Die Heimatfabrik: 100 Jahre Praesens-Film
01. – 28.02.2024
Die Zürcher Produktionsfirma Praesens-Film spielte bei der Popularisierung des «Sonderfalls Schweiz», um den aktuell wieder heftig gestritten wird, eine entscheidende Rolle. Mit ganz unterschiedlichen Filmen wie Gilberte de Courgenay oder Die letzte Chance schufen weltoffene Schweizer:innen und Filmschaffende im Exil ab Mitte der 1930er-Jahre das Bild einer idealen Eidgenossenschaft. Dieses diente nicht nur im Kampf gegen Hitlers und Stalins Totalitarismus, sondern sollte der Welt auch den Weg in eine friedlichere Zukunft weisen.
Mit dem Ende des Kalten Kriegs 1989 schienen auch die Tage des «Sonderfalls Schweiz» gezählt. Man mottete nicht bloss die Reste der Geistigen Landesverteidigung ein; auch die eng mit ihr verflochtenen Spielfilme der Praesens-Film wurden in der Cinémathèque suisse endgelagert. In den auf 1989 folgenden identitären Richtungskämpfen aber zeigte sich, dass hier eine Vergangenheit lag, die nicht vergehen wollte. Bald nämlich mobilisierten Rechtskonservative nicht mehr bloss mit Albert Ankers Gemälden; auch Bilder und Mythen aus dem Praesens-Fundus hielt man gegen «Armeeabschaffer», «Heimatmüde» und «Euroturbos». Kaum jemand aber erinnerte sich noch daran, dass ausgerechnet kosmopolitische Schweizer:innen, Flüchtende und antifaschistische Exilant:innen einst an der Schaffung dieser Idealschweiz mitgewirkt hatten. Auch sie hatten ein «neues Europa» bekämpft. Das aber trug nicht das Gesicht eines EU-Bürokraten, sondern jenes von Hitler.
Die 1924 in Zürich gegründete Praesens-Film, die früh international mit Kommunisten wie Sergej Eisenstein oder Bertolt Brecht zusammengearbeitet hatte, zog sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in die Schweiz zurück. Hier fiel ihr mit der Produktion erster Dialekt-Spielfilme bald die Rolle des Lieferanten der von der Geistigen Landesverteidigung geforderten Bilder des «Sonderfalls Schweiz» zu. Damit wurde Praesens-Film zu einer nichtstaatlichen Propagandaabteilung, und zwar von jenen linken, liberalen und konservativen Demokrat:innen, die ihre ideologischen Differenzen temporär begraben hatten, um sich Hitlers Absicht, die Eidgenossenschaft mit Hilfe Nazi-freundlicher Schweizer:innen «Heim ins Reich» zu holen, entgegenzustellen. Dabei strebte, wie Historiker Jakob Tanner schreibt, die Linke «im Gegensatz zur Rechten, die die Verabsolutierung kollektiver Identitätskonzepte betrieb, einen innenpolitischen Ausgleich im Zeichen einer nicht völkischen, sondern politisch definierten ‹Volksgemeinschaft› an. Sie verteidigten den modernen Schweizer Bundesstaat und die demokratischen Werte, für die er stand.»
Die Nähe der Praesens-Film mit ihrer aus Emigrant:innen, Menschen jüdischen Glaubens und weltoffenen Schweizer:innen zusammengewürfelten Crew zur links-liberalen Ideal-Schweiz kann nicht erstaunen. Ohne die Ausdauer und Zähigkeit des Praesens-Gründers Lazar Wechsler aber hätte das Kino der Geistigen Landesverteidigung gegen den Widerstand des mit Nazi-Sympathisant:innen und Antisemit:innen durchsetzten Schweizer Staatsapparates kaum bestehen können. Einen Füsilier Wipf, mit dem Praesens bereits 1938 eine gültige Blaupause für das Kino der geistigen Landesverteidigung geliefert hatte, hätte es ohne den Schweizer Juden Wechsler nicht gegeben.
War in Wipf die Armee äusserst erfolgreich als Gemeinschaft wenig heroischer Bürgersoldaten präsentiert worden, wurden im nächsten Film – dem nach Glausers Roman entstandenen Wachtmeister Studer – die zivilen Institutionen beleuchtet. Nicht im kritischen Sinne von Aussenseiter Glauser, sondern mit einem Brissago-schmauchenden Heinrich Gretler, der als Vertreter der anständigen Schweiz für Ordnung in einer von Korruption zerfressenen ländlichen Gemeinde sorgt. Der linke Regisseur Lindtberg, der bei seinen Theaterinszenierungen wenig Zurückhaltung übte und deshalb als Emigrant stehts von Ausschaffung bedroht war, hielt sich im Falle seines Dialekt-Kinofilms bewusst zurück, liess den Studer dann gleichwohl die Unterschiede zwischen Nazi- und Schweizer-Art kommentieren: «Jemand hat einmal gesagt: Recht ist, was uns nützt. Nun – umgekehrt gehts auch: Nützen tut uns, was recht ist. Da gibts keine kleinen Fälle und keine grossen; nur Recht oder Unrecht.»
Als einer der wenigen Nicht-Praesens-Filme überzeugte 1942 der von Sigfrit Steiner inszenierte Steibruch, der sich mit der Zusammenführung eines Zuchthäuslers (Heinrich Gretler) mit der verleugneten Tochter (Maria Schell) und dem geistig behinderten Sohn (Max Haufler) gegen Nazi-Eugenik und Blut-und-Boden-Idiotie stellte. Dass der ein Jahr zuvor entstandene Landammann Stauffacher um den legendären Anführer bei Morgarten zum zwar staatstragenden, nicht aber zum mythenbefrachteten Weihespiel geriet, war dann wiederum Regisseur Lindtberg zu verdanken. Der hatte, um den Bezug zur damals akuten Bedrohung durch Nazideutschland herauszustellen, seinen Fokus bewusst nicht auf die Schlacht gelegt, sondern auf den schwierigen politischen Einigungsprozess der vom Mut verlassenen Eidgenossen.
Dass mit der Verteidigung eidgenössischer Freiheitsrechte in erster Linie die Rechte des Schweizer Mannes gemeint waren, stellte im selben Jahr Franz Schnyder in Gilberte de Courgenay klar. Dort empfahl der Berner den Eidgenossinnen, patriotische Keuschheit und politische Enthaltsamkeit als Dienst an der Heimat zu verstehen, so wie dies die mütterliche Trösterin demoralisierter Schweizer Soldaten, die welsche Wirtin Gilberte, beispielhaft vorlebte. Ähnlich verhielt es sich im Falle von Wilder Urlaub (1943), in dem Schnyder Ungleichheit und Klassengegensätze in der Armee zwar andeuten wollte – verzweifelter Schweizer Soldat versucht, nachdem er seinen tyrannischen Vorgesetzten vermeintlich totgeschlagen hat, zu desertieren –, die Geschichte letztlich aber zum Hohelied auf die Schweizer Armee hinbiegen musste.
Bis zu jenem Zeitpunkt dienten Praesens-Filme hauptsächlich fürs nationale Empowerment; mit Leopold Lindtbergs Marie-Louise (1943) aber begann Praesens-Film den «Sonderfall Schweiz» über die Grenzen hinauszutragen, damit sich die Welt ein Beispiel daran nehme. Mit der titelgebenden jungen Französin wurde dazu ein erstes Mal die später wiederkehrende Figur des Flüchtlingskinds ins Zentrum eines Filmes gerückt. Die Praesens-Modell-Schweiz wurde so zum ideellen Sehnsuchtsort all jener erhoben, die Krieg und Tyrannei zu entfliehen versuchen. Doch noch darf Marie-Louise, die im Erholungsurlaub an der ihm von der Schweiz entgegengebrachten Liebe beinahe zerbricht, von dieser Freiheit bloss kosten, denn nach Ablauf seiner Zeit muss es ins Kriegsland zurückkehren.
Der pervertierte eidgenössische Humanismus hiess «heiliger Egoismus», hiess auch: Rückweisung jüdischer Geflüchteter in den sicheren Tod. Solches musste Leopold Lindtberg auf Befehl der Militärzensur bei seinem Meisterwerk Die letzte Chance (1945) ausblenden. So ist das Land hinter den Bergen, das drei alliierte Kriegsgefangene zusammen mit einer jüdischen Flüchtlingsgruppe von Italien aus zu erreichen versuchen, einerseits ein neutraler Ort mit Internierungslagern nach Genfer Konvention, andererseits jenes Paradies, wo Geflüchtete ungeachtet ihrer Herkunft Asyl finden können. Noch bevor Lindtberg 1947 in Matto regiert seinen Kommissar Studer die Kontinuität des Wahnsinns über das Kriegsende hinaus demonstrieren liess, war es dem Praesens-Direktor Wechsler gelungen, mit Marie-Louise und Die letzte Chance international zu reüssieren. Die Filme erhielten Oscars sowie Cannes-Trophäen und halfen dabei, zwischen einer kompromittierten Eidgenossenschaft und den siegreichen Alliierten für gutes Wetter zu sorgen. Das Praesens-Bild der Ideal-Schweiz wirkte im Ausland so stark, dass Wechsler damit gar in Hollywood andocken konnte. Als erste Ko-Produktion entstand 1948 im zerstörten Nürnberg und in Zürcher Studios das Kriegswaisen-Drama The Search, welches vom Amerikaner Fred Zinnemann mit Montgomery Clift in der Hauptrolle inszeniert wurde.
Für ihren letzten weltweiten Grosserfolg kehrte Praesens-Film in die Heimat zurück und präsentierte 1952 mit Heidi ein weiteres unschuldiges Waisenkind in der Fremde mit Heimweh nach der Schweiz, das nicht nur Kinderherzen, sondern auch die Tourismus-Industrie glücklich machte. 1958 legte sich dann aber der Kalte Krieg wie ein grauer Schleier auch über die Praesens-Schweiz. Zunächst in der Dürrenmatt-Umsetzung Es geschah am hellichten Tag und fünf Jahre später dann in Franz Schnyders Der Sittlichkeitsverbrecher übernahmen Angst und Paranoia. Beide «Aufklärungsfilme» warnten vor Pädophilen (heisst: vor sexueller Perversion). Sie passten perfekt in eine Schweiz, die sich nicht nur von aussen, sondern auch von innen heraus bedroht fühlte, und nahmen nicht umsonst das spätere Lieblings-TV-Format der Réduit-Eidgenoss:nnen, «Aktenzeichen XY», vorweg.
Die beiden folgenden Präsens-Produktionen Eichmann und das Dritte Reich (1961) sowie Schneewittchen und die sieben Gaukler (1962) erzählten direkt und indirekt nicht bloss vom grossen Verdrängen in Nachkriegsdeutschland; auch die Schweiz vergass und schützte ihren Status als friedfertiger neutraler Musterstaat, indem das Verdrängen der Kollaboration während der Nazi-Zeit zur Staatsraison erklärt wurde. Ihre Präge- und Gestaltungskraft, ihren untrüglichen Sinn dafür, was das Schweizer Publikum gerade sehen wollte, hatte Praesens-Film zu diesem Zeitpunkt eingebüsst: Erwin Leisers Dokumentarfilm über den Organisator der Vernichtung der europäischen Juden kam zu früh; der 1962 produzierte Revue-Film Schneewittchen und die sieben Gaukler, in dem im Stile farbiger westdeutscher Wirtschaftswunder-Filmeskapaden die mörderische braune Vergangenheit unter harmlosen Hanswurstiaden begraben wurde, kam zu spät.
Dass das Schweiz-Ideal der Praesens-Film heute wieder – zwar unter veränderten Vorzeichen und in gewandelter Form – zum Thema wird, sollte nun nicht Schicksalshaftigkeit oder dem Wiederholungszwang in der Geschichte das Wort reden, aber eine Aussage des US-Schriftstellers William Faulkner in Erinnerung rufen: «Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.»
In seinem Buch zum 100. Geburtstag der Praesens-Film erzählt Benedikt Eppenberger die Geschichte der Zürcher Produktionsfirma. Wer waren ihre Gründer, ihre Stars, wie gelang es Praesens-Film, einerseits Dialekt-Filme für jene von Schweizer Kulturschaffenden seit jeher beklagte «Enge» zu fabrizieren, andererseits mit Hollywood anzubandeln, um Oscar-prämierte Schweizer Filme in die ganze Welt zu verkaufen?
Den Fokus legt Eppenberger auf Lazar Wechsler, den Gründer von Praesens-Film. Er war 1914 als Flüchtling in Zürich gestrandet, hier baute er die Produktionsgesellschaft auf, aus der die zentralen Akteure des alten Schweizer Films hervorgehen sollten. Nicht wenige dieser kreativen Geister waren jüdische Menschen, die sich aus Nazi-Deutschland in die Schweiz gerettet hatten – es waren ironischerweise also kosmopolitische Exilant:innen, die an der sogenannten Geistigen Landesverteidigung mitwirkten und einen Beitrag leisteten, der bis heute in aktuellen neutralitätspolitischen Debatten um den «Sonderfall Schweiz» nachhallt. Dies ist nur eines der vielen Beispiele, die zeigen, wie die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts in die Praesens-Filme eingeschrieben sind. Mit ihnen gibt das Buch einen unterhaltsamen Einblick in ein ganzes Jahrhundert sozialer, technischer, kultureller, wirtschaftlicher und politischer Umwälzungen.
Benedikt Eppenberger: Heidi, Hellebarden & Hollywood - Die Praesens-Film-Story. NZZ Libro 2023, CHF 49.00.