Die Filme von Wim Wenders reisen – durch die Welt und durch die Zeit. Die restaurierten Werke wieder zu sehen, ist ein Erlebnis der besonderen Art: Auf einmal ist uns nah, was fern und verloren schien. Zu den Entdeckungen unserer 13 Filme umfassenden Retrospektive zählen Die Angst des Tormanns beim Elfmeter und Bis ans Ende der Welt, den wir in der Director’s-Cut Version zeigen.
Wenn die Kunst des Kinos darin besteht, Erzählungen in ikonische Bilder zu giessen, dann hat Wim Wenders gleich eine ganze Galerie davon auf seinem Konto: Bruno Ganz als trauriger Engel auf der Siegessäule unter dem Himmel über Berlin (1987), Nastassja Kinski in der sich spiegelnden Scheibe einer Peepshow in Paris, Texas (1984) oder Pina Bauschs Tänzer vor den monumentalen Industriedenkmälern des Reviers. Wer sich fragt, warum er der – neben Werner Herzog – international bekannteste deutsche Filmemacher ist, findet eine Antwort in diesen Bildern. Nur ein visuelles Kino «travels», wie die Hollywood-Produzenten sagen, es macht sich auf Reise und muss sich nicht vor Sprachbarrieren fürchten. Doch wenn man dann Wim Wenders’ Filme wiedersieht, insbesondere die der Siebziger- und Achtzigerjahre, dann staunt man viel mehr über die Bilder dazwischen. Sie zeigen Orte und Dinge, die für sich genommen nicht gerade ikonisch sind. Die Wiener Kneipentristesse von Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1972), die Autostrassen und Hinterhöfe des deutschen Ruhrgebiets in Alice in den Städten (1973). Oder die weiten Felder von Im Lauf der Zeit (1976), diesem epischen Roadmovie, für das Kameramann Robby Müller Fotografien von Robert Frank, Stephen Shore und Joel Meyerowitz studierte. Auch wenn Wim Wenders erst später als Fotokünstler reüssierte, interessierte er sich brennend für dieses Medium und führte das Interesse für ihre scheinbaren Unorte auf die grosse Kinoleinwand und in die Welt der Geschichten.
Im Lauf der Zeit, was für ein lakonischer Titel, und doch: Wie episch ist das, wonach er greift. Wer jetzt die neu restaurierten Kopien dieser klassischen Wenders-Filme sieht, kann sich des Eindrucks kaum erwehren: Je älter diese frühen Filme werden, desto kostbarer erscheint dieser Schatz eingefangener Zeit. Gerade weil Wenders so geduldig auf das vermeintlich Banale blickt, kann man sich in die Einstellungen vertiefen wie in den allerersten Filmen der Brüder Lumière.
Nicht von ungefähr nannte der am 14. August 1945 geborene Düsseldorfer seine erste Produktionsfirma «Road Movies». Schon seine frühen Filme erzählten vom Unterwegssein. Die Blüte des Strassenfilms der Sechziger- und Siebzigerjahre hatte Dennis Hoppers Easy Rider (1969) ausgelöst; mit diesem ebenfalls auch als Fotograf wirkenden Filmkünstler verband Wenders später eine enge kollegiale Freundschaft. Diese Filme kehrten dem alten früheren Kino buchstäblich den Rücken. Doch man musste nicht in die Ferne schweifen, um den Weg zum Ziel zu machen. Sein frühes Meisterwerk Alice in den Städten führt einen gestrandeten Journalisten und ein neunjähriges Mädchen quer durch Deutschland – und findet dabei die betörendsten Schauplätze in Wuppertal.
Als Regisseur war Wenders in den Siebzigerjahren einer der wenigen auf der Welt, die gefundene fotografische Räume bespielen und narrativ aufladen konnten, wie es Michelangelo Antonioni vorgemacht hatte. Und dabei dem Zuschauer jenen doppelten Dienst erwiesen, der heute so selten geworden ist im Kino, nämlich Geschichten und Bilder zugleich zu sehen.
Dass viele spätere Wenders-Spielfilme weit weniger gut gealtert sind, ist ein anderes Phänomen: Einerseits scheinen sie mehr um inhaltliche Mitteilsamkeit bemüht, anderseits vertrauen sie weniger auf eine einfache Bildsprache. Ausgerechnet Palermo Shooting (2008), das Künstlerdrama, das die Fotografie selbst zum Thema macht, ist dafür ein Beispiel. Nicht von ungefähr fehlt der Film in dieser Reihe. Von besonderer visueller Schönheit ist dagegen Don’t Come Knocking (2005) mit seinen an die Malerei Edward Hoppers erinnernden amerikanischen Kleinstadt-Szenerien.
Jede Wenders-Retrospektive erzählt auch von den technischen Entwicklungen des Mediums. Schon Der Stand der Dinge (1981) ist ein früher Abgesang auf den 35mm-Film. Gedreht in Schwarz-Weiss, fand sich kaum ein Labor in Hollywood, das sich noch auf diese Ästhetik verstand. Entstanden in einer Zeit, als sich die Filmindustrie gegen die Übermacht des Fernsehens mit weissen Haien und Weltraumopern wehrte, entdeckt man mit dem frühen Wenders die Langsamkeit. Seine Schwarz-Weiss-Filme Im Lauf der Zeit und Der Stand der Dinge verteidigten die Schönheit des schon damals vom Aussterben bedrohten Zelluloidfilms gegenüber dem beginnenden Videozeitalter. In seiner Dokumentation Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten (1989) über den japanischen Modeschöpfer Yoji Yamamoto dreht Wenders erstmals auf Video – und reflektiert zugleich die Möglichkeiten und Grenzen dieser Technologie.
Was hingegen stehende Bilder angeht, bleibt Wenders ein Verteidiger des Analogen, und das nicht nur in technischer Hinsicht – abgesehen von den Panoramaaufnahmen entstehen alle seine Bilder mit einer klassischen Mittelformatkamera, der 1975 entwickelten Plaubel Makina 67. Es ist die Analogie zur sichtbaren Wirklichkeit, der Wenders die Treue hält. Sein Beharren darauf hat etwas von jener mit Nachdruck vorgebrachten Unschuld seiner Engel von Der Himmel über Berlin: So behutsam, wie Bruno Ganz und Otto Sander in diesen Rollen dem rastlosen Menschengeschlecht ihre Hände auf die Schultern legten, nähert sich der Fotograf Wenders der Wirklichkeit und hält sie fest.
«Was mich an einer Fotografie interessiert», schrieb er einmal in einem Ausstellungskatalog, «ist einzig und allein, dass sie mir etwas zeigt, was es gibt, dass ich in ihr nicht mehr und nicht weniger sehe als: Das gibt es also.» Potenziellen Zweiflern vorauseilend, fügt er hinzu: «Kann ich das so stehen lassen, ‹ob es das gibt›? Sollte ich das nicht lieber in der Vergangenheitsform sagen, ‹ob es das gab›, wo ein Foto ja immer notwendig auf etwas hinweist, was es einmal gab und jetzt eben nur noch auf diesem Bild gibt.»
Wer die Düsseldorfer Wim Wenders Stiftung besucht, in der die Restaurierungen koordiniert wurden, findet sogar die Notizzettel in gewaltigen Filmbüchsen archiviert. Auch diese Silberdosen sind inzwischen überholt worden vom Lauf der Zeit, obsolet durch digitale Datenträger. Auch wenn die restaurierten Farbfilme nun wieder in frischen Farben strahlen und die schwarz-weissen hoffentlich ihr Filmkorn behalten haben: Ohne Wehmut kann man die digitalen Kopien nicht geniessen. Wenn Rüdiger Vogler als Filmvorführer in Im Lauf der Zeit erklärt, dass das Malteserkreuz eben doch kein Schnaps ist, sondern zentraler Bestandteil jeden Filmprojektors, aber aus der Vorführkabine kein Rattern mehr zu hören ist – dann hat sich das Kino für immer von seinen Wurzeln gelöst. Es hat sein Nest verlassen, es ist, um mit dem frühen Wenders zu sprechen, «zwanzigtausend Lichtjahre» weg von zu Hause. Mehr als die Werke jedes anderen Filmemachers erzählen Wenders’ vom Ende des alten und vom Beginn des neuen Kinozeitalters.
Daniel Kothenschulte
Der Autor ist Filmkritiker, Filmwissenschaftler, Dozent und Kurator und lebt in Köln.