Christian Krachts «Die Toten» ist ein Schauerroman aus dem Geist des Kinos. Konzert Theater Bern bringt das Buch auf die Bühne, wir laden zu einer Kinoreise in die deutsch-japanische Filmwelt der frühen 1930er-Jahre, die Kracht zitiert und evoziert. Spielfilme von Murnau, Lang, Ozu, Mizoguchi, Riefenstahl, von Sternberg, Chaplin und Mishima ergänzen wir mit der filmhistorischen Dokumentation Hitlers Hollywood, die wir als Premiere zeigen.
Im September 2016 erschien Christian Krachts fünfter Roman Die Toten, der in Bezug auf die eingesetzten Erzählverfahren, den historischen Zeitraum seines Settings sowie einige der verhandelten Diskurse deutlich an den Vorgänger Imperium (2012) anschliesst, jedoch weitaus weniger kontrovers aufgenommen wurde. Um Imperium hatte sich, ausgehend von einer Rezension im Spiegel, die dem Autor eine angebliche Nähe zu rechtem Gedankengut vorwarf, eine medienwirksame Debatte entfaltet, die das Irritationspotential von Krachts Texten und Selbstinszenierungen ins Zentrum öffentlichen Interesses rückte. Das vielfach hervorgehobene Unbehagen, das mit der Kracht’schen Irritationspoetik einhergeht, scheint mittlerweile zum festen Erwartungshorizont vieler Lesender zu gehören. Die Toten schickt den Schweizer Regisseur Emil Nägeli ins Berlin der Weimarer Republik und im Auftrag der Universum Film AG (UFA) nach Japan, um dort mit seiner Verlobten, der Schauspielerin Ida von Üxküll, und dem Kulturfunktionär Masahiko Amakasu einen Schauerfilm zu produzieren, der eine «zelluloidene Achse» zwischen Berlin und Tokio etablieren soll, um dem übermächtigen Hollywood-Kino etwas Wirkmächtiges entgegenzusetzen; denn Kino, so der Medienmogul Alfred Hugenberg im Roman, sei Krieg mit anderen Mitteln.
Die Kanonisierung von Christian Kracht, der als einer der umstrittensten sowie bedeutendsten Autoren deutschsprachiger Gegenwartsliteratur gilt, zeigt sich anhand von Die Toten in doppelter Hinsicht: Erstens wird die Anerkennung im Literaturbetrieb durch die Verleihung von Literaturpreisen offenkundig – für Die Toten wurde Kracht der Schweizer Buchpreis sowie der Hermann-Hesse-Literaturpreis verliehen – und zweitens findet die (Be-)Achtung der eigenen künstlerischen Tätigkeit in dem mit Kracht assoziierten Protagonisten, dem Regisseur Emil Nägeli, seine selbstironische Entsprechung: «Die Schweiz ist ihm nicht mehr ganz so fremd wie noch vor einem Jahr. Man hat ihn anscheinend vermißt, denn in der Zwischenzeit hat man sich seines Schaffens besonnen und ihm sowohl eine Gastprofessur in Bern angeboten als auch irgendeine Bronzemedaille im Welschland verliehen.»
Die Gemeinsamkeiten von Kracht und seiner Figur Emil Nägeli, der die Rohfassung seines Films so genannt hat wie Kracht seinen Roman, nämlich «Die Toten», finden ebenfalls in der filmischen Ästhetik des Romans und der Reflexion der eigenen Verfahren ihren Ausdruck; handelt es sich doch bei Kracht selbst um einen cineastisch versierten Schriftsteller, der sich im filmwissenschaftlichen Studium mit dem japanischen Film, speziell mit Werken von Yasujirō Ozu und Kenji Mizoguchi, auseinandergesetzt hat, die für die im Roman evozierte Filmwelt zentral und mit Ich wurde geboren, aber (1932) und Die Schwestern von Gion (1936) auch Teil dieser Filmreihe sind.
Die Reihe unternimmt den Versuch einer «filmischen Romanlektüre», indem einige der Filme gezeigt werden, die für den Roman sowohl thematisch als auch formalästhetisch relevant sind. Die ästhetischen Traditionslinien des Films der frühen 1930er Jahre – in denen Nägeli Gefühle des Erhabenen und Transzendentalen manifestiert sieht –, die Entwicklung des Kinos zum propagandistisch instrumentalisierbaren Massenmedium sowie die sich andeutende und durchsetzende medientechnische Evolution von Stumm- zu Ton- und Schwarz-Weiss- zu Farbfilm ziehen sich inhaltlich wie auch in der Bild- und Klangsprache durch den Roman. Auch die Verknüpfung von Film, Traum und Psychoanalyse, wie sie für das expressionistische Kino in Anlehnung an Sigmund Freuds Die Traumdeutung (1899/1900) als essenziell anzusehen ist, wird in Die Toten in fiebertraumartigen, filmisch anmutenden Sequenzen aufgenommen. In dem als kulissenhaft beschriebenen Japan werden die Gesetze von Zeit, Raum und Kausalität teilweise aufgehoben oder zumindest stark verunsichert – die Ebenen der geschilderten Bilderwelten sind zwischen Film, Traum und Halluzination nicht eindeutig zuzuordnen.
Nägelis künstlerisches Schaffen wird im Traum zur schauerhaften Selbstbeobachtung, in der er gleichsam vor als auch hinter der Kamera steht und die Grenzen zwischen Leben und Kunst, zwischen Subjekt, Objekt und Repräsentation fragwürdig werden. Auf diese Thematik wird über die zahlreichen Verweise auf Yukio Mishima, den wohl populärsten und umstrittensten japanischen Autor der Moderne, aufmerksam gemacht. Die Kindheits- und Jugenderinnerungen Masahiko Amakasus sind an Mishimas autobiografischer Erzählung Geständnis einer Maske (1949) angelehnt und Die Toten bezieht sich besonders intensiv auf Mishimas Kurzfilm Yūkoku (1966), dessen Drehbuch Mishima basierend auf seiner gleichnamigen Erzählung geschrieben, bei dessen Verfilmung er Regie geführt sowie die Hauptrolle gespielt hat. Mishimas Kurzfilm, der Einführungsfilm dieser Reihe, ist – wie vorgeblich auch Die Toten – strukturell am Nō-Theater orientiert und spielt auf einer Nō-Theaterbühne, wie auf einer zu Beginn des Stummfilms gezeigten Schriftrolle ausgewiesen wird. Im Roman wird Mishimas Yūkoku gespiegelt wiedergegeben: Die filmisch festgehaltenen Szenen des rituellen Selbstmords und des Geschlechtsverkehrs sind beides leicht verzerrte Sequenzen des Filmes, der in zwei Segmente aufgeteilt und in umgekehrter Reihenfolge angeordnet ist. Die minutiöse Schilderung der rituellen Selbsttötung folgt dabei nicht der statischen Kameraperspektive, die das Geschehen durch ein Loch in der Wand aufzeichnet, sondern die dynamische Schilderung ist in der Art filmischen Erzählens an Yūkoku orientiert. So imitieren die detaillierten Beschreibungen die Naheinstellungen des Films und die Schilderungen im Roman ergänzen den Stummfilm um Geräusche, wie das Stöhnen des Sterbenden, und die schwarz-weisse Darstellungsform um Farbe, wie die des kirschroten Blutes.
In der detaillierten und filmästhetisch inspirierten Beschreibung der rituellen Selbsttötung im ersten Kapitel des Romans wird ein für Krachts Schaffen typischer Provokationsgehalt deutlich, der im Ausloten von Sagbarkeits- und Darstellbarkeitsgrenzen spürbar wird, wenn sich ästhetische Faszination, Abscheu und Ekel überlagern. Die Frage der Verantwortung und Verantwortbarkeit medialer Gewaltdarstellungen wird im Roman von Amakasu aufgeworfen, der in Anklang an Walter Benjamins Überlegungen zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) in Bezug auf die filmische Dokumentation des Suizids die Überlegung anstellt, dass es gewisse Dinge gebe, die man nicht abbilden dürfe, da man sich durch deren Reproduktion und Vervielfältigung an der Gewalt mitschuldig mache und wendet sich so gegen den Autor, der die literarische Schilderung zu verantworten hat. Kracht hingegen richtet sich im Fernsehinterview für die Sendung Druckfrisch mit Denis Scheck lakonisch gegen diese moralische Positionierung seiner Figur und erklärt, dass die Verantwortung nicht bei den Kunstschaffenden, sondern ausschliesslich bei uns, den Lesenden oder Schauenden, anzusiedeln sei.
Christine Riniker
Die Autorin hat deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, Komparatistik und Theaterwissenschaft in Bern und Berlin studiert. Sie promoviert im Rahmen eines Nationalfondsprojekts zu Phänomenen der Störung in Christian Krachts Œuvre.
Christine Riniker führt am Donnerstag. 4.1. 18.30 in die Filmreihe ein. Anschliessend zeigen wir Yukoku von Yukio Mishima und Rüdiger Suchslands Dokumentarfilm Hitlers Hollywood.
«Die Toten» auf der Bühne
Konzert Theater Bern bringt den Roman von Christian Kracht auf die Bühne (Vidmar 1). Premiere ist am 12. Dezember. Den Spielplan finden Sie hier.
Das REX begleitet das Programm von Konzert Theater Bern in lockerer Folge mit Sondervorstellungen und Filmreihen. Zur Filmreihe «Die Toten» sind über Konzert Theater Bern Kombi-Tickets mit reduzierten Preisen für Theater- und Filmvorstellung erhältlich.