
Retrospektive David Lynch
28.08. – 01.10.2025
Willkommen in einer Welt, in der das Vertraute kippt und das Unheimliche lockt. Kein Filmemacher hat die Grenze zwischen Realität und (Alb-)Traum so konsequent verwischt wie er: Mit einer umfassenden Retrospektive ehrt das REX das Lebenswerk von David Lynch, der Anfang dieses Jahres verstorben ist.
Pamela Jahn
Der Schein trügt. Jedes Mal. Es sind die Bilder schlichter Unschuld, die im Kino von David Lynch am meisten verstören: rote Rosen, die sich sanft an weisse Vorstadtzäune schmiegen wie zu Beginn von Blue Velvet (1986). Oder die Autobahnkreuze, riesigen Parkplätze, Einkaufsmalls und Hotelzimmer in seinem verwegenen Americana-Märchen Wild at Heart (1990). Unvergessen auch die immer wiederkehrenden riesigen Billboards in Mulholland Drive (2001). Oder gleich der ganze Mittlere Westen, dem der Regisseur in The Straight Story (1999) mit seinem präzise beobachtenden Blick noch den letzten Hauch von Anmut und Charme abzugewinnen versteht.
Genau davon handeln Lynchs Filme: wie sich das Wesen der Dinge verändert, wenn man sie nur sorgfältig genug betrachtet. Er, der Meisterdetektiv des Kinos, sah auf diese Weise, lange vor allen anderen, was unsichtbar blieb, und enthüllte, was behutsam verborgen wurde. Vor allem erkannte der 1946 in Missoula im US-Bundesstaat Montana geborene, zunächst an der bildenden Kunst geschulte Regisseur, dass die Amerikaner:innen zwar von Sicherheit und Wohlstand träumten, aber auch vom Gegenteil: von Gefahr, Abenteuer, Sex und Tod. In seinem Werk kollidierten diese beiden Extreme und hinterliessen Risse im Asphalt auf dem verlorenen Highway zur Erlösung, zum Glück.
Es passt zu Lynch, der privat ein sanfter, freundlicher, ja seliger Mensch war. Die Schauspielerin Laura Harring aus Mulholland Drive nannte ihn einmal «ein liebevolles, charismatisches, lustiges Genie». Aber seine zärtliche, ungezwungene Art wurde durch seine Kunst stets rätselhaft und seltsam. In den seltensten Fällen enden Lynchs Geschichten in einem Happy End. Viele seiner Protagonist:innen bewegen sich bei dem Vorhaben, der Wahrheit oder dem eigenen Ich auf den Grund zu gehen, von einer vertrauten äusseren Realität in eine – buchstäblich – wahnsinnige Innenwelt voller Allegorien und Abstraktionen, in der die Menschen zwei Leben führen, sich ihre Identität verändert oder entfremdet, spaltet oder multipliziert.
Lynch stellte sich bis zu seinem überraschenden Tod am 16. Januar 2025 vielleicht mehr als jede:r andere Filmemacher:in seiner Generation vehement jeder Form von Lügen, falschen Behauptungen und Selbstbeteuerungen entgegen. Seine gewagten Visionen, in denen er ungeniert Melodrama und Pulp-Noir, Seifenoper und Erotik-Thriller mit übernatürlichem Horror mischte, ersticken jede Hoffnung auf eine strin-gente Erzählweise im Keim. Seine Stärke lag darin, in der Fantasie das Unbequeme, das Unerträgliche spürbar zu machen. Sein Metier war die Entlarvung der menschlichen Psyche in all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit.
Die Wahrheit liegt bei Lynch immer irgendwo im Dazwischen, wie in Eraserhead, seinem beeindruckenden Regiedebüt aus dem Jahr 1977, einem filmischen Nachtgespenst von einmaliger Intensität. Der Regisseur begann seine Karriere hinter der Kamera so, wie er es sich vorgestellt hatte: indem er seine tiefsten Ängste und Phobien mit äusserster Offenheit auf die Leinwand projizierte – in diesem Fall seine eigene Panik vor der Erfahrung, Vater zu werden. Im Film übernimmt Jack Nance mit schockgefrorener Turmfrisur die Rolle eines unglückseligen jungen Mannes namens Henry, der in einer eisernen Welt für sein stark deformiertes Kind sorgen muss. Lynch, der seinen Erstling in mühevoller Kleinarbeit über Jahre drehte und darin das Produkt seiner Kunststudentenjahre in Philadelphia sah, verband bereits hier die zwei Merkmale, die für sein Werk insgesamt massgeblich werden sollten: eine einzigartige Sensibilität für die Befindlichkeiten seiner Figuren sowie die klaustrophobische Atmosphäre, in die er sie unentwegt hineinkatapultiert – man denke nur an die mondgesichtige Dame, die in Henrys Heizkörper lebt.
Lynchs Kultklassiker wie Eraserhead, Blue Velvet oder Wild at Heart haben bis heute nichts von der undurchdringlichen Mystik eingebüsst, die ihnen der Künstler, Magier, Traumfänger einst eingeschrieben hat. Sich auf das Enigma David Lynch einzulassen, bleibt ein lohnenswertes Unterfangen, egal, aus welchem Grund man sich auf die Reise ins Ungewisse seines verqueren Universums begibt. Ob reine Neugier, cineastische Leidenschaft oder die Lust an der Versenkung. Jeder Ansatz bietet die Möglichkeit, in Lynchs finstere, surreale Welt einzutauchen. Dort, wo sich Zeichen und Wunder begegnen, gegenseitig abstossen und nahtlos ineinander übergehen, ohne dass sich der wahre Zauber hinter der Methode jemals in seiner ganzen antinarrativen Feinheit und bildsprachlichen Raffinesse zu erkennen gibt.
Doch wo anfangen, wenn man nicht von der grenzenlosen Einbildungskraft eines visionären Andersdenkenden von Lynchs Kaliber übermannt werden will? Vielleicht bei Twin Peaks, der Originalserie von 1990–91, dem Ort, an dem die Lynch’sche Empfindsamkeit unwiderruflich in den Zeitgeist eindrang. Auf den ersten Blick verbirgt sich hinter dem Titel eine Krimiserie um den Mord an Laura Palmer (Sheryl Lee) – jung, hübsch und vergewaltigt, deren in Plastik gewickelte Leiche in der ersten Folge aus dem Wasser gezogen wird. Als der FBI-Agent Dale Cooper (Kyle MacLachlan) nach Twin Peaks kommt, um den Fall aufzuklären, werden seine Ermittlungen überschattet von einem dichten Schleier aus Intrigen und Geheimnissen, Gewalt, Prostitution und Drogen sowie einer Gruppe merkwürdiger Figuren, die auf undurchsichtige Weise alle irgendwie miteinander in Verbindung stehen. Das Erstaunliche war jedoch nicht der Fall im Zentrum der Geschichte: Hinter dem TV-Thriller verbarg sich im Kern ein Rührstück, angereichert mit den für den Regisseur üblichen Popkultur-Referenzen aus den 1950er-Jahren, dadaistischen Sketchen und entsetzlicher sexueller Brutalität. Damit erweiterte Twin Peaks nicht nur die Parameter des seriellen Erzählens, sondern gab zugleich einen umfassenden Einblick in die schräge Weltanschauung des Regisseurs, in der die guten und bösen Mächte stets gleichermassen um die Seelen von Kleinstadt-Ballköniginnen und Polizisten kämpften. Das darauffolgende Prequel Twin Peaks: Fire Walk with Me (1992), obgleich unerbittlich düsterer, war seiner Zeit auf ähnlich radikale Weise voraus.
Im Gegensatz dazu sind es eher Lynchs konventionellere Filme, die ungewöhnlich, ja regelrecht verrückt erscheinen. Der mehrfach Oscar-nominierte The Elephant Man (1980) mit John Hurt als ausgebeutete viktorianische Jahrmarktsattraktion ist ein schönes Beispiel dafür. Daneben konnte sich Lynch auch für Science-Fiction-Szenarien wie Dune (1984) begeistern – und sogar einen so emotionalen und sanften Film wie The Straight Story (1999) drehen. Aber auch hier zeigt sich, wie geschickt Lynch stets zwischen dem Banalen und dem Absurden zu changieren verstand: wenn in der auf einer wahren Begebenheit basierenden Geschichte eines alten Mannes ein aufpolierter Rasenmäher reicht, um ein Gefühl von Freiheit zu erzeugen.
Es ist der Schock über den krassen Bruch mit allen herkömmlichen Erzählformen, der die Betrachter:innen beim Blick auf sein Gesamtwerk immer wieder aus dem Gleichgewicht bringt. Wie in Lost Highway (1997), jenem in sich verschlungenen Film-noir-Roadmovie, dessen Spur in die Aussenzonen der Obsessionen führt. Abneigung und Anerkennung halten sich bei Lynch stets die Waage. Das zeigen nicht zuletzt die stets gespaltenen Reaktionen auf sein knapp dreistündiges beklemmendes Mysterienspiel Inland Empire (2006), in dem Laura Derns zunehmend verwirrte Schauspielerin Nikki Grace in ein furchterregendes Labyrinth aus Wahnbildern, Ängsten und Bedrohungen gerät. Doch auf einen Titel können sich Kritiker:innen wie Bewunderer:innen seiner einzigartigen Dramaturgie und Ästhetik am Ende immer einigen: Mulholland Drive (2001), dieses wunderschöne, endlos wiederholbare Noir-Mosaik, das von der Liebe und vom Scheitern, der Illusion und Desillusionierung in der Stadt der (Alb-)Träume erzählt. Vielleicht ist kein anderer Film in der Geschichte des Kinos so bizarr, sinnlich und todtraurig zugleich.
Lynch wohnte selbst lange Zeit in Los Angeles, in einem Haus mit Holzwerkstatt, Malatelier und Musikstudio. «Ich ging 1970 ans American Film Institute und bin seitdem geblieben», sagte er einmal. «Ich mag die Stadt, den Smog, die Gangs und den Ärger. Gleichzeitig herrscht eine optimistische Stimmung, eine kreative Geschäftigkeit.» Dass seine Geschichte ausgerechnet an diesem Ort umgeben von den wild um sich greifenden Waldbränden enden sollte, ist im Hinblick auf sein Werk und seine Persönlichkeit ein seltsam treffendes Bild. Fire walk with me bedeutete für David Lynch stets mehr als eine hübsche Floskel, für ihn spiegelte sich darin ein Lebensgefühl.