Die Unabhängigkeitsbewegungen der 60er- und 70er-Jahre schlugen sich auch im afrikanischen Filmschaffen nieder. Am Beispiel von 13 Filmen aus Westafrika, von Klassikern wie La noir de. . . bis zum Nollywood-Blockbuster King of Boys, folgen wir den Spuren der Dekolonisierung im Kino. Anlass für die Filmreihe ist die Einzelausstellung des gefeierten ghanaischen Künstlers El Anatsui im Kunstmuseum Bern.
Lukas Foerster
Linguere war einst ein Dorfmädchen unter vielen, dann ging sie hinaus in die weite Welt, um ihr Glück zu machen, geriet an irrsinnig viel Geld und kehrt nun zurück in ihre Heimat, um ihr Vermögen mit der alten, bedürftigen Heimat zu teilen. So zumindest stellen sich die Bewohner des Dorfes, in das Linguere zurückkehren wird, die Sache vor, zu Beginn von Djibrip Diop Mambétys Hyènes (1992), einer freien Adaption von Friedrich Dürrenmatts «Der Besuch der alten Dame». Wer die Vorlage kennt, weiss, dass die Sache ganz anders ausgehen wird. In Wirklichkeit will die senegalesische alte Dame sich rächen für ein Unrecht, das sie einst aus ihrem Heimatort vertrieben hatte.
Dürrenmatts vermutlich berühmtestes Werk erhält in Mambétys Verfilmung eine entscheidende neue Bedeutungsdimension: In den afrikanischen Kontext übersetzt, erscheint es nicht länger nur als eine universelle Parabel über Schuld und Gier, sondern erzählt davon, wie eine Gesellschaft im Prozess der Modernisierung buchstäblich über Leichen geht. Mambéty bedient sich dabei feinsinniger Ironie: Die traditionelle afrikanische Gesellschaftsordnung erweist sich als letztlich genauso korrupt wie der Raubtierkapitalismus, der am Ende über den Film hereinbricht.
Hyènes ist ein schönes Beispiel dafür, wie im subsaharisch-afrikanischen Kino Gesellschaft verhandelt wird: Einerseits ganz direkt und schonungslos, mit einem analytischen Gespür für den Zusammenhang von politischer und ökonomischer Macht, andererseits spielerisch, ironiebewusst – und mit einem Sinn für filmische Poesie: Bevor sie sich an ihren Rachefeldzug macht, unternimmt Mambétys alte Dame erst einmal einen Spaziergang mit ihrem ehemaligen Liebhaber, der Schuld hat an ihrem Unglück. Gemeinsam blicken die beiden melancholisch auf eine Welt, die bereits dem Untergang geweiht ist. Ähnliche Bilder finden sich zum Beispiel auch in Abderrahmane Sissakos Bamako (2006). Da geht es um nichts weniger als um einen fiktionalen Prozess, den die afrikanische Bevölkerung gegen die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds anstrengt; gleichzeitig aber erkundet die Kamera die Schönheit und entschleunigte Zeitlichkeit des afrikanischen Dorflebens.
Die Erkenntnis, dass Bilder etwas mit Machtverhältnissen zu tun haben, ist dem Kino der Länder Westafrikas, auf die sich die Auswahl der Retrospektive konzentriert, sozusagen in die Wiege gelegt worden. In den langen Jahrzehnten der Kolonialherrschaft existierte ein eigenständiges subsaharisch-afrikanisches Filmschaffen schlichtweg nicht. Während beispielsweise die Wurzeln der ägyptischen Filmindustrie bis in die Stummfilmzeit zurückreichen, wurden im Grossteil des Kontinents Filme über Afrika aussschliesslich von Nicht-Afrikanern gedreht. Selbst Filmschaffende mit einer progressiv-emanzipativen Agenda wie der französische Ethnograph Jean Rouch konnten sich dabei nie völlig freimachen von einem touristischen Blick. Erst die Befreiungskämpfe der 1960er legten den Grundstein für eine genuin westafrikanische kinematografische Tradition, die sich seither als äusserst erfindungsreich und vielschichtig erwiesen hat. Wobei allerdings gerade die Filmindustrie zeigt, wie sich koloniale Strukturen noch lange nach der formellen Unabhängigkeit reproduzieren können: Da in den meisten afrikanischen Ländern keine finanziellen und auch filmtechnischen Strukturen zum Aufbau einer Filmindustrie existierten, wurden lange Zeit grosse Teile der Produktion ins europäische Ausland ausgelagert – eine Praxis, die insbesondere von Ousmane Sembène, dem zentralen Regisseur des postkolonialen afrikanischen Kinos, wiederholt angeprangert wurde.
So verwundert es auch nicht, dass in einigen frühen Meisterwerken des westafrikanischen Kinos, wie etwas in Sembènes La noir de… und Med Hondos Soleil Ô, das Verhältnis Afrikas zu Europa und insbesondere zu Frankreich im Mittelpunkt steht. Zwei niederschmetternde Filme über Arbeitsmigration sind das, in denen es um Selbstermächtigung geht und um eine Invertierung des kolonialen Blicks – allerdings im Wissen darum, dass das gewaltige historisch gewachsene Machtgefälle nicht einfach verschwindet, nur weil jetzt plötzlich auch ein afrikanischer Filmemacher eine Kamera in den Händen hält. In Soleil Ô wird das ironisch auf den Punkt gebracht, wenn die Hauptfigur sich nach Frankreich aufmacht, «auf der Suche nach unseren gallischen Vorfahren» – so war ihm das in der Kolonialzeit im Schulunterricht beigebracht worden.
Von Anfang an allerdings blickt das afrikanische Kino genauso hellsichtig auf innerafrikanische Konfliktlinien. Viele Filme drehen sich um die Frage: Was sollen wir nun mit der neu gewonnenen Freiheit anfangen? Vor der Ankunft der Europäer war Afrika kein egalitäres Paradies, und gerade im vermeintlich Höchstpersönlichen und Privaten, im Familienleben und im Geschlechterverhältnis, finden sich besonders robuste Unterdrückungsmechanismen, die imstande sind, alle politischen Umbrüche zu überdauern. Mit poetischer Präzision führt das zum Beispiel Muna Moto von Jean-Pierre Dikongué Pipa vor, der erste Langfilm aus dem Kamerun, produziert 1975. Da geht es um eine junge Frau, die den Mann, den sie liebt, nicht heiraten kann, weil sie einem reicheren versprochen ist. Um diese erzwungene Ehe zu verhindern, beschliesst sie, das zu opfern, was für ihre Umgebung das Wertvollste an ihr ist: ihre Jungfräulichkeit.
Sexualität als Unterdrückungsinstrument, aber auch als ein Medium von Emanzipation – sozusagen eine postmoderne Variation auf dasselbe Thema – ist Jean-Pierre Bekolos Quartier Mozart (1992), eine bizarre urbane Komödie mit Anleihen bei Spike Lee und Jean-Luc Godard, in der eine allseits begehrte junge Frau die libidinösen Verhältnisse derart durcheinanderbringt, dass die Männer regelmässig in der eigenen Hose nachschauen müssen, ob denn noch alles am rechten Platz ist. Bekolo gehört zu einer jüngeren Generation afrikanischer Filmemacher, die den als didaktisch empfundenen Stil Sembènes ablehnen und nach neuen, dynamischeren Bildern für die Gegenwart der afrikanischen Gesellschaft suchen. Auch die Schauplätze verändern sich: Wo ältere Filmemacher wie Sembène oder auch die Dokumentaristin Safi Faye das Dorfleben ins Zentrum stellen, erkundet Bekolo lieber das Grossstadtleben. Besonders wild ist sein Les saignantes (2005): eine von hypnotischen Elektrobeats angetriebene feministische Science-Fiction-Fantasie, in der zwei mysteriöse Verführerinnen das Nachtleben einer futuristischen afrikanischen Metropole unsicher machen. Auch einer der meistdiskutierten afrikanischen Filme der letzten Jahre ist Teil dieser Erneuerungsbewegung: Mati Diops Atlantique (2019) – der erste Film einer schwarzen Regisseurin, der in Cannes für die Wettbewerbssektion ausgewählt wurde – kehrt zwar zunächst zurück zu den Ursprüngen des westafrikanischen Filmschaffens: Wieder brechen junge afrikanische Männer in Richtung Europa auf, um der Armut zu entkommen und ihr Glück zu machen; dann aber dreht Diop den Blick um wendet sich den Frauen zu, die in der Heimat zurückbleiben, und deren Wut über die diversen ungleichen Machtverhältnisse, mit denen sie tagtäglich konfrontiert werden, überraschende Ventile findet.
Lange Zeit wurde das afrikanische Kino von Filmschaffenden aus frankofonen Ländern wie dem Kamerun, dem Senegal oder Mali dominiert. Anders als Frankreich zeigte Grossbritannien kein Interesse daran, das Filmschaffen in seinen ehemaligen Kolonien zu fördern, weshalb in Ländern wie Nigeria und Kenia in den Siebziger- und Achtzigerjahren nur vereinzelt Filmproduktionen realisiert werden konnten. Eines der wenigen Pionierwerke, das dennoch, against all odds, realisiert werden konnte, wurde jüngst aufwändig restauriert: Adamu Halilus Shaihu Umar (1976) ist ein episches Historiendrama, das in sanft leuchtenden Farben ein Familienmelodrama vor dem Hintergrund des arabischen Sklavenhandels ausbreitet – und damit auf eine weitere oftmals verdrängte Tradition der innerafrikanischen Gewalt verweist. Dem soghaft hypnotischen Film geht es allerdings weniger darum, offene Rechnungen zu begleichen, als darum, einen Eindruck zu vermitteln von einer anderen, vormodernen Welt, deren Gesetze und Rhythmen uns völlig fremd erscheinen müssen.
Bei allen politischen und ökonomischen Problemen: Die bleiernen Jahrhunderte der Sklaverei hat Afrika längst hinter sich gelassen. Eines der besten Beispiele für die gegenwärtigen Dynamiken und Potenziale gerade auch der westafrikanischen Länder ist das nigerianische Kino, das zum Zeitpunkt von Halilus Klassiker noch kaum als ein solches existierte, sich aber inzwischen zu einer der lebendigsten und produktivsten Filmindustrien der Welt entwickelt hat. In gewisser Weise ist Nollywood das erste wirklich postkoloniale, weil komplett von europäischen und amerikanischen Produktions- und Rezeptionsstrukturen unabhängige afrikanische Kino.
Das neue populäre nigerianische Filmschaffen, das in den Neunzigerjahren mit auf Video gedrehten und distribuierten No-Budget-Produktionen seinen Anfang genommen hatte, hat sich seither mit erstaunlicher Geschwindigkeit weiterentwickelt, ist heute eine glamouröse Milliardenindustrie und drauf und dran, den Weltmarkt zu erobern. Kemi Adetibas King of Boys (2018) ist einer der spektakulärsten Nollywood-Blockbuster der letzten Jahre. Im Zentrum des hochemotionalen und geradezu unverschämt unterhaltsamen Gangsterepos steht Alhaja Eniola Salami, die Königin der Unterwelt von Lagos, die alleine durch die Kraft ihres eindrücklichen Minenspiels ihre Umgebung in Angst und Schrecken zu versetzen scheint – aber wenn es hart auf hart kommt, schreckt sie auch nicht davor zurück, selbst zum Hammer zu greifen. Rückblenden präsentieren eine Jugend in bitterer Armut, zwischen familiärer Gewalt und Prostitution. Nun allerdings möchte sie auf die legale Seite der Macht, in die Politik wechseln. Das kann nicht funktionieren: Gemäss dem berühmten Zitat aus The Godfather: Part III «Just as I thought I was out, they pull me back in» wird sie in einen schnell eskalierenden Bandenkrieg verwickelt.
Anders ausgedrückt: Genau wie in Mambetys Hyènes geht es um eine Frau, die von den Gespenstern der Vergangenheit heimgesucht wird und beim Versuch, ihnen zu entkommen, an den Grundfesten einer patriarchal organisierten Gesellschaft rüttelt. An der Oberfläche seiner Bilder, in der schamlosen Kommerzialität und der cleveren Aneignung von Erzählmustern amerikanischer und auch indischer Erfolgsfilme, könnte Nollywood kaum weiter entfernt sein vom aufklärerischen Gestus Sembènes und der sozialrevolutionären Wucht Med Hondos; in seinem Bewusstsein für die Mechanismen und Abgründe von – stets gleichzeitig politischer, ökonomischer und sexueller – Macht aber hat ein Film wie King of Boys Teil an einer lebendigen und sich immer wieder erneuernden Tradition des afrikanischen Kinos.
Lukas Foerster arbeitet als Filmjournalist und Medienwissenschaftler sowie für Programmkinos. Seine Texte sind unter anderem im «Filmbulletin», der taz und «cargo» erschienen, 2018–2019 war er Teil des Programmteams im Zürcher Kino Xenix. Als Teil des Kollektivs The Canine Condition organisierte er zwei Filmreihen zum postkolonialen Filmschaffen. Ausserdem ist er Mitherausgeber des Buchs «Spuren eines Dritten Kinos: Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinema» (Schüren 2013).
El Anatsui im Kunstmuseum Bern
Mit «El Anatsui: Triumphant Scale» zeigt das Kunstmuseum Bern bis 1. November 2020 eine gross angelegte Einzelausstellung des gefeierten ghanaischen Künstlers El Anatsui (*1944, Anyako, Ghana). Er ist wohl Afrikas prominentester Künstler der Gegenwart und bekannt für seine grossen Skulpturen aus rezyklierten Schraubverschlüssen aus Aluminium, welche wie prächtige Teppiche ganze Wände zieren. Es ist die bislang grösste Überblicksschau seines Werkes und zeigt alle Medien, in denen er in seiner fünfzigjährigen Karriere gearbeitet hat. Dies umfasst Skulpturen aus Holz und Keramik genauso wie Zeichnungen und innovative Drucktechniken.
El Anatsui ist ein bahnbrechender Bildhauer, Künstler und Lehrer einer ganzen Generation afrikanischer Künstler*innen und Kurator*innen. In Ghana aufgewachsen, als es noch britische Kolonie war, erlebte er die Befreiung aus der britischen Herrschaft und den anschliessenden Prozess der Dekolonialisierung intensiv mit. Als Künstler und neu berufener Kunstprofessor an der nigerianischen Universität von Nsukka suchte er nach Wegen, um sich von der europäisch geprägten Kunstausbildung zu befreien und eigene Wege zu finden. Dies umfasste das Verwenden von Alltagsmaterialien aus dem unmittelbaren Umfeld genauso wie die Auseinandersetzung mit westafrikanischen Sprachen, Schriften und dem reichen kulturellen Erbe. Die Ausstellung gibt Anlass, die vielfältigen Beziehungen zwischen der Schweiz und dem afrikanischen Kontinent zu reflektieren. Obwohl die Schweiz selbst nie Kolonien besass, unterhielt sie vielfältige Geschäftsbeziehungen mit ihnen und war u.a. ökonomisch mit beteiligt am Drama des transatlantischen Sklavenhandels. Gerade die monumentalen Aluminium-Gewebe El Anatsuis verweisen erneut auf das verhängnisvolle Dreieck zwischen Sklaven aus Afrika, Zuckerrohranbau auf Plantagen in der Neuen Welt und dem anschliessenden Schnapsbrennen in Europa. Dieser Schnaps, dessen Verpackung El Anatsui als fernes Echo der damaligen Zeit nutzt, wurde u.a. als Zahlungsmittel für Sklaven eingesetzt. In El Anatsuis Werken wird also millionenfaches Leid zu berückender Schönheit transzendiert und gleichzeitig symbolisch der Fragilität menschlicher Existenz bedacht.
Kathleen Bühler