Delphine Seyrig: Schauspielerin der Avantgarde
02. – 29.03.2023
Delphine Seyrig (1932–1990) prägte mit ihrem Charisma eine Vielzahl legendärer Werke – darunter Chantal Akermans Jeanne Dielman, der in der Jahrzehnt-Umfrage der britischen Filmzeitschrift «Sight & Sound» jüngst zum Besten Film aller Zeiten gekürt wurde. Im Nachgang der 68er-Bewegung wurde Seyrig zur Feministin und Videoaktivistin – und arbeitete vorwiegend mit Frauen, so etwa auch mit Marguerite Duras (India Song) und am Ende ihrer Karriere mit Ulrike Ottinger.
Doris Senn
Geheimnisvoll und schön – so präsentiert sich Delphine Seyrig in ihrem Filmdebüt L'année dernière à Marienbad (1961). Ihr dunkles Haar schmiegt sich an ihren Kopf, breite Brauen betonen ihre Augen. Alain Resnais akzentuierte in seinem Schwarzweissfilm ihre grazile Silhouette mit extravaganten Federkleidern. Das eigenwillige Timbre ihrer Stimme – wie alle Stimmen im Film nur aus dem Off zu hören – war ebenso Teil ihres Charmes wie ihr trockenes Lachen. Nicht von ungefähr war das Vorbild für die Figur der «Unbekannten», die Resnais gemeinsam mit Seyrig erschuf, Greta Garbo. Eigentlich war die Nouvelle Vague gerade dabei, mit Jean Seberg, Jeanne Moreau oder Anna Karina eine andere Art von Star zu schaffen: unbekümmert, légère, eigenwillig. Doch Resnais kreierte nicht nur eine artifiziellere Art der Nouvelle Vague, sondern aktualisierte mit seiner Protagonistin auch das Bild der Diva. Die 28-Jährige wurde über Nacht zum Star.
Das Drehbuch zum Film stammte von Alain Robbe-Grillet, einem Autor des Nouveau Roman. Diese Stilrichtung rückte die «écriture» als Gestaltungsmittel ins Zentrum und erachtete das Dekor als ebenso wichtig wie die Figuren. So bleibt vom Film nicht nur Seyrigs ikonenhafte Erscheinung in Erinnerung, sondern auch die schier endlosen Schlosskorridore, die glitzernden Lüster in den Salons und die barocken Gartenlandschaften. Resnais übertrug nach Hiroshima, mon amour (1959) erneut die literarische Avantgarde in den Film und beschwor in einer sich fortspinnenden Evozierung der Vergangenheit eine Amour fou zwischen Realität und Traum, zwischen «Vor einem Jahr» und «Jetzt». L'année dernière à Marienbad gewann 1961 in Venedig den Goldenen Löwen und wurde auch beim Publikum zum Ereignis – nicht zuletzt wegen Delphine Seyrig.
Delphine Seyrig stammte aus einer grossbürgerlichen Familie und wuchs in Beirut, Paris und New York auf. 1950 entschied sie sich für eine Schauspielkarriere und heiratete im selben Jahr, sie war 18-jährig, Jack Youngerman, der in Paris abstrakte Kunst studierte. Während Seyrig mit einem Theaterensemble durch Frankreich tingelte, richtete Youngerman schliesslich die Weichen für das Paar: Eine renommierte New Yorker Galerie lud ihn für eine Ausstellung ein. So übersiedelte die kleine Familie nach der Geburt ihres Sohns 1956 in die USA, und Delphine begann, das Actor's Studio zu besuchen. Doch im Gegensatz zu ihrem Mann wollte ihre Karriere nicht in Schwung kommen – bis Ende der 1950er Alain Resnais, der mit dem Pariser Künstlerkreis des Paars bekannt war, sie in New York besuchte. Es entstand das Filmprojekt Marienbad – und eine Liebesgeschichte. Seyrig trennte sich von Youngerman und zog mit ihrem Sohn zurück nach Paris.
Nach L'année dernière à Marienbad folgte, mit thematischen Anklängen an den Grosserfolg, Muriel, ou, Le temps d'un retour (1963), in dem Seyrig eine vom Alter gezeichnete Frau spielte, nicht zuletzt auf Anraten von Resnais, um Distanz zu ihrer prägenden Rolle zu schaffen. Mit ihrem Erfolg auf der Leinwand kam auch der Erfolg auf der Bühne – sie sollte dem Theater ihr Leben lang treu bleiben, während sie Engagements in Filmen namhafter Regisseure erhielt. So etwa im Psychodrama Accident (1967) von Joseph Losey, in François Truffauts Baisers volées (1968), in dem Jean-Pierre Léaud in Bewunderung für die Frau seines Chefs, Mme Tabard (Delphine Seyrig), ausrief: «Ce n'est pas une femme, c'est une apparition!», was zu einem Kultzitat wurde, um Delphine Seyrigs «Erscheinung» zu charakterisieren. Oder in Luis Buñuels Le charme discret de la bourgeoisie (1972), in der sie die Rolle der nonchalanten Madame Thévenot übernahm. Nach der Trennung von Resnais 1965 änderte sich nicht nur ihr Äusseres – blond gelockt, mit fein geschwungenen Augenbrauen –, sondern auch ihre Rollen, die sie nun vermehrt in frivol-bourgeoiser Attitüde zeigten.
Gleichzeitig entstand im Gefolge der Revolten des Mai 68 eine lautstarke Frauenbewegung, in der sich Delphine Seyrig engagierte: Sie marschierte bei den Demos mit, unterschrieb das 1971 von Simone de Beauvoir verfasste «Manifest der 343» – Frauen, die öffentlich deklarierten, abgetrieben zu haben, darunter Catherine Deneuve oder Jeanne Moreau. Sie intervenierte in Talkshows zum Thema und hielt den Männern ihre dominanten Verhaltensmuster vor. 1974 lernte sie von der Waadtländer Feministin Carole Roussopoulos den Umgang mit der Kamera und wurde zur Videoaktivistin – Delphine et Carole, Insoumuses (2019) erzählt diese Geschichte. In der Folge entstand u.a. Sois belle et tais-toi (1975/76 gedreht), in dem Seyrig rund 20 Schauspielerinnen zu ihren Erfahrungen im Filmbusiness befragte, darunter Jane Fonda und Shirley MacLaine, und damit den herrschenden Sexismus offenlegte. Ein #MeToo-Manifest avant la lettre.
Nicht zuletzt ihr feministisches Engagement brachte sie dazu, in Zukunft hauptsächlich mit Frauen zu drehen. Seyrig fand, dass Regisseurinnen «eine andere Sicht der Welt» und «das wirkliche Leben der Frauen» vermittelten, während Männer kaum zu zeigen vermochten, «was Frauen wirklich dachten oder insgeheim wünschten». Eine der ersten Filmemacherinnen, mit denen sie in der Folge arbeitete, war die Schriftstellerin Marguerite Duras, die sie bei einem früheren Dreh kennen gelernt hatte. India Song (1975) erzählt von der französischen Botschaftersfrau Anne-Marie Stretter im Indien der 30er-Jahre. Von allen verehrt und begehrt, lebt sie ein Leben der Müssigkeit und der Affären. Lange statische Einstellungen zeigen ein raffiniertes Spiel mit Spiegeln, welches das Übereinanderlegen von Vergangenheit und Gegenwart, von Traum und Realität, von Liebe und Tod in ein Trompe-l'œil übersetzt. Mit rotem Haar und im roten Samtkleid bewegt sich Delphine Seyrig scheinbar schwerelos durch die Szenerie. Auch wenn India Song an die enigmatische Frauenfigur in Marienbad anklingt, zeigte sich die Protagonistin in Duras' Film selbstbewusster – sowohl in ihren Liebesbeziehungen als auch in der Entscheidung, der drückenden Melancholie zu entfliehen und in den selbstbestimmten Tod zu gehen.
Ganz anders gelagert und doch mit viel Ähnlichkeiten: Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles (1975) von Chantal Akerman – soeben von der britischen Filmzeitschrift «Sight & Sound» in ihrem 10-Jahr-Ranking zum «Greatest Film of All Time» gekürt. In 201 Minuten, die einen unglaublichen Sog entwickeln, erzählt Jeanne Dielman vom Leben einer kleinbürgerlichen Hausfrau und verwitweten Mutter. Lange Einstellungen zeichnen ihren von monotonen Ritualen des Putzens, Kochens und Aufräumens geprägten Alltag. Inklusive der nachmittäglichen Besuche eines Freiers. Akermans Film verknüpft mit provokanter Geste die Fassade der Wohlanständigkeit mit Frivolität (samt einer drastischen Wende) und lässt den Film sowohl zu einem avantgardistischen Meisterwerk als auch zu einem politischen Manifest für die Frauenbefreiung werden.
Die 80er schliesslich waren geprägt von der Zusammenarbeit mit Ulrike Ottinger, der experimentellen deutschen Filmemacherin. Die Schauspielerin kennen gelernt hatte Ottinger auf dem ersten Frauenfilmfestival in Brüssel 1975, wo sie ihre frühen Kurzfilme zeigte, von denen Seyrig begeistert war. So kam es zu einer ersten Zusammenarbeit 1981 in Freak Orlando, in dem Seyrig gleich mehrere der bizarren Figuren spielte, gefolgt von ihrer Rolle als Medienzarin in Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (1983) und schliesslich als Grande Dame in Johanna d'Arc of Mongolia (1989). In dem fast dreistündigen Werk, einer Mischung aus Dok- und Spielfilm, führt Delphine Seyrig als Ethnologin auf einer mit viel Theatralität inszenierten Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn ein buntes Reisetrüppchen in Land und Kultur der Mongolei ein – eine ihrer schönsten Rollen in ihrer langen, wechselvollen Karriere. Es sollte gleichzeitig die letzte Reise und der letzte Film der grossen Schauspielerin sein, die 1990 in Paris verstarb. Eine Schauspielerin mit vielen Facetten – im realen Leben wie auf der Leinwand – und einer Filmografie, die zur aufregenden Entdeckungsreise durch 60 Jahre Film- und Zeitgeschichte lädt.