Sie ist die grosse Reisende des Kinos. Die Filmemacherin, Fotografin, Künstlerin und Autorin Ulrike Ottinger wird im Juni 75. Mit Chamissos Schatten legt sie einen neuen epischen Film vor. Wir zeigen das 12-stündige Werk in vier Teilen und nehmen zudem Ottingers Berlin-Trilogie aus den 1980er-Jahren ins Programm.
Ulrike Ottinger wuchs in Konstanz am Bodensee auf, wo sie schon früh ihr eigenes Atelier eröffnete. Von 1962 bis 1968 lebte sie als freie Künstlerin in Paris und stellte dort unter anderem im Salon de la Jeune Peinture aus. Sie wurde im Atelier von Johnny Friedlaender in Radiertechniken ausgebildet und besuchte Vorlesungen an der Sorbonne über Kunstgeschichte, Religionswissenschaften und Ethnologie bei Claude Lévi-Strauss, Louis Althusser und Pierre Bourdieu. 1966 entstand ihr erstes Drehbuch mit dem Titel «Die mongolische Doppelschublade».
Nach ihrer Rückkehr in die Bundesrepublik gründete sie 1969 in Konstanz den filmclub visuell sowie die Galerie und Edition galeriepress, in der sie unter anderem Wolf Vostell und David Hockney präsentierte. 1973 zog sie nach Berlin und drehte die Happening-Dokumentation Berlinfieber – Wolf Vostell. Nach Die Betörung der Blauen Matrosen (1975) mit Valeska Gert (wir zeigten diesen Film im Dezember 2015 in unserem Matrosenprogramm) folgte der vom ZDF koproduzierte Piratinnenfilm Madame X (1977).
Ab 1979 entstand ihre Berlin-Trilogie Bildnis einer Trinkerin (1979), Freak Orlando (1981) und Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (1984), an der Delphine Seyrig, Magdalena Montezuma, Veruschka von Lehndorff, Eddie Constantine und Kurt Raab sowie der Komponist Peer Raben mitwirkten.
China. Die Künste – Der Alltag (1985) ist der erste in einer Reihe von langen Dokumentarfilmen, die auf ihren zahlreichen Reisen in asiatische Länder entstanden. In der Mongolei drehte sie 1989 den Spielfilm Johanna D'Arc of Mongolia und drei Jahre später den achtstündigen Dokumentarfilm Taiga. Nach dem Dokumentarfilm Exil Shanghai (1997) führten weitere Reisen sie nach Südosteuropa, wo wiederum ein Dokumentarfilm und ein Spielfilm entstanden: Südostpassage (2002) und Zwölf Stühle (2004).
Die Filme von Ulrike Ottinger erhielten zahlreiche Preise, sie wurden auf den wichtigsten internationalen Festivals gezeigt und vielfach in Retrospektiven gewürdigt, u.a. in der Pariser Cinémathèque française und im New Yorker Museum of Modern Art. Daneben arbeitete Ulrike Ottinger auch als Regisseurin für Theater und Oper und inszenierte unter anderem 2000 am Berliner Ensemble die Uraufführung von «Das Lebewohl» von Elfriede Jelinek.
Von Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn an widmete sich Ulrike Ottinger ebenfalls der Fotografie und setzt mit ihren Bildern, die meist parallel zu den Filmarbeiten entstehen, eigene visuelle Akzente. Mit ihren Arbeiten war sie an grossen Kunstausstellungen wie der Biennale di Venezia, der Documenta und der Berlin Biennale beteiligt. Einzelausstellungen fanden u.a. im Witte de With Center for Contemporary Art Rotterdam, dem Museo Nacional Reina Sofia in Madrid, den Kunstwerken Berlin, der Galerie David Zwirner in New York, dem Haus der Kulturen der Welt Berlin und der Sammlung Goetz München statt. 2005 erschien ihr Künstlerbuch «Bildarchive», das ausgewählte Fotografien von 1975 bis 2005 versammelt. 2011 erschien ihr Band «Floating Food», eine Collage aus Fotografien und Texten fiktiver und realer Welten. Für ihre künstlerische Arbeit erhielt Ulrike Ottinger 2011 den Hannah-Höch-Preis der Stadt Berlin
Bildmächtig
Es war 1997, also vor genau 20 Jahren, als ich zum ersten Mal einen Film von Ulrike Ottinger sah. Ich war 23, als Austauschstudentin in den USA und belegte einen Kurs zu «Queer Bodies». Wir besprachen Freak Orlando (1981), den zweiten Teil von Ottingers Berlin-Trilogie. Zu behaupten, ich sei damals «verstört» gewesen, wäre eine Untertreibung. Als barockes Welttheater in fünf Episoden erzählt Freak Orlando von Angst, Wahnsinn und Grausamkeit, indem skurrile Geschöpfe vor den realen Kulissen Berliner Brachlandschaften und Industrieruinen orchestriert werden; in einer Art Zeitreise verbindet sie vergangene Epochen durch konstante Metamorphosen mit der Gegenwart.
Vielleicht ist es symptomatisch, auf Reisen auf Ottingers Oeuvre zu gestossen zu sein, zumal sie selbst immer wieder auf Reisen und in Durchgangssituationen ihre Themen findet. Mich jedenfalls haben die opulenten Bilder, das Spielerische und die Darstellung der karnevalesken und stellenweisen auch grotesken Körper und Orte nachhaltig fasziniert. Alice Kuzniar bezeichnet die Figuren, die Ottinger kreiert, als «nicht lesbare, geschlechtsübergreifende Körper» – Körper, die sich jeglicher Zuordenbarkeit und Normativität entziehen. Und obwohl ihr Anliegen, konventionelle Rollenmodelle und Geschlechtergrenzen spielerisch – mal schrill, mal eher leise – zu durchbrechen dem Geiste der autonomen Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahren entsprang, liess sie sich ideologisch nie vereinnahmen.
Ulrike Ottinger übertritt und verwischt mit ihrer Kunst gerne Grenzen – seien es geographische Grenzen, Grenzen der (sexuellen) Eindeutigkeit oder manchmal auch die des guten Geschmacks. Sie selbst ist auch eine Grenzgängerin und Flaneurin, die von sich und ihren Filmen sagt: «Was sich bewegt, wer sich bewegt ist wie ein Dynamo und erzeugt neue Energie.»
Im Verlauf der Zeit ist die künstlerische Arbeit von Ulrike Ottinger immer ethnographischer geworden. Sie erzählt ihre Geschichten über Orte und die Orte werden dabei selbst zu Protagonisten - mit Chamissos Schatten hat Ottingers Montage von fiktionalen und dokumentarischen Elementen einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Ihre fotografischen und filmischen Bilder sind tableaux vivants, die auch das Publikum bewegen und sich effektvoll einprägen.
Michaela Schäuble
Die Autorin ist Assistenzprofessorin für Sozialanthropologie mit Schwerpunkt Medienanthropologie an der Universität Bern und Dokumentarfilmerin. Am Donnerstag, 2. März, 18.30 Uhr wird Michaela Schäuble im REX eine Einführung ins Schaffen von Ulrike Ottinger halten.