Was passiert aktuell auf den Leinwänden des Balkan? Wir werfen Schlaglichter auf eine Region, die filmisch viel zu bieten hat. Mit künstlerisch markanten Werken von jungen und erfahrenen Filmschaffenden, die in ihren Heimatländern vom Publikum geliebt werden und auf Festivals für Aufsehen sorgen.
Was passiert aktuell auf den Leinwänden des Balkan? Wir werfen Schlaglichter auf eine Region, die filmisch viel zu bieten hat. Mit künstlerisch markanten Werken von jungen und erfahrenen Filmschaffenden, die in ihren Heimatländern vom Publikum geliebt werden und auf Festivals für Aufsehen sorgen.
Alexandra Obradovic
Die Reihe möchte den Balkan, genauer: die ex-jugoslawischen Länder, als filmischen Ort stärker in den Fokus und unser Bewusstsein rücken. Die Filme von Emir Kusturica in den 80er- und 90er-Jahren, Do You Remember Dolly Bell (1981) oder Underground (1995) zum Beispiel, sind einem breiten Publikum sicher noch präsent. Auch kleine Filmperlen wie die Komödie Parada (2011) aus Serbien, die vor einigen Jahren ein überraschender Arthouse-Erfolg wurde, oder die mazedonische Komödie God Exists, Her Name Is Petrunya (2019). Aber was passiert sonst noch in Kroatien, Serbien, Montenegro, Kosovo, Bosnien und Nordmazedonien auf den Leinwänden? Allenfalls am Rande, auf speziellen Länderfestivals, sieht man die Filme, die in ihren Heimatländern viele Menschen in die Kinos bringen. Mit Stars und Geschichten, die allgemeingültig sind und mit ihrer Strahlkraft auch über osteuropäische Grenzen hinaus wirken können und wollen.
Die ausgewählten Spiel- und Dokumentarfilme öffnen ein Fenster zum aktuellen Filmschaffen und präsentieren einen Querschnitt durch die Festivallandschaft. Es sind gleichermassen Debüts und Filme alter Hasen, mit innovativer Handschrift und Themen, die uns alle berühren. Es geht explizit nicht um den Ex-Bürgerkrieg in den 90er-Jahren, der das Land zerrissen und noch immer klaffende Wunden hinterlassen hat. Eine ganze Generation von Filmschaffenden hat sich an dem Thema dieses Krieges abgearbeitet und tut es weiterhin, siehe zuletzt Jasmila Zbanic mit Quo vadis Aida?, der mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet wurde. Dieses Thema wird nie auserzählt sein.
Die Reihe interessiert sich – stattdessen – für die Frage, welche weiteren Themen in den ex-jugoslawischen Ländern diskutiert und wie diese filmisch erzählt werden. Einen Schwerpunkt bildet dabei Migration, und zwar in doppelter Hinsicht, als Thema der Filme und als Ausdruck der jeweiligen filmischen Sprache, gespiegelt durch die Biografien der Filmschaffenden. Wo ist man zuhause? Wer ist man eigentlich? Was definiert die Herkunft eines Menschen? Wie und wo sucht man seine Wurzeln? Bleibt man, oder geht man? Kommt man in der Fremde bei sich selbst an, oder verliert man seine Wurzeln? Wollen Menschen tatsächlich immer gehen, oder wollen sie lieber bleiben?
Höchst originell erzählt dazu der serbisch-griechische Eröffnungsfilm Homelands – Domovine von Jelena Maksimovic die autobiografische Familiengeschichte der Protagonistin, die sich auf die Spuren ihrer Grossmutter nach Griechenland begibt. Als Partisanin floh sie im Bürgerkrieg im 2. Weltkrieg nach Griechenland. Ihre Enkelin folgt ihr in der Jetztzeit, um ihre eigenen Wurzeln zu entdecken. Aber wie findet man in der vermeintlichen Fremde sein eigenes Selbst? Die Heimat? Eine spannende Reise, mit grossartigen Bildern für Verlorenheit und Sprachlosigkeit und Stille, die Wörter ersetzt. Und mit Metaphern wie dem Baum, der für kommende Generationen gepflanzt wird und etwas hinterlassen soll, vor Ruinen, die einzig geblieben sind von dem Erbe der Familie. Am Ende weiss die junge Frau, dass ihre Grossmutter tiefe Spuren und ein Erbe in ihr hinterlassen hat – «Mein Ich sind alle Grossmütter».
Ein anrührendes Porträt und eine Hommage an die eigene Grossmutter Sonja ist auch der essayistische Dokumentarfilm Landscapes of Resistance - Pejzazi otpora von Marta Popivoda, eine serbisch-französische Koproduktion. Sonja war einst Partisanin, die ihr Leben dem Widerstand verschrieben hat. Die alte Frau, die Auschwitz überlebt hat, blickt mit einer faszinierenden und sehr kinematografischen Sprache im Film auf ihr Leben zurück, auf ihren Kampf als junge Kommunistin gegen den Faschismus, währenddessen ihre Enkelin Parallelen zu heute zieht, wo Nationalismus allerorts wieder erstarkt. Die Enkelin verlässt deswegen ihre Heimat Belgrad und verschliesst ihre Augen nicht vor politischen Zuständen, das Vorbild ihrer immer noch engagierten Grossmutter vor Augen, und sagt: «Wenn wir etwas von Sonja gelernt haben, ist es, dass wir keine Heldinnen sein müssen um Partisaninnen zu sein, aber wir müssen Partisaninnen sein.» Das Erbe der Grossmutter ist hier die Stimme des Widerstands, die sich neuen Raum und neue Körper sucht.
Die Bildsprache von Angela Schanelec' Kameramann Ivan Markovic und die Montage von Jelena Maksimovic, der Regisseurin von Homelands – Domovine, sind neben der charismatischen 90-jährigen Protagonistin weitere Sensationen in diesem Film. Er erzählt ohne Archivmaterial und evoziert über poetische Landschaftsansichten gekoppelt mit Sonjas Stimme. Es entsteht Erinnerung, die sich an Geschichte reibt, ohne diese zu verfälschen. Bild und Ton stehen gleichberechtigt nebeneinander, und diese Bilder mit Sonjas Voice-over wirken umso kraftvoller als jedes zeithistorische Material – mit Natur als Resonanzraum von Erinnerung.
In die innere Migration geht eine alte Dame in When Pigs Come – Kada dodju svinje von Biljana Tutorov, eine serbisch-kroatisch-bosnische Koproduktion. Tief frustriert über die politische Wirklichkeit im heutigen Serbien, stemmt sich die pensionierte Lehrerin mit aller Kraft gegen die Zustände. Doch sie begreift, dass es zu ihren Lebzeiten keine Änderungen mehr geben wird. Es bleibt ihr nur, sich eine bessere Zukunft für ihre Enkelkinder zu wünschen. Dazwischen geht sie demonstrieren oder macht einen Ausflug mit ihren Freundinnen auf dem Fahrrad nach Kroatien in die EU, um andere Luft zu schnuppern. Ein vielschichtiges Portrait einer engagierten Frau, die an ihrer Machtlosigkeit nicht verzweifelt.
Steelmill Cafe – Buffet zeljezara von Goran Devic erzählt anhand einer Bahnhofsgaststätte in Kroatien ein typisches Schicksal von Migration, ausgelöst durch den Niedergang der einheimischen Industrie. Ehemals eine florierende Stadt, gibt es nach der Schliessung des Stahlwerks keine Arbeit mehr, und die Menschen verlassen die Stadt. Sie strömen mit ihren Schicksalen durch das Bahnhofsrestaurant und schaffen durch reine Erzählung ein Porträt der Stadt. Dabei wird auch die Gaststätte zu einem Protagonisten. In statischen Tableaus gefilmt, wird sie eine Bühne, die gleichzeitig Raum für Erzählungen bietet und fürs Zuhören.
Spiegelt Architektur in Steelmill Cafe gesellschaftliche Zustände, schafft sie in Adnan Softics Bigger Than Life Architekturillusionen. Der bosnische Regisseur zeichnet das skurrile Porträt der mazedonischen Hauptstadt Skopje, die von der Regierung jüngst einer Radikalkur unterzogen wurde um als «Wiege der antiken Hochkultur» aufzuerstehen. Skopje wird zur Kulisse, aber die Menschen sind real, die sich in ihr bewegen. Nachkommende Generationen wachsen in ihr auf in dem Glauben, alles sei echt. Nationales Bewusstsein wird hier durch Architektur gefüttert. Finden wir Parallelen in den Geschichten anderer Länder hierzu? Der experimentelle Dokumentarfilm bedient sich ausgeklügelter Musik, die einen Dialog eingeht mit monumentalen Bauwerken.
Auch Speak so I Can See You – Govori da bih te video der serbischen Regisseurin Marija Stojnic (Koproduktion mit Kroatien) erkundet einen Ort, den es nicht mehr gibt, die alten Studios von Radio Belgrad. Das analoge Archiv wird ausgeräumt – Zeit, sich den Schätzen zu widmen, die dort jahrzehntelang lagerten, ebenso wie die analoge Studiotechnik. Angelegt auch als Tonexperiment, wird das Medium Radio im Film zum Labor für den Geist. Die Collage aus alten Tonaufnahmen mit Bildern und avantgardistischen Tönen von heute führt nostalgisch ein Medium vor, das so nicht mehr existiert.
Die «Neuen Handschriften vom Balkan» spiegeln auch den Blick von aussen auf die (ehemalige) Heimat und den fremden Einfluss auf die eigene Filmsprache. So zeigt die kosovarische Regisseurin Luana Bajrami in ihrem Kinodebüt The Hill Where Lionesses Roar, einer Koproduktion mit Frankreich, die Gegenwart dreier junger Frauen, denen die Gesellschaft keine Chance gibt. Sie warten vergebens auf den Studienplatz und die Chance, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. «Wir haben das Recht, zuhause glücklich zu sein», sagen sie – sie wollen bleiben und den Kosovo nicht verlassen. Ihre Umgebung ist gegen sie, aber die Mädchen sind sich selbst genug und ihre eigene Ersatzfamilie. Am Ende nehmen sie sich, was ihnen zusteht, auch wenn es nicht von langer Dauer ist. Mutig und explosiv betrachtet der Spielfilm wie unter einem Brennglas die heutige Lost Generation auf dem Balkan, die so viel könnte, wenn man ihr eine Chance gäbe. Luana Bajrami ist eine neue Regiestimme, bekannt wurde sie in der Rolle der Magd in Portrait de la jeune fille en feu von Celine Sciamma, die ihrerseits bei The Hill Where Lionesses Roar dramaturgisch beratend zur Seite stand. Der französische Einfluss ist klar zu erkennen, und man wünscht sich mehr von diesen aufregenden transnationalen Crossover-Erzählformen.
Hier findet sich auch Murina wieder, das Langfilmdebüt der jungen Regisseurin Antoneta Alamat Kusijanovic. Die slowenisch-kroatische Koproduktion, in Zusammenarbeit mit Brasilien und den USA, beobachtet den Teenager Julija, die von ihrem Vater unterdrückt wird. Das Wasser ist Julijas Rückzugsort vor der Erwachsenenwelt, vor allem vor ihrem repressiven Vater. Die Familie lebt auf einer Insel in der Adria, und der Katalysator für die Sezierung der Familienverhältnisse ist die Ankunft von Javier, einem Freund der Familie, der Julija das Blaue vom Himmel verspricht. Julija entlarvt schnell die Verlogenheit der Erwachsenen und konfrontiert diese damit in ihrer unverblümten Sprache, allen voran die Mutter, die ihre eigenen Wünsche stets untergeordnet hat und in einem falschen Leben geendet ist. Julija will ihre Mutter überreden zu gehen, aber die Mutter hat weniger Kraft als die Tochter, die am Ende einfach davonschwimmt. Der Coming-of-Age-Film ist eine starke Hommage an alle Teenager und wurde letztes Jahr in Cannes mit der Camera d'or als bester Erstingsflm prämiert.
Ein leiser Film ist die kosovarisch-mazedonische Koproduktion Looking for Venera. Regisseurin Norika Sefa fängt in fast dokumentarischer Manier ein, was die beiden jungen Protagonistinnen Venera und Dorina fühlen, gefangen in Familientraditionen, in bedrohlicher Männerdominanz und in einer gewissen Ausweglosigkeit. Die sehr dichte Kamera, Einstellungen mit oft diffusen Perspektiven, ein intimer Raschel-Sound und eine spürbare Sprachlosigkeit spiegeln dieses Gefühl der Enge genau wieder. Venera und Dorina nehmen sich – jede auf ihre Art – kleine Freiheiten, finden ihren Raum im Wald und im Steinbruch bei Konzerten, lassen sich auf Männer ein. Doch ihr Leben wird sich nicht gross ändern, sie können sich innerhalb der gegebenen Strukturen lediglich einrichten.
My Morning Laughter – Moj jutarnji smeh, das vielfach prämierte Debüt von Marko Djordjevic, ist ein besonderer Coming-of-Age-Film, denn sein Protagonist Dejan ist bereits Mitte 20. Im Stil des Cinéma vérité erzählt, mit einer rohen Kamera, in beigen Tönen gehalten und langen Einstellungen, begleitet der Filmemacher ihn durch seinen Alltag. Dejan wohnt noch zuhause und ist ein regelrechtes Muttersöhnchen, das schon mal in Wut gerät, wenn jemand anderes Muttis Pfannkuchen isst. Die Mutter lässt ihn nicht ausziehen und verhindert jede Selbstständigkeit ihres Sprösslings. Sie geht sogar gemeinsam mit ihm zu einem Psychologen, um Dejans Sexleben untersuchen zu lassen. Der Dialog zwischen Dejan und dem Therapeuten, gespielt von dem grossartigen, 2018 verstorbenen Nebojsa Glogovac (The Trap – Klopka) in seiner letzten Rolle, gehört zu den lustigsten Filmszenen der letzten Jahre. Die vermeintliche Idylle wird bald durch eine attraktive Kollegin an der Schule bedroht, die beschliesst, dass sich bei Dejan der Einsatz lohnt. Eine höchst ungewöhnlich gefilmte Sexszene kulminiert in den Worten: «Wir haben es geschafft», und Dejan ist buchstäblich befreit. My Morning Laughter gewann 2019 den Grand Prix des Belgrader Festival of Auteur Film.
Ein Wiedersehen mit grossen Stars der ex-jugoslawischen Kinematografie bietet auch die Satire Requiem for Mrs J. – Rekvijem za gospodju J. mit den grandes dames Mirjana Karjanovic und Mira Banjac. Der serbisch-bulgarisch-nordmazedonische Film nimmt die weiterhin existierende überbordende Bürokratie aus alten Zeiten aufs Korn. Mrs J. (Mirjana Karjanovic) beschliesst zu sterben, denn nach dem Tod ihres Mannes fühlt sie sich nicht mehr geliebt von der Familie. Sie sortiert noch ihr Leben – bestellt ihren Grabstein, besucht zum ersten Mal die Tochter am Arbeitsplatz, will ihre Papiere in Ordnung bringen. Schnell gerät sie ins Räderwerk der Bürokratie, selbst ein Besuch in ihrer alten Firma verschafft ihr keinen Nachweis, dass sie existiert, denn auf dem Papier fehlt ein Buchstabe im Namen. Ihre Tochter bezeichnet sie als «grosses Nichts», als sie die verfallene Arbeitsstätte ihrer Mutter sieht. Doch am Ende erwacht Frau J. aus ihrer Melancholie und beginnt wieder zu singen – wie früher. Das Duell mit ihrer Mutter (Mira Banjac) am Küchentisch gehört zu den bewegendsten Szenen dieser schwarzen Komödie, ein Genre, das nach wie vor eine Spezialität des Balkans ist.
Die Retrospektive verabschiedet sich mit grossem Kino, dem Drama Father – Otac von Srdan Golubovic (The Trap – Klopka), das 2020 an der Berlinale den Publikumspreis gewann. Die serbisch-kroatisch-bosnische Koproduktion mit Frankreich beruht auf wahren Begebenheiten. Einem Vater werden seine zwei Kinder vom Jugendamt mit fadenscheinigen Begründungen weggenommen und zu einer Pflegefamilie gegeben – der korrupte Leiter des Amtes verdient sich so ein Zubrot. Der Vater, gespielt von Goran Bogdan, der 2020 für den European Film Award nominiert wurde, macht sich zu Fuss auf den Weg nach Belgrad, um für Gerechtigkeit zu kämpfen. «Sie sollen wissen, dass es mir wichtig ist», sagt er in seinem Kampf gegen die Bürokratie, die ihn vor immer neue unüberwindbare Hürden stellt. Seine Vaterliebe aber lässt ihn über alle Grenzen wachsen in diesem beeindruckenden Roadmovie mit Landschaftsbildern, die seine Seele spiegeln.
Die Filmreihe wurde von Alexandra Obradovic kuratiert; Mitarbeit: Jeannette Wolf.
Alexandra Obradovic ist Filmwissenschaftlerin und war langjährige Autorin für das Filmlexikon «Cinegraph». Nach Stationen als Filmeinkäuferin und Drehbuchlektorin für ZDF/Arte und den NDR arbeitet sie nun als Produktionsleiterin für die Dokumentarfilmfirma a & o buero in Hamburg.
Jeannette Wolf leitet die REX Bar und war zuvor langjährig in Hamburg im Untertitelgeschäft tätig.
Am 25. März widmet sich auch REXtone dem Balkan: Mit «Kultur Shock»-Veranstalter und DJ Mario Peric