Alexander von Humboldt (1769–1859) ist eine ebenso faszinierende wie vielseitige Forscherpersönlichkeit, deren Aktualität heute wiederentdeckt wird. Er steht für das kreative Zusammendenken verschiedener Formen des Wissens. Anschaulich belegt dies die Ausstellung «Botanik in Bewegung. Humboldts Expeditionen» im Botanischen Garten in Bern mit Satelliten-Stationen im Naturhistorischen Museum, in der Zentralbibliothek und im Berner GenerationenHaus. Anlässlich der Ausstellung zeigt das Kino REX eine Retrospektive mit vier Spielfilmen.
In Bern entsteht die erste Ausgabe von Alexander von Humboldts Sämtlichen Schriften. Es handelt sich um rund 1000 Aufsätze, Artikel und Essays, die zu Humboldts Lebzeiten (geboren 1769, Publikationen 1789 bis 1859) in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern anderer Autoren oder Herausgeber veröffentlicht wurden: in mehr als einem Dutzend Sprachen, an über 250 Orten, auf allen Kontinenten. Diese Texte wurden nun systematisch gesammelt. Grösstenteils werden sie seit Humboldts Tod zum ersten Mal wieder gedruckt. Die «Berner Ausgabe» erscheint 2019 zu Humboldts 250. Geburtstag in elf Bänden im dtv.
Bereits in diesem Jahr macht die Ausstellung «Botanik in Bewegung. Humboldts Expeditionen» im Botanischen Garten in Bern eine besondere Leistung des vielseitigen Wissenschaftlers und Schriftstellers erfahrbar: Während seiner amerikanischen Forschungsreise ging er über die zeitgenössische Praxis, Pflanzen einzeln zu klassifizieren, hinaus. Indem er sie in ihrer Umwelt und in ihrer Verteilung studierte, entwickelte er in seiner Feldforschung eine avant la lettre ökologische Naturbetrachtung. Die wichtigsten Stationen von Humboldts Expeditionen können die Besucher an der Aare im Freien und im Tropenhaus ab dem 2. Juni 2018 nachvollziehen. Auch die Ausstellung selbst ist in Bern gleichsam «reisend» zu erkunden: Satelliten-Stationen werden im GenerationenHaus (zu den wichtigsten «Generationen» in der Geschichte der Pflanzenwissenschaft – von Albrecht von Haller über Carl von Linné bis zu Alexander von Humboldt und Charles Darwin), in der Zentralbibliothek (als Bücherschau illustrierter Erstausgaben) und im Naturhistorischen Museum (mit einem zoologischen Seitenblick auf Humboldts Affen) zu entdecken sein.
Anlässlich der Ausstellung zeigt das Kino REX eine Retrospektive mit vier Filmen. Denn Alexander von Humboldt begegnet uns in allen möglichen Bereichen der Kultur: als Name von Orten und Institutionen, auf Briefmarken und Geldscheinen, in der Werbung für Uhren oder Düngemittel und sogar auf einem Rap-Album («Humboldt Beginnings» von The Pharcyde) – sowie auch im Kino.
Die Besteigung des Chimborazo von Rainer Simon (1989) ist einer der letzten Filme der DDR. Er kam nur wenige Wochen vor dem Mauerfall in die Kinos. Als er am spanischen Hof ein Visum erbitten soll, ruft ein jugendlich-rebellischer Humboldt hier aus: «Warum muss ich einen König fragen, wohin ich reisen darf?» Sein Leiden in der preussischen Enge und seine Flucht nach Amerika sind vor dem Hintergrund der Diktatur zu verstehen. Diese politische Dimension ist jedoch nur eine von mehreren in diesem vieldeutigen Kunstwerk. Im Wechsel zwischen der Bergbesteigung und biografischen Rückblenden, die zum Teil in nostalgisches Sepia getönt sind, wird der alpinistische Rekord zu einer existenziellen Metapher. Der strapaziöse Anstieg steht für die Selbstüberwindung im Streben nach Höherem. Die Interaktion zwischen Humboldt (gespielt von Jan Josef Liefers) und indigenen Laiendarstellern spiegelt dabei seine Begegnung mit deren Vorfahren wie eine ethnografische Dokumentation. Und schliesslich ist die Besteigung des höchsten Berges der Neuen Welt auch ein Symbol der Befreiung. Humboldt und Bonpland unternehmen den Aufstieg zusammen mit Carlos Montúfar, der im Kampf für die Unabhängigkeit erschossen wird.
Humboldts Expedition durch das heutige Venezuela hat Luis Armando Roche in Aire libre (1996) aus französischer und lateinamerikanischer Sicht inszeniert. Zum Helden wird hier Aimé Bonpland (dargestellt von Roy Dupuis), während Humboldt (gespielt von Christian Vadim) eher unbeholfen wirkt. Die berühmte Reise wird keineswegs als Erschliessung einer terra incognita in Szene gesetzt, sondern als Begegnung zwischen europäischen Forschern und amerikanischen Intellektuellen, aus der die Revolution ihren Anfang nimmt. Der Abenteuerfilm ist bis ins Detail symbolisch. Das zeigt sich bereits, als Humboldt und Bonpland 1799 in Cumaná amerikanischen Boden betreten. Ein Lehrer, der seinen Unterricht «im Freien» durchführt und den Strand als Tafel benutzt, hat den Sand längst beschrieben, als die Europäer ihren Fuss auf ihn setzen, um die Temperatur der Erde zu messen, die sich nicht nur buchstäblich erhitzt. Der schwangeren Frau des Pädagogen, die unter Schmerzen gleichsam das neue Amerika zur Welt bringen wird, muss Bonpland durch Kaiserschnitt Geburtshilfe leisten – so wie Humboldt die Unabhängigkeitsrevolution inspiriert und dem «Befreier» Simón Bolívar, wie Gabriel García Márquez schrieb, «die Augen geöffnet» haben soll.
Daniel Kehlmanns Roman «Die Vermessung der Welt» (2005) handelt von Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauss. Die Geschichten des Naturforschers und des Mathematikers, des Weltreisenden und des Daheimbleibenden, die miteinander korrespondieren, werden in abwechselnden Kapiteln erzählt. Dabei geben beide keine gute Figur ab. Kehlmanns Roman folgt dem Genre der Gelehrtensatire, die sich über die Akademiker lustig macht. Die Verfilmung von Detlev Buck (2012) erreichte jedoch weder den Humor des Romans noch dessen Erfolg. Weder Humboldt (gespielt von Albrecht Schuch) noch Gauss (Florian David Fitz) wirken hier glaubwürdig. Die Figuren sind ohne Empathie inszeniert. Und sie sind nicht sonderlich komisch. Der Film erreicht auch nicht die intellektuelle Tiefe von Kehlmanns Roman, der zugleich ein Roman über Deutschland ist: über die Alternative von Offenheit und Abschottung, Besessenheit und Innerlichkeit. Aber er ist gleichwohl ein Phänomen: als Adaption eines Bestsellers, die dennoch im Kino ein Flop wurde.
Edgar Reitz erzählt die Sehnsucht nach der Ferne, die Humboldt in die Neue Welt führte, als eine Geschichte von unten bzw. vom Rand. Die andere Heimat (2013) spielt in den Jahren 1842 bis 1845, im sogenannten «Vormärz», in einem Dorf im Hunsrück. Aus politischer Unterdrückung und wirtschaftlicher Not beschliessen viele Deutsche, nach Amerika auszuwandern. Der Protagonist, Jakob, liest Reiseberichte und träumt von der Ferne. («Die Tropen? Ist das eine Krankheit?») Er lernt Indianersprachen und beginnt einen Briefwechsel mit Alexander von Humboldt, «Geheimrat in Berlin». («Auf den Wegen der Wissenschaft ist Freiheit.») Als der berühmte Reisende schliesslich in seinem Dorf auftaucht, auf dem Weg nach Paris und in Begleitung eines schwarzen Mitarbeiters, mit dessen Hilfe er die Landschaft vermisst, läuft Jakob schüchtern davon. Humboldt gesteht: «Ich bin sprachlos.» Aber er hinterlässt ein Schreiben. Alexander von Humboldt wird hier gespielt von Werner Herzog, dem Regisseur der Südamerika-Dramen Aguirre (1972) und Fitzcarraldo (1982), in denen Klaus Kinski die wahnsinnige Version des europäischen Kolonialisten gegeben hat – Humboldts Gegenbild.
Oliver Lubrich
Der Autor ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Bern. Er ist Projektleiter der vom SNF geförderten Edition von Alexander von Humboldts Sämtlichen Schriften und Initiator der Ausstellung «Botanik in Bewegung. Humboldts Expeditionen» im Botanischen Garten Bern.
Ausstellung «Botanik in Bewegung. Humboldts Expeditionen» ab 2. Juni im Botanischen Garten – BOGA, Altenbergrain 21.