Ein Sommer mit Mads Mikkelsen
04.07. – 28.08.2024
Er kann einfach alles: Ob Thriller, Historiendrama, Blockbuster oder absurde Komödie, jedes Genre, jede Figur steht Mads Mikkelsen gut. Der sympathische Däne mit den markanten Gesichtszügen hat daraus eine Kunst für sich gemacht. Seine Rollenwahl ist so kühn und unberechenbar wie sein Spiel. Wir zeigen 15 Filme, vom Erstling Pusher bis zum aktuellen King’s Land.
Pamela Jahn
Es sind nicht immer die grossen, Oscar-verdächtigen Rollen, die einem am stärksten in Erinnerung bleiben. Ein Blick auf den unverbesserlich sanftmütigen Dorfpfarrer Ivan in Adam’s Apples (2005) genügt: Mads Mikkelsen spielt den unkonformen Geistlichen in der herrlich schrägen Komödie von Anders Thomas Jensen als einen in Shorts und Westober gekleideten Gutmenschen, der hinter der seltsamen Fassade alles andere als den Eindruck eines aufstrebenden Superstars macht. Dass der dänische Ausnahmeschauspieler bereits ein Jahr später als James-Bond-Bösewicht Le Chiffre in Casino Royale (2006) auf dem ersten Zenit seiner Karriere ankommen sollte, war damals nicht abzusehen.
Nur eines ist klar: Mads Mikkelsen ist kein Anpasser. Seine Rollen wählt er klug, aber nicht rational. Ob als Kannibale oder Killermaschine, Wikinger oder Widerstandskämpfer, Kindergartenlehrer oder Blockbuster-Held, immer ist er mit Leib und Seele dabei. Eine Zeit lang gab es in Hollywood niemanden, der auf der Leinwand besser und konsequenter starb als er. Aber es sind vor allem die Filme aus dem dänischen Autor:innenkino, wie Thomas Vinterbergs vielgefeiertes Midlife-Crisis-Drama Druk (2020), die beweisen, dass Mikkelsen heute einer der facettenreichsten Darsteller seiner Generation ist. Ein Mann auf der Höhe seiner Kunst, mal ernst, mal verzweifelt, mal aufgebracht, aber stets mit Esprit und Charme, und gekonnt tänzelnd zwischen Arthouse-Stück und Crowd-Pleaser.
«Respect» hat man vor dem 1965 in Kopenhagen geborenen Sohn aus einfachen Verhältnissen spätestens, seit er 2004 in Pusher II mit ebenjenem Wort auf dem kahlen Hinterkopf tätowiert erstmals auf sich aufmerksam machte. Die Idee dazu hatte der dänische Regisseur Nicolas Winding Refn, der ihn in dem Drogenthriller als nervösen Junkie durch abgeranzte Klubs hetzt. Sein Leinwanddebüt hatte Mikkelsen bereits acht Jahre zuvor gegeben, im ersten Teil der Pusher-Trilogie, damals noch als Handlanger, aber offensichtlich mit Potenzial. Seine Kindheit in einer Arbeiterfamilie hatte ihn für Actionfilme konditioniert: Mikkelsens Jugendhelden waren Bruce Lee, Charles Bronson und der rote Korsar.
Doch es dauerte eine Weile, bis er sich auch vor der Kamera so wohlfühlte wie zuvor tanzend auf der Bühne. Das Körperliche war schon immer sein Ansatz, sein Ding. Mikkelsen studierte zuerst Modern Dance und arbeitete acht Jahre lang als Tänzer, bevor er mit Ende zwanzig auf die Schauspielschule wechselte, um dort seine Vorliebe fürs Drama auszuleben. Insbesondere Figuren, die irgendwie quer im Leben stehen, hatten es ihm angetan. Frühe Gelegenheiten, sein Talent dafür zur Schau zu stellen, boten sich 1999 in Winding Refns Thriller Bleeder, wo er als schüchterner Filmnerd Lenny Eindruck macht. Und auch Niels in Susanne Biers Dogma-Melodram Open Hearts (2002) ist so ein Typ. Er kümmert sich ein bisschen zu rücksichtsvoll und mitfühlend um die Frau eines Unfallpatienten, an dessen Querschnittslähmung seine eigene Gattin die Schuld trägt.
Wie treu Mikkelsen dem dänischen Kino stets geblieben ist, beweist er regelmässig, so unlängst in Nikolaj Arcels King’s Land (2023) – nach dem historischen Liebesdrama A Royal Affair (2012) seine zweite Zusammenarbeit mit dem Regisseur. Mikkelsen spielt darin den stählernen Hauptmann Ludvig Kahlen, der ausser seinem Ruf und einer abgenutzten Uniform in Dänemark zur Zeit von König Frederick dem V. nicht viel vorzuweisen hat. Jetzt, im Ruhestand, will sich der Veteran einer neuen Herausforderung stellen. Er bittet offiziell um Erlaubnis, die trostlose jütländische Heide zu kultivieren; theoretisch ein lukratives Unterfangen, doch nicht nur das karge, windgepeitschte Terrain, sondern auch ein eitler Gutsbesitzer bringen ihn bald an seine Grenzen. Für Mikkelsen ist es eine Paraderolle, er spielt sie nuanciert, mit steinernen Gesichtszügen vor beeindruckenden Landschaften.
Zu absoluten Höchstformen läuft er jedoch insbesondere in Zusammenarbeit mit seinem Landsmann Anders Thomas Jensen auf. Die beiden verbindet eine lange Freundschaft und ein ähnlich rauer, messerscharfer Humor. Allein an Jensens eigenwilligen Werken lässt sich die elektrisierende Wandelbarkeit von Mikkelsens Schauspiel ausmachen. Von dem gutmütigen Priester in Adam’s Apples bis hin zu dem traumatisierten Berufssoldaten Markus in Riders of Justice (2020): Mikkelsen ist auf der Leinwand über die Jahre nicht nur selbstbewusster, sondern unendlich versierter und immer unberechenbarer geworden. Dabei verkörpert er jede Rolle, die ihm Jensen zuschreibt, stets ohne eine Miene zu verziehen. Wie eben auch jenen Markus, der sich mit einer Gruppe dubioser Gestalten umgibt, um den Tod seiner Frau zu rächen. Hier schlagen die Absurditäten, vor allem aber die pure Gewalt immer genau dann zu, wenn man sie am wenigsten erwartet, und zwar mit einer Wucht und Unverfrorenheit, dass einem bisweilen Hören und Sehen vergeht.
Liest man bis hierher, wird man den Eindruck nicht los, dass der Name Mads Mikkelsen vor allem für das finstere, absurde oder ganz und gar abwegige Kino steht. Immer wieder ging er für Winding Refn ins Extreme, wie in Valhalla Rising (2006), in dem Mikkelsen als ehemaliger Wikinger in Schottland ausgesetzt und wie ein Tier behandelt wird. Weniger prominent, aber mindestens genauso stark ausgeprägt ist jedoch auch die sensiblere Seite seines Ichs, die in seinem Schaffen stets für willkommene Abwechslung sorgt. Sei es die unglückliche Romanze zweier Kunst-Avantgardisten (Coco Chanel & Igor Stravinsky, 2009), oder ein Überlebensdrama in der Arktis (Arctic, 2018), auch da ist stets ein Schauspieler am Werk, der seine Figuren in jeder Situation nicht nur spielt, sondern fühlt und nach Halt oder einem Ausweg sucht, wo das Schicksal längst alle Türen verschlossen zu haben scheint.
Thomas Vinterberg, der dritte Däne, mit dem Mikkelsen eine besondere Arbeitsgemeinschaft verbindet, musste zwar etwas länger auf ihn warten. Dafür wurde ihre erste Kollaboration, Jagten (2012), sogleich ein Triumph: Für seine Rolle als aufmerksamer Erzieher, der des Kindsmissbrauchs beschuldigt und daraufhin von seinem Umfeld ausgestossen wird, erhielt Mikkelsen in Cannes den Preis für den besten Darsteller. Mit nicht weniger Nachdruck spielt er quasi zeitgleich in Arcels A Royal Affair den königlichen Leibarzt Johann Friedrich Struensee, der im voraufklärerischen Dänemark des 18. Jahrhunderts seinen Einfluss nutzt, um das Land zu reformieren. Und man fragt sich: Gibt es eigentlich eine Rolle, die der kühne Däne mit dem Charakterkopf nicht spielen kann?
Vielleicht steckt darin das grösste Geheimnis von Mikkelsens Erfolg: dass er mit seiner aussergewöhnlichen Ausstrahlung und eigenwilligen Erscheinung – den schmalen Lippen, tiefen Augen und breiten Schultern – in jedem Genre und jeder Lebenslage überzeugt. Will man in seiner Filmografie dennoch ein wiederkehrendes Motiv ausmachen, dann vielleicht, dass er oft Figuren verkörpert, die in der Klemme stecken oder in der Mitte ihres Lebens im Leerlauf rotieren. Der unmotivierte Geschichtslehrer Martin in Druk, für den Mikkelsen nach all den Jahren sogar seine Hüften noch einmal schwingen lässt, liefert dafür den schönsten Beweis. Mikkelsen verleiht ihm und allen anderen Charakteren, egal wie sanft oder brutal, verrückt oder verachtet sie sein mögen, stets eine instinktive körperliche Präsenz und eine Haltung, die sie nicht vor dem Unglück, aber unbedingt vor der Durchschnittlichkeit bewahrt. Nie wird es langweilig, ihm dabei zuzusehen, wie er aus den schrägsten Vögeln die grössten Helden und aus gefährlichen Typen einfache Männer mit begrenzten Kräften und normalen Schwächen macht. Männer, die lieben oder leiden, die mit sich selbst ringen oder von aussen unter Druck gesetzt werden, und solche, für die es, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt haben, kein Halten gibt.
Tatsächlich ist auch Mikkelsen selbst nicht zu stoppen. Für den Schauspieler zählt in erster Linie eine solide Basis, von der aus er mit seinen Figuren bis ins Extreme geht. Deshalb lebt er noch heute in seiner Heimatstadt Kopenhagen und lässt sich auch sonst nicht von Hollywood unter Druck setzen. Er pokert nicht wie Le Chiffre, wenn es um seine Rollen geht. Nein. Mikkelsen spielt stets ehrlich, unprätentiös, mit Gefühl und aus dem Bauch heraus. Allein dafür hat er grossen «respect» verdient.