Balthasar Kübler
Spontaneous Combustion, 22. – 28.08.2023
Der in Bern lebende Künstler Balthasar Kübler hat mit seinem Nokia 6131 eine Zugreise von Bern in die Factory Stores FoxTown bei Mendrisio und zurück aufgezeichnet. Wir zeigen sein 9-stündiges Opus magnum Spontaneous Combustion im August in drei Teilen.
Interview: B. Q. Blair aka Balthasar Kübler
B. Q. Blair: Spontaneous Combustion: Sieht man das? fängt der Film Feuer? irrlichtert es?
Balthasar Kübler: Nein, es gibt keinen Brand, den man sehen kann. Und doch –
Wovon handelt der Film?
Von einer Zugfahrt.
Ein Dokumentarfilm?
Ja, aber mit dem Unterschied, dass nicht mehr das Gefilmte, sondern der Film im Zentrum steht. Ich möchte, dass das, was ich gefilmt habe, als Film angeschaut wird, als Kunst und nicht als Dokument einer neunstündigen Zugreise von Bern durch den Gotthard-Tunnel nach Mendrisio und zurück.
Als Kunst?
Als Tableau. Was man mit der Zeit vergisst: Es wird immer durch das Zugfenster gefilmt. Das Fenster ist der Rahmen, der den Film begrenzt und ihn zu einem Bild macht, das fortwährend in Bewegung ist. Was zählt, ist die Spannung zwischen diesem Bild und der Vorstellung der vorbeiziehenden Welt. Diese Spannung ist spannend und darum ist Kunst spannend.
Läuft der Film deshalb kopfüber.
Ja, auch. Die Bilder sind durch unser Gedächtnis und unsere Erwartungshaltung definiert. Mit der Drehung um 180° können wir nicht mehr auf diese zurückgreifen und wir beginnen Schienen, Bäume, Brücken und Häuser so zu sehen, wie sie im Film vorkommen, und selbst das Wassenkirchlein sieht man wie zum ersten Mal. Dasselbe geschieht in Ausstellungen. Die Leute stehen vor einem Gemälde und erkennen prima vista nicht, was dargestellt ist. Sie treten näher, lesen «Femme avec artichaut, Peinture»und rufen: «Ach ja! Natürlich, jetzt sehe ich sie!» Genaugenommen haben sie aber lediglich das Bild einer Frau mit einer Artischocke erkannt, das sie in ihrer Vorstellung gespeichert haben. Noch schlimmer: Es ist dieses Bild, das ihnen die Sicht auf die «Peinture» von Picasso verstellt. Dann gehen sie selbstzufrieden weiter. Mein «Kopfüberfilm» zwingt das Publikum, dieses wiedererkennende Sehen aufzugeben. Aber ich möchte noch auf die Schönheit meines Films zu sprechen kommen.
Sagen Sie jetzt bitte nicht, dass Sie es mit der Schönheit aufnehmen wollen! mit Ihrem vorsintflutlichen Nokia, das, wenn der Zug nur schon 10 km/h beschleunigt, heillos überfordert ist! von einer Tunneldurchfahrt oder einem jähen Lichteinfall nicht zu sprechen!
Monsieur B. Q. Blair, ich warne Sie! Mein Nokia mit dem Sensor von 1.3MP produziert tausendmal schönere Bilder als die 200MP-Smartphones, die Sie im Auge haben!
Beweise!
Mein Nokia erhöht die Geschwindigkeit, es fördert die Unschärfe, meinem Nokia gefallen Pastelltöne, endlos grüne Bänder, Bänder mit verschiedenen Geschwindigkeiten, es verschleiert die zwei Stunden Nacht mit ihren ephemeren Lichtpunkten und malt poetische Tableaux von jeder Haltestelle. «C’est un mouvement magnifique qu’il faut avoir senti pour s’en rendre compte. La rapidité est inouïe. Les fleurs du bord du chemin ne sont plus des fleurs, ce sont des taches ou plutôt des raies rouges ou blanches ; plus de points, tout devient raie ; les blés sont de grandes chevelures jaunes, les luzernes sont de longues tresses vertes ; les villes, les clochers et les arbres dansent et se mêlent follement à l’horizon.»
Schön gesagt!
Von Victor Hugo, nach einer Zugreise von Antwerpen nach Brüssel im Jahr 1837. [con brio] Spontaneous Combustion ist ein künstlerischer Experimentalfilm. Die Filme jedoch, an die Sie denken, sind Edelkitsch, smart and handy.
Weshalb dauert der Film über neun Stunden?
Damit man in Trance fällt, aus dem Kino taumelt und beim Versuch, sich an das Geschaute und Gehörte zu erinnern, scheitert – scheitern muss. Es geht aber auch um die Zeit, die als Ereignis gesehen werden kann.
Und wenn der Zug stillsteht?
Auch da gibt es viel zu sehen: Jemand geht am Zugfenster vorbei, ein Baum im Wind, ein fahrendes Postauto, Schneeflocken, die flatternde Fahne. Und selbst, wenn sich nichts ereignet, weiss man, dass der Zug weiterfahren wird. Jede Haltestelle ist ein Tableau, verdichtete Zeit, kondensiert, voller Spannung. Steht der Zug still, entzündet sich die Phantasie. Aber Sie haben recht: Es passiert nicht viel in meinem Film, eigentlich passiert meistens gar nichts. Aber ist nicht gerade das aufregend?
Wenn nichts passiert, passiert nichts. Ich verstehe nicht, weshalb das aufregend sein soll.
Gertrude Stein schrieb im Dezember 1937 in «Everybody’s Autobiography»: «I was to meet Charlie Chaplin and we naturally talked about the cinema and I said the films would become like newspapers just a daily habit and not at all exciting or interesting, after all the business of an artist is to be really exciting and he is only exciting when nothing is happening, if anything happens then it is like any other one, Spontaneous Combustion Balthasar Kübler’s latest art film has really nothing happening except that he and Skipper V will sit in the train and film what is passing outside the window but it is not that that is interesting and I said I was sure that it is true that an interesting thing is when there nothing is happening.»
Weshalb haben Sie im Abspann «Musick» geschrieben?
Das «ck» soll darauf aufmerksam machen, dass es sich nicht mehr um Musik im herkömmlichen Sinn handelt.
[krächzt] Sondern um Bohrmaschinen, Kreissägen, Velopumpen und scheppernde Blechbüchsen?
Hahaha!
Und wie haben Sie diese «Musick» auf den Film abgestimmt?
Ich lege Wert darauf, dass Sie das genau so notieren [diktiert]: In Spontaneous Combustion ist die Musik nicht mehr Dienerin des Films. Zugrunde liegen eine Filmdatei ohne Ton und eine Musikdatei ohne Bild, die unabhängig vom Geschehen nebeneinander herlaufen.
Weshalb sind Sie gegen eine Abstimmung von Bild und Musik?
Im Dokumentarfilm The Garden of Celibidache beschreibt der Dirigent, wie ihn der Teich inspiriert und schon sieht man die Schwanenmutter und hört, wie ihre braune Kinderschar schnattert. Das ist langweilig und tötet die Phantasie. Bei meinem Film jedoch ist die Übereinstimmung zufällig.
Wenn alles dem Zufall überlassen wurde, weshalb hat es mehrere Jahre gedauert, bis der Film fertig war?
Auch beim Zufall ist nicht alles Zufall.
Und jener Teil, der sich im Outlet abspielt?
Schaufensterpuppen, Kleider, Kleider, Schuhe, Schmuck, Taschen, all die Megaschnäppchen und die Katze mit dem Slogan GET YOUR FREE MAXIBAG, die Inszenierung der Hektik, die kaufwütige Gesellschaft gepaart mit meiner Idee, diesen «tempio dell’eleganza e del lusso» in eine kinematographische Ästhetik umzusetzen – das war zeitraubend und kräftezehrend.
Letzte Frage: Was steckt hinter dem Film? Er muss doch eine Bedeutung haben?
«It is only the superficial qualities that last. The true mystery of the world is the visible, not the invisible.»
Das muss ich mir notieren. Von wem ist das Zitat?
Von Oscar Wilde, «The Picture of Dorian Gray», Chapter II, 1890. Die Bedeutung von Spontaneous Combustion liegt in dem, was gesehen wird.