elke Kania
REX, Mi. 6.5. 2020, 18:15 - wegen Lockdown abgesagt!
Die Berliner Mauer ist gefallen und mit ihr der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West. Es ist ein Fun-Jahrzehnt mit bunten Techno-Raves, Internet und Handys – eine Zeit vor den Anschlägen am 11. September 2001. David Lynchs‘ Wild at Heart (1990) war wegweisend für jenes rauschhafte Kino der Referenzen an Film- und Popkultur, das typisch für die 1990er wurde. Pedro Almodovar schuf in dieser Dekade sechs Filme, die alternative Lebensentwürfe, Fragen zu Gender und Transsexualität ausloten, und als deren Resümee Todo sobre mi madre (1999) gesehen werden kann.
Elke Kania
Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Filmwissenschaft in Aachen, Berlin und Rom mit einer Magisterarbeit über Derek Jarmans Film Caravaggio. Tätigkeit als Kunst- und Filmkritikerin für zahlreiche Zeitungen, als Kuratorin sowie als Dozentin für Filmanalyse und Kunstwissenschaft an Hochschulen in Deutschland. 2004-2006 kuratorische Arbeit im museum franz gertsch, Burgdorf/CH; seit dieser Zeit regelmässig Tätigkeiten für kulturelle Kinoinstitutionen in Bern. Seit 2007 arbeitet Elke Kania für die Julia Stoschek Collection, Düsseldorf/D, eine Privatsammlung für zeitbasierte Kunst, und seit 2016 als Kustodin am Kunsthaus NRW Kornelimünster/D. Der Schwerpunkt ihres forschenden Interesses liegt auf der Verbindung von bildender Kunst & filmischem Bewegtbild.
10. Vorlesung
Die 00er-Jahre: Neue Heldinnen zum Jahrtausendwechsel
Miriam Loertscher
Lichtspiel, 10.6. 2020, 18:15 - abgesagt!
Die Terroranschläge in den USA zu Beginn des neuen Jahrtausends prägen den politischen Tenor und führen neben der Bankenkrise zu viel Verunsicherung. Im Kino bewirkt dies einen Boom der Fantasy-Filme. Damit etabliert sich das neue Erfolgsrezept der Hollywood-Studios: Fortsetzungen in allen Varianten binden die Fans an bekannte Heldengeschichten aus Comics, Büchern oder Games. Ein Novum ist die Heldin, die nun genauso hart kämpft wie ihre männlichen Vorgänger. Die Comicverfilmung Persepolis von Marjane Satrapi und der Kampfkunstfilm Hero von Zhang Yimou bilden künstlerische Gegenpole zur amerikanischen Maschinerie und gewinnen weltweit zahlreiche Festivalpreise.
Miriam Loertscher
Filmforscherin und Medienpsychologin. Sie studierte Medien-, Sozial- und Neuropsychologie an der Universität Bern und Filmwissenschaften an der Universität Zürich. Von 2012 bis 2018 war sie Kommunikationsleiterin für Fantoche, dem Internationalen Animationsfilmfestival in Baden/Schweiz. Gegenwärtig arbeitet sie in zwei SNF-Forschungsprojekten im Bereich Filmwahrnehmung und virtuelle Realität am Institute for the Performing Arts and Film der Zürcher Hochschule der Künste und ist Doktorandin am Institut für Psychologie der Universität Bern.
Mit freundlicher Unterstützung von
Die Stummfilmvorstellungen mit Christian Henking, Wieslaw Pipczynski und Simon Bucher am Piano werden unterstützt von Migros-Kulturprozent.